Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot für ältere, alleinstehende afghanische Staatsangehörige

Aktenzeichen  Au 5 K 17.31862

Datum:
13.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5 S. 1, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Es ist davon auszugehen, dass eine nach mehrjähriger Abwesenheit nach Afghanistan zurückkehrende ältere, gesundheitlich beeinträchtigte und allein stehende Analphabetin ohne familiären Rückhalt Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 27 – 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17. März 2017 verpflichtet, festzustellen, dass für die Klägerin ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
III. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerin ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der Entscheidung ist dabei Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugrunde zu legen, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG.
1. Soweit die Klage mit Schriftsatz vom 7. September 2017 zurückgenommen wurde und das Klagebegehren entsprechend beschränkt wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nur mehr der Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2. Soweit die Klägerin ihre Klage im Schriftsatz vom 7. September 2017 noch aufrechterhalten hat, ist sie zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 17. März 2017 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Nrn. 4 bis 6 insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, als diese einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II S. 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Reichweite der Schutznormen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist in Einzelfällen denkbar (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5 m.w.N.). Humanitäre Verhältnisse im Zielstaat verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Dieses Kriterium ist erfüllt, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen sind oder auf fehlende staatliche Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen kann – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führen – eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, angemessen zu befriedigen. Weiter ist darauf abzustellen, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist bzw. mit hinreichend sicherer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers Art. 3 EMRK. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus. Nur dann ist ein außergewöhnlicher Fall anzunehmen, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. B.v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 6) kann sich eine extreme Gefahrenlage in Kabul als regelmäßigem Zielort einer Abschiebung für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie Minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben.
Ein entsprechend hohes Gefährdungsniveau liegt bei der Klägerin unter Berücksichtigung der nachstehenden Ausführungen vor, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müsste. Aufgrund der Gesamtumstände ist davon auszugehen, dass die Klägerin als Rückkehrerin tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
Eine solche Gefahr ist vorliegend im Fall der Klägerin insbesondere deshalb naheliegend, da diese auch nach der fachärztlichen Aussage vom 30. August 2017, die im Verfahren vorgelegt wurde, es sich bei der Klägerin um eine alte, gesundheitlich angeschlagene Frau handelt. Nach dem ärztlichen Bericht vom 30. August 2017 ist die Klägerin im Gesicht und Körper erheblich vorgealtert und wirke erschreckend greisenhaft. Angesichts der deutlich geringeren Lebenserwartung in Afghanistan handelt es sich bei der Klägerin in einem Alter von 60 Jahren bereits um eine betagte Frau. Angesichts der in der fachärztlichen Aussage vom 30. August 2017 geschilderten Situation dürfte eine erneute Erwerbsfähigkeit für die Klägerin nahezu ausgeschlossen sein. Hinzu kommt, dass sich die Klägerin bereits seit längerem nicht mehr in Afghanistan aufgehalten hat und dort auch nach ihrem eigenen Vorbringen über keine Familienangehörigen mehr verfügt. Überdies ist die Klägerin Analphabetin.
Erschwerend kommt für die Klägerin hinzu, dass entgegen der Annahme des Bundesamtes im Bescheid vom 17. März 2017 die Klägerin auch nicht bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf die finanzielle und sonstige Unterstützung durch ihren Sohn hoffen kann. Das Bundesamt hat insoweit in der angegriffenen Entscheidung darauf abgestellt, dass ein Überleben der Klägerin in Afghanistan durch eine erneute berufliche Tätigkeit ihres Sohnes sichergestellt werden könne. Nachdem jedoch zu Gunsten des Sohnes der Klägerin zwischenzeitlich gerichtlich (Az. Au 6 K 17.31097) ein Abschiebungsverbot festgestellt wurde, muss im hierzu entscheidenden Verfahren davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als verwitwete, alleinstehende Frau nach Afghanistan zurückkehren müsste. Die Klägerin wäre bei einer unterstellten Rückkehr nach Afghanistan bzw. insbesondere nach Kabul mehr oder minder auf sich allein gestellt. Zu Gunsten der Klägerin ist insoweit eine ausweglose Lage anzunehmen. Sie gehört zu einer besonders gefährdeten sozialen Gruppe. Alleinstehende Frauen werden von der afghanischen Gesellschaft nicht akzeptiert und, wenn sie nicht wieder in ihrer Herkunftsfamilie aufgenommen werden – was vorliegend aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 16. Januar 2017 in naher Zukunft ausgeschlossen ist –, haben sie kaum einen Ort, wohin sie gehen können. Es ist in Afghanistan schlicht unmöglich, als alleinstehende Frau eine Wohnung zu mieten oder sich mit Arbeit durchzuschlagen. Alleinstehende Frauen können nur schwer überleben und für sich und ihre eventuellen Kinder sorgen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, die aktuelle Sicherheitslage, 13.9.2015 S. 15; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: alleinstehende Frau mit Kindern, 15.12.2011, Antwort auf Frage 2, S. 3; VG München, U.v. 22.9.2016 – M 24 K 16.31812 – juris Rn. 26; VG München, U.v. 24.5.2017 – M 17 K 16.35699 – juris Rn. 16). Bei der Klägerin kommt zu dieser allgemeinen Situation der Rückkehr alleinstehender Frauen hinzu, dass sie Afghanistan bereits vor acht Jahren verlassen hat und die letzten fünf Jahre ausschließlich im Iran gelebt hat. Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit zu befürchten, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihr nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher zu Gunsten der Klägerin vor. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 17. März 2017 war daher in Nr. 4 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, zu Gunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.
Wegen des einheitlichen und unteilbaren Streitgegenstandes der nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG war über ein weitergehendes Abschiebungsverbot für die Klägerin auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
3. Aufgrund dessen waren auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG (Nr. 6 des Bescheids) aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).


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