Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot bei Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne

Aktenzeichen  10 CE 20.369

Datum:
15.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9484
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2 S. 1, Abs. 2c
AsylG § 42 S. 1
BGB § 1896
VwGO § 123 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Eine Abschiebung hat auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Ausländerbehörde ist für die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nicht passivlegitimiert, sondern an die Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts im asylrechtlichen Verfahren über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG – sobald diese bestands- bzw. rechtskräftig ist – gebunden. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 E 20.69 2020-01-31 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 VwGO) zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen den Antragsteller Abstand zu nehmen und den weiteren Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland vorerst bis 19. Juni 2020 zu dulden.
Die vom Antragsteller in seiner Beschwerde dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof in seiner Prüfung beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen es nicht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern oder aufzuheben. Er hat weiterhin keinen zu sichernden Anspruch glaubhaft gemacht.
Beim Antragsteller wurde durch ein psychiatrisches Gutachten vom 19. Dezember 2019 eine geistige Behinderung (§ 1896 BGB) in Sinne einer leichten Intelligenzminderung (ICD-10 F 70) festgestellt. Durch das zuständige Amtsgericht wurde am 21. Dezember 2019 eine Betreuung für einige Aufgabenkreise angeordnet. Er ist durch eine vollziehbare Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Ausreise nach Griechenland verpflichtet.
Er trägt vor, die Abschiebung sei aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil dadurch eine konkrete Gefahr für Leib und Leben zu befürchten sei. Er leide an einer dauerhaften, krankhaften Störung der Geistestätigkeit und könne seinen Willen nicht frei bestimmen. Er sei insbesondere auch nicht in der Lage, die erforderlichen Maßnahmen für seine Gesundheitsfürsorge in die Wege zu leiten. Müsste er nach Griechenland ausreisen, sei davon auszugehen, dass er dort aufgrund seiner geistigen Defizite nicht in der Lage sei, im erforderlichen Maß für seine Gesundheit zu sorgen, so dass diese sich drastisch verschlechtern würde. Er habe dort keinerlei Unterstützung durch seine Betreuer, so dass ärztliche Behandlung und Medikamentenversorgung nicht gegeben seien, er könne in dieser Richtung nicht selbst initiativ werden. Auch wegen der nach wie vor bestehenden Dissonanzen zwischen Griechen und Türken könne er nicht erwarten, in Griechenland Hilfestellung zu erhalten. Er habe in Griechenland auch keinerlei Kontakte und würde dort ohne Wohnung und Arbeitsstelle, ohne Sozialleistungen und ohne Krankenversicherung auf der Straße leben und betteln müssen.
Dieser Vortrag kann die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Frage stellen; es hat zu Recht festgestellt, dass die Abschiebung nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich ist und insbesondere kein Duldungsgrund aufgrund einer Reiseunfähigkeit des Antragstellers gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 2c, Abs. 2d AufenthG vorliegt.
Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, so dass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes für den betroffenen Ausländer konkret droht. In Betracht kommen damit nur inlandsbezogene Abschiebungsverbote. Eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers kann ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in zwei Fällen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne) (stRspr des Senats, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 9.5.2017 – 10 CE 17.750 – juris Rn. 3, m.w.N.).
Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, so lange der Ausländer eine fehlende Reisefähigkeit nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht. Aus dem psychiatrischen Gutachten im Betreuungsverfahren vom 19. Dezember 2019 ergeben sich keine Anzeichen für eine solche Reiseunfähigkeit im engeren oder im weiteren Sinne; festgestellt werden vielmehr eine geminderte Intelligenz des Antragstellers und damit verbundene Beeinträchtigungen im alltäglichen Leben. Auch die Beschwerdebegründung behauptet keine von der Abschiebemaßnahme als solche verursachte Gesundheitsbeeinträchtigung. Im Übrigen hat die Ausländerbehörde auch eine begleitete Abschiebung mit einer Übergabe an die griechischen Behörden zugesichert.
Der Vortrag des Antragstellers im Beschwerdeverfahren bezieht sich vielmehr auf die Lebensbedingungen, auf die er nach seiner Meinung in Griechenland treffen würde und die er aufgrund seiner geistigen Defizite nicht bewältigen könne. Insofern behauptet er aber kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, sondern bezieht sich auf zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seiner Entscheidung vom 28. August 2019 gewürdigt worden sind; dieses hat Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint. Der Antragsteller hat daher seinen Vortrag zu den zu erwartenden Lebensbedingungen in Griechenland, aus denen sich nach seiner Meinung eine Gefahr für Leib und Leben für ihn ergibt, in dem gegen den Bescheid des Bundesamts gerichteten und noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Klageverfahren vorzubringen. Der Antragsgegner ist – worauf er zu Recht hinweist – für die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nicht passivlegitimiert, sondern gemäß § 42 Satz 1 AsylG an die Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts im asylrechtlichen Verfahren über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG – sobald diese bestands- bzw. rechtskräftig ist – gebunden (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 10.12.2019 – 10 C 19.2221, 10 CE 19.1227 – juris Rn. 5).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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