Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot bzgl. Afghanistan

Aktenzeichen  Au 5 K 17.30727

Datum:
17.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 16488
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Für einen mittellosen, nahezu 70 Jahre alten Mann, der zudem nicht auf familiäre Unterstützung durch vorhandene Angehörige zurückgreifen kann, ist es im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Afghanistan ausgeschlossen, dass er dort ein Existenzminimum sicherstellen kann, denn er hätte schon angesichts seines Alters auf dem durch Rückkehrer bzw. Binnenflüchtlinge umkämpften Arbeitsmarkt in Kabul keine Chance, einen der wenigen verbliebenen Arbeitsplätze zu erlangen.  (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Februar 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger ¾ und die Beklagte ¼. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der Entscheidung ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu Grunde zu legen, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG.
1. Soweit die Klage mit Schriftsatz vom 16. Juli 2018 teilweise zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nur mehr der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bis Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2. Soweit der Kläger seine Klage im Schriftsatz vom 16. Juli 2018 noch aufrechterhalten hat, ist sie zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 9. Februar 2017 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Nrn. 4 bis 6 insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, als dieser einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14/10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 f.).
a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Die im Fall des Klägers zu erwartenden schlechten allgemeinen Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 30285/14 – InfAuslR 2015, 212 = juris Rn. 17 ff.).
b) Gemessen hieran liegen diese besonders strengen Voraussetzungen vor. Der Kläger würde im Falle einer Rückkehr bzw. Abschiebung nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht mehr gesichert wären. Damit ist von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen (VG München, U.v. 22.9.2016 – M 24 K 16.31812 – juris).
Ob die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, ist eine Frage der konkreten Umstände, in denen sich der Asylbewerber befindet. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass es sich beim Kläger um einen zwischenzeitlich 68-jährigen, alleinstehenden Mann handelt, der überdies seit dem Jahr 2010 nicht mehr in seinem Heimatland Afghanistan gelebt hat. Nach dem glaubhaften Vorbringen des Klägers verfügt dieser in Afghanistan über keinerlei Familienangehörige mehr. Auch Grundbesitz ist nicht mehr vorhanden. Dies erscheint auch insofern nachvollziehbar, als die Ehefrau und die drei Kinder des Klägers bei einem Selbstmordattentat im Jahr 2008 ums Leben gekommen sind und der Kläger sich im Jahr 2010 dazu entschlossen hat, Afghanistan dauerhaft zu verlassen. Weiter hat der Kläger glaubhaft versichert, dass er seine sämtlichen Ersparnisse für die Ausreise aus dem Iran aufgewendet hat. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre der Kläger daher völlig mittellos. In seinem fortgeschrittenen Alter und ohne entsprechende familiäre Unterstützung durch vorhandene Angehörige ist es bei einer unterstellten Rückkehr des Klägers nach Kabul ausgeschlossen, dass dieser sein Existenzminimum sicherstellen kann. Angesichts der Tatsache, dass viele Flüchtlinge bzw. Binnenflüchtlinge nach Kabul zurückdrängen, ist es weiter nahezu ausgeschlossen, dass sich der Kläger im Kampf um die wenigen verbliebenen Arbeitsplätze durchsetzen kann. Dies allein bereits auf Grund seines Alters. Hinzu kommen, im Verfahren ausreichend nachgewiesen, mehrfache Erkrankungen des Klägers. Auf die im Verfahren vorgelegten ärztlichen Befundberichte darf verwiesen werden. Weiter erschwerend kommt für den Kläger hinzu, dass dieser Volkszugehöriger der Hazara ist. Dies dürfte eine Reintegration in die afghanische Gesellschaft, in der der Kläger seit dem Jahr 2010 dauerhaft nicht mehr gelebt hat, nochmals erschweren.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich wegen der individuellen Situation des Klägers nach der Überzeugung des Gerichts vorliegend eine existenzielle Gefahr bei einer Abschiebung nach Afghanistan bzw. nach Kabul. Der Kläger wird voraussichtlich nicht in der Lage sein, sich bei einer Abschiebung nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen und deshalb in eine existentielle Notlage geraten.
4. Nachdem beim Kläger ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, waren auch die Abschiebungsandrohung (Ziffer 5. des Bescheids) und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG (Ziffer 6. des Bescheids) aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, wobei das Gericht zugrunde gelegt hat, dass die erklärte Klagerücknahme des Klägers 3/4 des ursprünglichen Streitgegenstandes betrifft, während der Kläger hinsichtlich der weiter aufrechterhaltenen Klage vollständig obsiegt.


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