Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot in den Iran wegen Diabeteserkrankung

Aktenzeichen  M 2 K 16.30829

Datum:
11.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 4
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Wurde bei einem Flüchtling, der seit mehr als 10 Jahren an insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt ist, noch keine stabile diabetische Stoffwechsellage erreicht, besteht in Bezug auf die Behandlungsmöglichkeiten im Iran ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2016 wird in den Ziffern 5. und 6. insgesamt und in Ziffer 4. insoweit aufgehoben, als das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint wurde.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iran vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Von den Kosten des Verfahrens hat der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3 zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet

Gründe

Über die Klage konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 2. August 2016 entschieden werden, obwohl seitens der ordnungsgemäß geladenen Beklagten kein Vertreter erschienen war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist nur zum Teil erfolgreich.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, die Beklagte zu verpflichten, ihm unter Aufhebung der jeweils entgegenstehenden Ziffern des angegriffenen Bescheids die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) oder subsidiärer Schutz (§ 4 AsylG) zuzuerkennen oder zu seinen Gunsten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iran vorliegen, da der Einzelrichter von der vom Kläger geltend gemachten Gefährdung im Falle seiner Rückkehr nicht überzeugt ist (nachfolgend 2.). Aufgrund des aktuellen Gesundheitszustands des Klägers hat dieser jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch darauf, dass unter Aufhebung der insoweit entgegenstehenden Feststellung in Ziffer 4. des streitgegenständlichen Bescheids zu seinen Gunsten festgestellt wird, dass die Voraussetzungen eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iran vorliegen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO (nachfolgend 3.). In der Konsequenz daraus sind die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5. und die Befristungsentscheidung in Ziffer 6. des angegriffenen Bescheids rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (nachfolgend 4.).
1. Zur Begründung im Einzelnen wird zunächst hinsichtlich des rechtlichen Rahmens und Prüfungsmaßstabs bezüglich der §§ 3 ff., 4 AsylG sowie des § 60 Abs. 5 AufenthG auf die zutreffende Darstellung in dem angegriffenen Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
2. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, die Beklagte zu verpflichten, ihm unter Aufhebung der jeweils entgegenstehenden Ziffern des angegriffenen Bescheids die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) oder subsidiärer Schutz (§ 4 AsylG) zuzuerkennen oder zu seinen Gunsten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iran vorliegen.
Bei einer Gesamtschau des Akteninhalts, der Aussagen des Klägers vor dem BAMF und insbesondere der Darstellung des Klägers in der ausführlichen Befragung vor Gericht ist der Einzelrichter nicht davon überzeugt, dass dieser – wie von ihm behauptet – im Falle seiner Rückkehr in den Iran Konsequenzen wegen einer (beendeten) Zusammenarbeit mit den iranischen Revolutionsgarden (Sepah Pasdaran) befürchten müsste, die für seinen Antrag auf internationalen Schutz oder für Abschiebungsverbote nach nationalem Recht Relevanz erlangen könnten.
Der Einzelrichter muss im Asylverfahren sowohl von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Gefährdung die volle Überzeugung gewinnen. Dabei obliegt es der Klagepartei, die Gründe für ihr Asylbegehren in schlüssiger Form vorzutragen. Sie hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich ergibt, dass bei verständiger Würdigung des Einzelfalles die Furcht vor Verfolgung begründet und es ihr nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Herkunftsland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings – unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstandes und Alters des Asylsuchenden sowie möglicher Schwierigkeiten, seine Belange dem Gericht überzeugend und „farbig“ darzustellen – ein detaillierter, in sich schlüssiger und überzeugender Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Gemessen hieran ist festzustellen, dass sich aus dem Vortrag des Klägers kein hinreichend schlüssiger und glaubwürdiger Lebenssachverhalt ergibt, der die Überzeugung des Einzelrichters begründen könnte, der Kläger wäre im Fall seiner Rückkehr in den Iran mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der von ihm befürchteten Gefährdung seitens der Sepah Pasdaran (oder für sie Handelnder) ausgesetzt. Der Einzelrichter ist im Ergebnis nicht hinreichend davon überzeugt, dass die Darstellung des Klägers der Wahrheit entspricht (auf deren rechtliche Bewertung im Einzelnen es deshalb nicht mehr ankommt). Diese Bewertung des Einzelrichters ergibt sich dabei nicht aus einem einzelnen Aspekt des Vortrags des Klägers. Insbesondere sind – bei Berücksichtigung möglicher kleinerer Unstimmigkeiten der jeweiligen Übersetzungen bzw. ihrer Dokumentation – keine eindeutigen Widersprüche in den Kernelementen seines Vortrags gegenüber dem BAMF und vor Gericht festzustellen. Auch wird seitens des Gerichts nicht ausgeschlossen, dass die iranischen Revolutionsgarden in Einzelfällen versuchen, Personen, die nicht den Revolutionsgarden angehören, für Tätigkeiten im Graubereich der Legalität oder jenseits davon anzuwerben, um ggf. nicht selbst für mögliche Konsequenzen zur Rechenschaft gezogen zu werden oder um diese Person außerhalb ihrer Reihen später als verantwortlich darstellen zu können. Im Grundsatz könnte sich also ein Sachverhalt wie der vom Kläger geschilderte, dass die Sepah Pasdaran versuchen, einen Dritten zunächst „anzufüttern“ und dann für illegale Geschäfte als „Werkzeug“ zu benutzen, durchaus so zugetragen haben. Dennoch weist die Darstellung des Klägers mehrere – auch durch eine Beweiserhebung nicht weiter aufklärbare – gravierende Zweifelsfragen auf, welche das bereits geschilderte Ergebnis begründen.
Der Einzelrichter gewann in der mündlichen Verhandlung vom Kläger das Bild eines aktiven, gewandten und flexiblen „Geschäftsmannes“, das sich stimmig mit seiner dargestellten selbstständigen Tätigkeit im Iran als Importeur von Kraftfahrzeugen zusammenfügt. Auch der in der Anhörung des Klägers vor dem BAMF von ihm vermittelte Eindruck, dass er in der Zusammenarbeit mit der Sepah Pasdaran die Chance darauf gesehen habe, schnell relativ viel Geld zu verdienen und daraus künftigen wirtschaftlichen Erfolg ziehen zu können, erscheint vor diesem Hintergrund durchaus plausibel. Dem Kläger war auch bereits im Iran bewusst, wie mächtig die Revolutionsgarden faktisch im Iran sind und in wie vielfältiger Weise sie auch am Wirtschaftsleben des Iran (einschließlich des Schwarzmarkts) beteiligt sind. Es muss deshalb bei lebensnaher Betrachtung davon ausgegangen werden, dass dem Kläger bereits im Iran klar war, dass die Sepah Pasdaran auch an nicht oder nicht gänzlich legalen Geschäften zur Umgehung des vor seiner Ausreise noch bestehenden Handelsembargos gegen den Iran beteiligt war. Spätestens als sein Kontaktmann ihm die Abwicklung des Geschäfts mit dem Zucker anbot, also von außerhalb seiner bisherigen Tätigkeit liegenden Waren, hätte der Kläger – trotz der gegensätzlichen Darstellung in der mündlichen Verhandlung – nach Überzeugung des Einzelrichters dahingehend Verdacht schöpfen müssen, dass sein Kontaktmann keine normale Geschäftsbeziehung mit ihm führen möchte. Erst recht musste es für den Kläger ein „Alarmzeichen“ darstellen, wenn ihn sein Kontaktmann bereits beim dritten gemeinsam abzuwickelnden Geschäft ohne klar umrissenen zeitlichen und inhaltlichen Arbeitsauftrag in ein europäisches Land entsenden will. Der Einzelrichter teilt deshalb die Bewertung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid, dass es vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar erscheint, dass der Kläger – entsprechend seiner Darstellung vor dem BAMF – sich erst in Griechenland nach einem Telefongespräch mit seiner Familie und sodann einem Telefongespräch mit einem Freund beim Zoll, der ihm von einem nach vergleichbarer Tätigkeit verschwundenen weiteren Freund erzählt habe, zur sofortigen Weiterreise nach Deutschland entschlossen habe. Selbst wenn man es – wie der Einzelrichter – durchaus für möglich erachtet, dass der Kläger seinen Vater (mit dem zusammen er seine Firma gehabt habe) zunächst nicht in die Geschäfte mit den Revolutionsgarden eingeweiht habe, so wäre bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass der Kläger spätestens vor seiner Reise aus dem Iran nach Griechenland diesen Freund beim Zoll befragt hätte oder jedenfalls sonst eine Vertrauensperson in seine – zeitlich unbestimmten – Reisepläne eingeweiht hätte. Zutreffend erscheint in diesem Zusammenhang auch das Argument der Beklagten, es sei lebensfremd und mit der vom Kläger gegebenen Darstellung einer gemeinsamen Geschäftstätigkeit mit seinem Vater nicht schlüssig vereinbar, dass der Kläger die zeitlich überhaupt nicht absehbare Abwesenheit von seiner Firma und seiner Familie überhaupt nicht kommuniziert habe.
Im Übrigen weist die Beklagte ebenfalls zutreffend darauf hin, dass der Kläger in dem Zeitpunkt, in dem er sich in Griechenland für die äußerst kurzfristige Inanspruchnahme einer Schleusung nach Deutschland entschieden habe, den Revolutionsgarden noch keinerlei Anlass dafür gegeben habe, an der weisungsgemäßen Ausführung weiterer Aufträge durch den Kläger zu zweifeln, sondern er allenfalls davor stand, wegen eines Verstoßes gegen Embargovorschriften gegen Gesetze anderer Staaten zu verstoßen. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung erläuterte, er sei bei der Ausreise aus dem Iran davon ausgegangen, dass er das gewünschte Geschäft zwischen Griechenland und dem Iran abwickeln solle und vor allem die Tatsache, dass er erst in Griechenland erfahren habe, dass er Waren aus einem unbekannten Drittland importieren oder begleiten solle, habe ihm Angst gemacht und zur Flucht nach Deutschland motiviert, steht dies in Widerspruch zu der Dokumentation seiner Anhörung vor dem BAMF. Dort erläuterte der Kläger, sein Kontaktmann habe ihm bei der Besprechung des Geschäfts im Iran erläutert, die Revolutionsgarden wollten „Waren aus Griechenland und einigen Ländern außerhalb der Schengen-Staaten einführen“.
Anlass für Zweifel gibt dem Einzelrichter auch die Darstellung des Klägers zu dem angeblichen Geschäft mit der Einfuhr von Zucker. Der Kläger erläuterte insoweit, ihm sei nicht klar, ob die Revolutionsgarden ihn mit diesem Geschäft nur „anfüttern“ und seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit testen wollten oder ob sie ihn bereits im eigenen Interesse gleichsam wie ein Werkzeug benutzen wollten. Letztere Alternative erscheint dem Einzelrichter (trotz der Darstellung des Klägers vor dem BAMF, sein Kontaktmann habe ihm erläutert, der Kläger habe mit seiner Privatfirma andere Möglichkeiten zur Einfuhr als die Revolutionsgarden) wenig plausibel, da die Sepah Pasdaran als faktische Wirtschaftsmacht im Iran die Ein- und Ausfuhren einschließlich der Zollabwicklung in ihrem Sinne beeinflussen können. Dass sie – wie es der Kläger in der mündlichen Verhandlung darstellte – innerhalb des Iran lediglich für die Abwicklung von Zollpapieren gerade den Kläger tatsächlich benötigt haben könnten, erscheint wenig plausibel. Angemerkt sei insoweit auch, dass die Darstellung des Klägers in der mündlichen Verhandlung, er habe die Container mit dem Zucker persönlich nicht gesehen und sich im Wesentlichen um die Abwicklung der Papiere gekümmert, auch nicht ohne weiteres mit der Dokumentation seiner Aussage vor dem BAMF, er habe nach der Abnahme auch „beide Container geliefert“, übereinstimmt. Geht man aber von der Alternative aus, das Geschäft mit dem Zucker habe nur dem „Anfüttern“ des Klägers und dem Test der Zusammenarbeit mit ihm gegolten, so wirft auch dies Fragen auf. Welchen Erkenntnisgewinn die Revolutionsgarden durch die vom Kläger als völlig unproblematisch dargestellte Abwicklung gewinnen sollten, ist nicht ersichtlich.
Wesentlich kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Dem Einzelrichter erschließt sich kein plausibel nachvollziehbarer Grund dafür, dass die Revolutionsgarden dem Kläger zunächst im Iran – wie von ihm vor dem BAMF dargestellt – mit erheblichem logistischen Aufwand ein Schengen-Visum für seinen Reisepass besorgt haben sollten, um dann sofort nach der Einreise des Klägers in Griechenland diesen dazu zu veranlassen, in einem Hotel unter erneuter Abgabe seines Passes zunächst abzuwarten, bis darin ein weiteres Visum für ein unbekanntes Drittland angebracht werde. Im Übrigen hätte den Kontaktpersonen bei den Revolutionsgarden auch klar sein müssen, dass es für einen jüngeren iranischen Mann ohne eigene Familie einen erheblichen Anreiz für eine Flucht aus dem Iran darstellen würde, ihm mittels eines Schengen-Visums die Reise in ein Land der Europäischen Union zu ermöglichen und ihn dann aufzufordern, dort auf weitere Anweisungen seitens der Kontaktpersonen zu warten. Zwar wäre es vorstellbar, die Revolutionsgarden seien davon ausgegangen, sie hätten im Zweifel über die Eltern des Klägers im Iran auf diesen Druck ausüben können, doch gibt es hierfür keinen hinreichenden Anhaltspunkt in der Darstellung des Klägers: Die behauptete Beobachtung des Vaters des Klägers und dessen Geschäfts im Iran sowie dessen dreitägige Festnahme lösten für die dort Betroffenen keine schweren Konsequenzen aus.
Anzuführen sind schließlich zwei weitere Aspekte, von denen zwar beide zusammen und erst recht jeder für sich genommen nicht die Abweisung der Klage rechtfertigen würden, die aber ebenfalls in die Gesamtschau des Gerichts einzubeziehen sind: Zum einen befindet sich in der Behördenakte ein Visumsvorgang, wonach der Kläger im Herbst 2011 vergeblich versuchte, ein Besuchsvisum für Deutschland zu erlangen. Neben der Möglichkeit, dass der Kläger tatsächlich lediglich seinem Bruder einen kurzfristigen Besuch abstatten wollte, muss bei lebensnaher Betrachtung gerade angesichts seiner Diabetes-Erkrankung auch die Möglichkeit erwogen werden, dass der Kläger bereits seinerzeit versuchte, auf diesem Weg einen längeren Aufenthalt in Deutschland zu erlangen. Auffällig ist ferner, dass der Kläger nach Aktenlage mehrere Monate vor seiner Anhörung vor dem BAMF bei einer Reisewegsbefragung am 7. Januar 2013 durch die Regierung … (Blatt 33 f. der Behördenakte) noch angab, sein Onkel habe für seine Schleusung 5.000,00 € an einen Schleuser im Iran bezahlen müssen, was auf seine Schleusung vom Iran aus nach Europa hindeuten würde. Demgegenüber gab der Kläger in seiner Anhörung vor dem BAMF auf der Basis der vorgetragenen Fluchtgründe (nach der die Revolutionsgarden seine Reise bis Griechenland gewährleisteten) an, er habe 3.000 € „eigenes Geld“ – eine für durchschnittliche iranische Verhältnisse erhebliche Summe – in Griechenland bei sich gehabt, die von ihm organisierte Reise mit einem Lkw von Griechenland nach Deutschland habe 2.000,00 € gekostet. Der Einzelrichter zieht durchaus auch die Möglichkeit einer falschen Dokumentation hinsichtlich der vorgenannten Aussage in Betracht, andererseits kann auch dieser Widerspruch in die Gesamtbewertung der Glaubwürdigkeit des Klägers Eingang finden.
Letztlich ist auch der persönliche Eindruck, den der Einzelrichter bei der Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung von diesem gewinnen konnte, nicht geeignet, die vorgenannten Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Darstellung zu den Gründen der Asylantragstellung ausreichend zu zerstreuen. Wie bereits dargestellt, erlangte das Gericht dabei vom Kläger das Bild eines aktiven, gewandten und flexiblen „Geschäftsmannes“, der durchaus flüssig und wortreich die vom Gericht gestellten Fragen beantwortete. Auch wenn der Kläger nicht den Eindruck erweckte, einzelne Tatsachen vor dem Gericht verbergen zu wollen, so ist doch ebenso festzustellen, dass Art und Inhalt des Vortrag des Klägers in der Gesamtschau nicht – und sei es in Nebensächlichkeiten – von derart prägnanten Details oder nachvollziehbaren Zusammenhängen und Begründungen geprägt war, dass der Einzelrichter hieraus trotz der objektiv bestehenden Zweifel hinreichend verlässlich darauf schließen könnte, der Kläger würde zweifelsfrei von ihm tatsächlich Erlebtes und damit ein von ihm ernstlich befürchtetes Verfolgungsschicksal schildern.
3. Aufgrund der aktuellen gesundheitlichen Verfassung des Klägers hat dieser jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch darauf, dass unter Aufhebung der insoweit entgegenstehenden Feststellung in Ziffer 4. des streitgegenständlichen Bescheids zu seinen Gunsten festgestellt wird, dass die Voraussetzungen eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iran vorliegen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben (z. B. die fehlende Reisefähigkeit eines Asylbewerbers), nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können.
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot kann sich – bei Nachweis nach den Maßgaben des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG – auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn sich die Erkrankung im Heimatstaat erheblich verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Dabei liegt eine abschiebungsschutzrelevante Verschlechterung des Gesundheitszustands nicht schon dann vor, wenn „nur“ eine bestmögliche Vorsorge, Linderung oder Heilung eines Krankheitszustandes des Ausländers im Abschiebungszielland im Vergleich zu einer (Weiter-)Behandlung im Bundesgebiet nicht zu erwarten ist, sondern erst dann, wenn im Fall der Rückkehr alsbald eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung mit der Folge einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben zu befürchten wäre. Diese in der Rechtsprechung anerkannten Grundsätze hat der Gesetzgeber mittlerweile in § 60 Abs. 7 Sätze 2 bis 4 AufenthG verankert: Danach liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung (d. h. infolge der Abschiebung) wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot kann sich nach wie vor trotz an sich verfügbarer medikamentöser oder ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. insgesamt hierzu: BVerwG, U. v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris Rn. 13 ff.; B. v. 24.5.2006 – 1 B 118/05 – juris Rn. 4; BayVGH, U. v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris Rn. 15; B. v. 24.8.2010 – 11 B 08.30320 – juris Rn. 26).
Gemessen hieran ist festzustellen:
Der Kläger ist seit mehr als 10 Jahren an insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt. Er benötigt derzeit vier bis sechs Insulin-Injektionen pro Tag und muss die für die Überwachung und Behandlung seiner Erkrankung maßgeblichen Werte permanent mehrfach täglich prüfen. Ohne ständig gesicherte Überwachung des Gesundheitszustands und Gewährleistung der i.d.R. lebenslang erforderlichen Insulintherapie kann eine Diabetes Typ 1-Stoffwechselerkrankung zu massiven gesundheitlichen Gefahren bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen (hyperglykämisches Koma) führen. Allein diese Erkrankung würde indes bezogen auf den Iran noch nicht die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots aus gesundheitlichen Gründen rechtfertigen. Der Einzelrichter ist überzeugt davon, dass eine Diabetes mellitus Typ 1 im Iran am Maßstab des § 60 Abs. 7 AufenthG gemessen ausreichend behandelbar ist und dass dort auch die hierfür erforderliche Medikamentenversorgung grundsätzlich gewährleistet ist (ebenso: HessVGH, U. v. 24.9.2002 – 11 UE 4360/97.A – juris; vgl. auch die Aussage im aktuellen Lagebericht Iran des Auswärtigen Amts (AA), Stand: November 2015, Seite 30). Ob diese – bei insulinpflichtigen Diabetikern unzweifelhaft ständig und fortlaufend erforderliche Behandlung – einem in den Iran zurückkehrenden Asylbewerber auch individuell zugänglich ist, muss im Zweifel an Hand der konkreten Umstände des Einzelfalls geprüft werden. Zwar verfügt der Iran über ein Versicherungswesen, das für den von ihm erfassten Personenkreis jedenfalls teilweise eine medizinische Versorgung finanziert. Nach allen Erkenntnismitteln sind jedoch i.d.R. zusätzlich hohe private Eigenaufwendungen zu leisten, da die Behandlungskosten die Versicherungsleistungen regelmäßig übersteigen; in Härtefällen können u.U. soziale Absicherungsmechanismen eingreifen (Lagebericht AA, a. a. O., S. 30). Vorliegend müsste deshalb im Zweifel genauer hinterfragt werden, welche Behandlungskosten für die erforderliche Behandlung der Erkrankung des Klägers im Iran regelmäßig anfallen werden, ob und ggf. wann der Kläger als vor seiner Ausreise aus dem Iran wohl selbstständig Tätiger nach seiner Rückkehr überhaupt (wieder) Leistungen aus dem iranischen Versicherungswesen beziehen könnte und ob und inwieweit damit für ihn aus möglichen Versicherungsleistungen, aus möglichem eigenen Vermögen, aus möglichen familiären/verwandtschaftlichen Unterstützungsleistungen und schließlich aus einem ihm möglicherweise zur Verfügung gestellten Vorrat an erforderlichen Medikamenten die Behandlung seiner Erkrankung unmittelbar nach der Rückkehr und in absehbarer Zukunft gewährleistet ist. Auf diese Fragen kommt es aber nicht weiter an, denn der vorliegende Einzelfall zeichnet sich durch eine Besonderheit aus:
Nach den aktuell vorliegenden fachärztlichen Attesten und auch der insoweit für den Einzelrichter glaubhaften Darstellung des Klägers in der mündlichen Verhandlung wurde beim Kläger bislang noch keine stabile diabetische Stoffwechsellage erreicht, derzeit ist die Erkrankung des Klägers als „entgleist“ anzusehen. Auch sind nach glaubhafter fachärztlicher Einschätzung eine Umstellung des von ihm bislang verwendeten Basalinsulins Tresiba und weitere Therapieanpassungen hinsichtlich des Diabetes-Managements erforderlich. Somit besteht derzeit eine Phase in der Erkrankung des Klägers, in welcher hinsichtlich des künftigen Behandlungsbedarfs des Klägers noch keine gesicherte und verlässliche ärztliche Aussage getroffen werden kann. Dementsprechend kann derzeit auch nicht dem bereits oben dargestellten Maßstab entsprechend geklärt werden, ob dem Kläger die insoweit erforderliche medizinische Behandlung – seine aktuelle Rückkehr in den Iran unterstellt – generell und auch individuell zugänglich wäre. Selbst wenn man unterstellt, dass der Kläger im Iran auf längere Sicht die erforderliche Behandlung durch eine Kombination aus Versicherungsleistungen, eigener Arbeitsleistung, familiäre und ggf. sozialer Unterstützung erlangen könnte, so benötigt der Aufbau dieser Versorgung Zeit, die dem Kläger aufgrund seines Gesundheitszustands nicht zur Verfügung steht. Selbst wenn denkbar erscheint, dass diese Phase durch abschiebungsbegleitende Maßnahmen der Beklagten (insbesondere einen Medikamentenvorrat) überbrückt werden könnte, kann diese Maßnahme aktuell gerade nicht eingreifen, weil der kurz- und mittelfristig bestehende Behandlungsbedarf derzeit – wie dargestellt – nicht hinreichend geklärt ist. Ohne eine derart gesicherte Weiterbehandlung wäre aber nach Überzeugung des Einzelrichters aktuell im Fall einer Abschiebung des Klägers in den Iran alsbald eine die oben dargestellten Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllende massive Verschlechterung seines Gesundheitszustands bis hin zur Gefahr des Todes beachtlich wahrscheinlich zu befürchten.
Bei dieser Sachlage erachtet es der Einzelrichter im vorliegenden Einzelfall weder als rechtlich geboten noch als sachlich zielführend, eine Entscheidung in diesem Verfahren durch eine Vertagung und ggf. spätere Beweiserhebungen so lange aufzuschieben, bis tatsächlich belastbare fachärztliche Aussagen über den Behandlungsbedarf des Klägers bestehen. Die Feststellung eines krankheitsbedingten, zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Asylverfahren begründet kein Daueraufenthaltsrecht (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1, § 26 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2, § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 a) AufenthG), sondern dient – jedenfalls nach der klaren gesetzlichen Konstruktion – dazu, einer im Fall der Abschiebung aktuell, individuell und konkret in der Person eines Ausländers im Heimatland bestehenden erheblichen Gefahrenlage für hochrangige Schutzgüter vorübergehend zu begegnen. Die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist deshalb auch nach § 73 c AsylG durch das BAMF, ohne dass diesem insoweit ein Ermessen zukäme (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2015 – 1 C 2/15 – juris Rn. 15; BayVGH, B. v. 22.7.2015 – 13a ZB 15.30130 – juris Rn. 7), zu widerrufen, sobald seine Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Hingegen erscheint es – jedenfalls im Hauptsacheverfahren – nicht zulässig, die gerichtliche Verpflichtung zum Ausspruch des Abschiebungsverbots ihrerseits zu befristen (vgl. hierzu: VG München, U. v. 8.5.2001 – M 21 K 99.51634 – juris Rn. 47 ff.). Das BAMF ist deshalb gehalten, regelmäßig zu überprüfen, ob die Rechtfertigung für ein Abschiebungsverbot nach wie vor besteht. Mithin kann und muss künftig nach dem Vorliegen belastbare Aussagen über den sich aus der Erkrankung des Klägers ergebenden Behandlungsbedarf behördlicherseits hinreichend reagiert werden.
4. Als Konsequenz der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iran sind die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5. und die Befristungsentscheidung in Ziffer 6. des angegriffenen Bescheids rechtswidrig, verletzen den Kläger in seinen Rechten und waren deshalb aufzuheben.
Wegen der Verpflichtung des BAMF zur Feststellung des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt die für den Erlass der Abschiebungsandrohung (u. a.) erforderliche Voraussetzung des § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht vor.
Die Entscheidung zur Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 6. des Bescheids erging im Vollzug der § 75 Nr. 12, § 11 Abs. 1-3 AufenthG für das danach bestehende gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot. Der Aufgabenbereich des BAMF ist insoweit nach dem Wortlaut des § 75 Nr. 12 AufenthG jedoch nur „im Fall einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34, 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes“ eröffnet. Auch nach § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG soll die Frist mit der Abschiebungsandrohung festgesetzt werden. Soweit die Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben kann, gilt dies somit auch für die Befristungsentscheidung.
Der (gerichtskostenfreien, § 83 b AsylG) Klage war deshalb mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO nur zum Teil stattzugeben.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.


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