Verwaltungsrecht

Afghanistan, Abschiebungsverbot für jungen erwerbsfähigen Mann festgestellt aufgrund der (nochmaligen) spürbaren Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage, der Arbeitsmöglichkeiten sowie der humanitären Lage in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban, besondere begünstigende Umstände, etwa durch ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk, durch nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte oder ausreichendes Vermögen, liegen im Falle des Klägers nicht vor

Aktenzeichen  W 1 K 22.30254

Datum:
12.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 11119
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4-6 des Bescheides vom 09.07.2021 verpflichtet, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan festzustellen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn der Kläger nicht zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage, über die gem. § 101 Abs. 2 VwGO im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, ist zulässig und begründet.
Die ursprünglich ohne anwaltliche Vertretung erhobene Klage ist sachgerecht dahingehend auszulegen, § 88 VwGO, dass vor dem Hintergrund, dass der Bescheid insgesamt aufgehoben werden sollte (Ziffer 1), in der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 2) als Minus auch die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes (sowie zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes, zwischenzeitlich jedoch nicht mehr rechtshängig) mit enthalten war.
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan. Der Bescheid der Beklagten vom 09.07.2021 ist bezüglich der Ziffern 4-6 rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und war daher insoweit aufzuheben (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zunächst ist festzustellen, dass das Gericht entgegen der Angaben des Klägers davon ausgeht, dass dieser im entscheidungserheblichen Zeitpunkt volljährig ist. Das Gericht stützt sich insoweit auf das überzeugende Gutachten zur forensischen Altersdiagnostik des Universitätsklinikums Frankfurt am Main vom 01.02.2021 mit ergänzendem radiologischen Zusatzgutachten vom 08.02.2021. Danach wies der Kläger im Untersuchungszeitpunkt ein wahrscheinliches Lebensalter um 20 Jahre auf, er war zu diesem Zeitpunkt jedoch mindestens 19 Jahre alt und wurde daher spätestens am …2002 geboren, während das von ihm selbst angegebene Geburtsdatum …2004 nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht zutreffen kann. Der Kläger hat diese überzeugenden Ausführungen auch nicht substantiiert infrage gestellt, insbesondere keine abweichenden und überzeugenden Dokumente vorgelegt, die seine Minderjährigkeit nachvollziehbar belegen würden. Beim Bundesamt hat er auf das Gutachten angesprochen lediglich pauschal und in keiner Weise nachvollziehbar erklärt, dass bei der Untersuchung wohl etwas falsch gelaufen sein müsse und er sich sicher sei, noch minderjährig zu sein.
Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung – für die Gefahr der Folter des Klägers bestehen keinerlei Anhaltspunkte – voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss demnach eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] -, Rn. 212 ff., Urteil vom 27. Mai 2008 – 26565/05 [N. v. The United Kingdom], Rn. 34 ff.). Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht hierbei dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris, Rn. 6; Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5.09 – juris, Rn. 22). Es ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris, Rn. 6; Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – juris, Rn. 32). Ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, kann hingegen nicht verlangt werden (vgl. EGMR, Urteil vom 09. Januar 2018 – 36417/16 [X. v. Sweden] -, Rn. 50; BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris, Rn. 6; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 5. März 2021 – A 8 K 3716/17 -, Rn. 35, juris).
Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25). Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 20 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111 f. m.w.N.). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 21; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 43 ff. m.w.N; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 43 m.w.N).
Aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Afghanistan liegt im Falle des Klägers ein derartiger ganz außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen seine Abschiebung zwingend sind.
Das erkennende Gericht hat bis zur Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (zuletzt mit Urteilen vom 7. Juni 2021 (13a B 21.30342 – juris) bzw. 23. Juni 2021 (13a ZB 21.30438 – UA Rn.18; auch OVG Hamburg, U.v. 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris) entschieden, dass ein junger, gesunder und erwerbsfähiger Mann trotz der sich seit Beginn der Corona-Pandemie in Afghanistan weiter verschlechternden Wirtschafts- und humanitären Lage weiterhin in der Lage ist, ohne Verstoß gegen § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK sein Existenzminimum in Afghanistan zu erwirtschaften, was auch für den Fall galt, dass die entsprechende Person nicht über nennenswertes Vermögen oder ein stützendes soziales, insbesondere familiäres Netzwerk im Heimatland verfügt.
Diese Rechtsprechung war, nachdem sich die wirtschaftliche Situation in Afghanistan seit Beginn der Covid-19-Pandemie bereits spürbar verschlechtert hatte, in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bereits vor der Machtübernahme der Taliban insbesondere für die Fälle umstritten, in denen bei dem Schutzsuchenden keine besonderen begünstigenden Umstände, wie insbesondere ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk, nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte oder ausreichendes Vermögen, vorlagen (für diese Konstellation ein Abschiebungsverbotes bejahend etwa: VGH Baden-Württemberg, U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 – juris; ein Abschiebungsverbot für junge, gesunde männliche Rückkehrer jedenfalls dann verneinend, wenn diese ausreichend belastbar und durchsetzungsfähig sind und/oder über familiäre bzw. soziale Beziehungen verfügen: OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 30.11.2020 – 13 A 11421/19 – juris; ähnlich auch OVG Bremen, U.v. 24.11.2020 – 1LB 351/20 – juris).
Infolge der Machtübernahme der Taliban hat sich die seinerzeit ohnehin bereits äußerst angespannte wirtschaftliche Situation in Afghanistan weiter drastisch verschlechtert. Die Situation in Afghanistan stellt sich aktuell folgendermaßen dar:
Das Auswärtige Amt hat in seinem jüngsten Lagebericht vom 21.10.2021 erläutert, dass am 30.08.2021 die letzten internationalen Truppen Afghanistan verlassen haben und die Taliban nun weitgehend über die Kontrolle im gesamten Land verfügen. Die bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban angespannte wirtschaftliche Lage hat sich seither weiter verschlechtert. Zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig sind, haben ihre Einkommensquellen verloren. Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die von Deutschland geförderten humanitären Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen wurden aus Sicherheitsgründen temporär eingestellt, die Umsetzung der substantiellen deutschen humanitären Hilfe erfolgt über internationale Organisationen. Eine Reihe von UN-Organisationen sind vor Ort – mit Abstrichen – weiter arbeitsfähig. Durch die Kampfhandlungen vor der Machtübernahme der Taliban ist die Zahl der Binnenvertriebenen erneut um rund 665.000 Personen auf insgesamt mehr als 3,5 Millionen Menschen angestiegen. Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Die durch die Folgen der Covid-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht infolge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps. Rückkehrende verfügen aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich hat am 28.01.2022 dargelegt, dass die afghanische Wirtschaft bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig war. Das Land belegt lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80-90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft. Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen und die USA haben der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank verwehrt, ebenso der IWF. Im Zuge einer im Auftrag des Bundesamtes durchgeführten Studie in afghanischen Großstädten im November 2021 gaben nur 4% der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familie mit den grundlegenden Gütern zu versorgen. Im Jahr 2021 kam es zur zweiten schweren Dürre innerhalb von 3 Jahren, welche zu Missernten, einem drastischen Verfall der Viehpreise und zu Trinkwasserknappheit geführt hat. Für den Winter droht angesichts der anhaltenden Dürre eine weitverbreitete Hungersnot. Da keine Dollar-Lieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung in August 2021 auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Dieser Trend setzte sich auch im Dezember 2021 fort. Das World Food Programme u.a. warnten im Oktober 2021, dass im kommenden Winter fast 23 Millionen Afghanen unter akuter Ernährungsunsicherheit leiden würden. Grund seien die kombinierten Auswirkungen von Dürre, Konflikten, der Corona-Pandemie und einer Wirtschaftskrise, die sich nach der Machtübernahme der Taliban noch verschärft hat. Die Zahl der Afghanen, die von akutem Hunger betroffen sind, hat sich im Oktober 2021 gegenüber April 2021 um 37% erhöht. Während das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten bestand, sind nun auch Menschen in den Städten betroffen. Nach der Machtübernahme der Taliban haben sich die Preise für Lebensmittel und Treibstoff erhöht und für den Winter 2021/22 wurde ein weiterer Anstieg prognostiziert. Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer – etwa 1,5 Millionen in den letzten 2 Jahren – und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Jedes Jahr treten sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenige Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig. Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte, was durch die Corona-Pandemie negativ beeinflusst wurde. Es hat ein drastischer Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten stattgefunden. Nach der Machtübernahme der Taliban hat das Personal der Streitkräfte, das etwa auf eine halbe Million Personen geschätzt wird, keine Arbeit mehr. Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten. Das UNDP erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten 2 Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8-10% sinken werden. Die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werden sich sowohl auf die Wirtschaft als auf die Gesellschaft auswirken. 95% der Bevölkerung meldeten Einkommenseinbußen im Vergleich zum Vorjahr, davon 76% in erheblichen Umfang. Im Rahmen einer Studie gaben 58,3% der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein. Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Mit Stand November 2021 sind die Banken wieder geöffnet. Es sind Einzahlungen, begrenzte Abhebungen sowie begrenzte inländische und sehr begrenzt internationale Überweisungen möglich. Geldautomaten sind geschlossen und in den meisten Banken muss man in langen Schlangen warten, um unbegrenzte Geldsummen abzuheben. Bei Bargeldüberweisungen aus dem Ausland kann es sein, dass die Mittelsbank die Überweisung nicht zulässt. Anfang November 2021 hat die Taliban-Regierung die Nutzung fremder Währungen verboten. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGO´s. Insbesondere die Corona-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems in Afghanistan. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch einen Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Assistenzkräften, Medikamenten und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Nach der Machtübernahme der Taliban ist das Gesundheitssystem von Zusammenbruch bedroht. War der Zugang zur Gesundheitsversorgung schon vor der Machtübernahme der Taliban ein großes Problem, vor allem außerhalb der großen Städte, so hat sich diese Situation seither noch weiter verschlechtert, da der Großteil der internationalen Hilfe eingestellt wurde. Anfang November 2021 meldete UNDP, dass man das Sehatmandi-Projekt aufrechterhalte, Medizin für Kranke sowie Gehälter der Ärzteschaft und des Personals für den Vormonat bezahlt habe, da viele Mitarbeiter seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten hätten. Angesichts der jüngsten Entwicklungen hat auch die Weltbank alle Hilfen in Afghanistan eingefroren, wovon mehr als 2500 Gesundheitseinrichtungen und deren Beschäftigte betroffen sind. In Ermangelung ausreichender Finanzierung könnte die Kürzung der Hilfe hunderttausende Afghanen ohne medizinische Versorgung zurücklassen. Die meisten Patienten sind darauf angewiesen, ihre eigenen Medikamente in nahegelegenen Apotheken zu kaufen. Aber auch den meisten größeren Krankenhäusern fehlt es an grundlegenden Leistungen. Im 4. Quartal 2021 wurde in ganz Afghanistan ein starker Anstieg der Fälle von Unterernährung, vor allem betreffend Mütter und Kleinkinder, verzeichnet.
Gemäß dem EUAA-Bericht (ehemals EASO) Afghanistan: Country Focus vom Januar 2022 haben sich ausländische Hilfsmittel für Afghanistan vor der Machtübernahme der Taliban auf 8,5 Milliarden USD pro Jahr summiert und haben dabei 43% des Bruttoinlandsprodukts abgedeckt sowie 75% der öffentlichen Ausgaben. Diese Geldmittel wurden aufgrund von Sanktionen nach dem Machtwechsel ebenso eingefroren wie die afghanischen Währungsreserven. Die Preise für Nahrungsmittel sind von Juni auf September 2021 signifikant angestiegen, für Weizenmehl etwa um 28% und für Speiseöl um 55%. 95% der afghanischen Bevölkerung haben gegenüber 2020 einen Rückgang ihres Haushaltseinkommens hinnehmen müssen, hiervon 83% der städtischen Bevölkerung und 72% der Landbevölkerung einen signifikanten Rückgang. Gemäß der IPC-Analyse vom September 2021 war fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung von einem hohen Grad an Ernährungsunsicherheit betroffen (ein Anstieg von 30% gegenüber der gleichen Periode im Jahr 2020), der höchsten von IPC in Afghanistan jemals gemessenen Quote, sodass damit in Afghanistan die zweitgrößte Ernährungskrise weltweit herrscht. Gemäß einer WFP-Studie sind erstmals städtische Bewohner im gleichen Maße von Ernährungsunsicherheit betroffen wie die Landbevölkerung. Für November 2021 bis März 2022 wurde ein weiterer Anstieg von Betroffenen mit einem hohen Level an Ernährungsunsicherheit (Phase 3 oder höher) vorhergesagt, nämlich für insgesamt 22,8 Millionen Afghanen, was einem Anstieg gegenüber 2020 um fast 35% entspricht. Die Gründe für die Verschlechterung sind die klimatischen Bedingungen, insbesondere die anhaltende schweren Dürre, gestiegene Nahrungsmittelpreise, internationale Sanktionen, steigende Arbeitslosigkeit sowie gestiegene Vertreibung.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet (Afghanistan: Die aktuelle Sicherheitslage vom 31.10.2021), dass sich die bereits vor der Machtübernahme der Taliban schlechte humanitäre Lage mit der Machtübernahme durch die Taliban aufgrund der abrupt weggefallenen internationalen Unterstützung dramatisch verschärft hat. Die Städte werden von dieser massiven Wirtschaftskrise besonders hart getroffen (ca. 25 Prozent der Bevölkerung), da sich hier zahlreiche Menschen in vom Ausland finanzierten Sektoren den Lebensunterhalt verdient hatten. Dazu gehören etwa Regierungsbeamte, Armee- und Polizeiangehörige, Mitarbeitende von nationalen und internationalen NGO´s, aber auch Angestellte von Restaurants, Hotels, Geschäften, Privatuniversitäten, Hochzeitshäusern, Supermärkten und anderen Dienstleistungen, die nur dank einem vom Ausland finanzierten Einkommen konsumiert werden konnten. Doch auch die ländlichen Gebiete werden aufgrund der Dürre, der internen Vertreibung sowie der desolaten Wirtschaftslage getroffen. Äußerst prekär ist die Lage im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, die bisher ebenfalls von der internationalen Staatengemeinschaft finanziert wurden: Speziell gefährdet ist das Gesundheits- und Bildungssystem sowie die ländliche und städtische Infrastruktur. Der mit dem Machtwechsel einhergehende Stopp der internationalen Hilfe für Afghanistan hat zu zahlreichen Entlassungen und damit zu einem massiven Rückgang des Zugangs zu Dienstleistungen sowie der Einkommen der Bevölkerung geführt. Gemäß AAN waren bei der Regierung Ghani rund 420’000 Beamte angestellt, die die Taliban nicht ohne internationale Unterstützung bezahlen können. Dasselbe gilt für über 300’000 ehemalige Angehörige der ANDSF. Gemäß Angaben der Weltbank waren weitere 2,5 Millionen AfghanInnen im Dienstleistungs- und Baugewerbe beschäftigt. Zudem hat die Machtübernahme durch die Taliban zu einem massiven Braindrain geführt, da ein wesentlicher Teil der gebildeten Elite, die spezialisierte Bereiche der Regierungspolitik und -verwaltung leitete, geflüchtet ist. Generell herrscht in der Arbeitswelt große Verunsicherung, so hatten vor allem unmittelbar nach dem Machtwechsel viele Angst, zur Arbeit zu gehen oder den Handel wiederaufzunehmen. Die Taliban-Regierung hat hauptsächlich Männer zur Arbeit zurückgerufen; Frauen wurden mit der Begründung, die Sicherheitslage sei zu prekär, weitgehend wieder aus dem Arbeitsmarkt zurückgedrängt, wodurch die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte noch weiter zurückgeht. Dieser Verlust wird sich in Afghanistan langfristig negativ auswirken. Die Taliban haben allerdings weibliches Gesundheitspersonal wieder an die Arbeitsplätze zurückgerufen.
Gemäß World Food Programme (Afghanistan Food Security Update: February 2022) bleibt die Situation der Ernährungssicherheit alarmierend und es zeigen sich keine Anzeichen für Verbesserungen. 95% der Afghanen sehen sich ungenügender Ernährung gegenüber (gegenüber 81% vor der Machtübernahme der Taliban). Auch die Anzahl der Menschen, die zu Bewältigungsstrategien verschiedenster Art greifen müssen, ist zuletzt nochmals auf 71% angestiegen (gegenüber 11% vor dem Machtwechsel). Im Februar 2021 haben mehr Haushalte von einem signifikanten Rückgang ihres Einkommens berichtet (85%). Ein zunehmender Anteil der Geldmittel muss für Nahrungsmittel aufgewendet werden, aktuell 85%, was kaum noch Freiraum für die Anschaffung anderer essenzieller Güter lässt, die ebenfalls zum Überleben notwendig sind. Haushalte aller Bildungsschichten sind von der Ernährungsunsicherheit betroffen. Im Februar haben 78% der Haushalte Gesundheitsdienstleistungen benötigt (ein Anstieg von 55% gegenüber November 2021). Allerdings bleibt der Zugang hierzu weiterhin niedrig, insbesondere wegen Geldmangels oder langer Distanzen zu einem Krankenhaus. Jüngst droht überdies ein Übergriff der Situation in der Ukraine, die humanitäre Krise in Afghanistan zu vertiefen, wenn Preise allgemein steigen und Lieferketten ins Stocken geraten.
Nach einem weiteren Bericht des World Food Programme (Afghanistan: Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 97, 29.03.2022) sind die Preise für Lebensmittel weiterhin signifikant höher als im Juni 2021, so etwa Weizenmehl um mehr als 40%, Speiseöl um rund 34% und Diesel um rund 58%. Obwohl die Arbeitsmöglichkeiten saisonal bedingt jüngst um rund 10% gestiegen sind, liegen die Einkommen für gelernte wie ungelernte Arbeit um rund 8 bzw. 10% niedriger als noch im Juni 2021 und die Anzahl der verfügbaren Arbeitstage pro Woche weiterhin 28% niedriger als zu dem genannten Zeitpunkt, wodurch sich seither ein Kaufkraftverlust von 32,5% ergeben hat.
Auf einer Linie mit den Inhalten der vorstehend skizzierten Berichte sind u.a. überdies: UK Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan: Humantarian situation, February 2022, UNDP, Afghanistan: Socio-Economic Outlook 2021-2022 – Averting a Basic Needs Crisis, 01.12.2021, ILO, Employment prospects in Afghanistan: a rapid impact assessment (January 2022), 19.01.2022.
Schließlich kann der Kläger auch nicht auf Rückkehrhilfen zurückgreifen. Denn diese sind in Afghanistan seit dem 17.08.2021 bis auf weiteres ausgesetzt (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan).
Unter Berücksichtigung der vorstehend skizzierten weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban geht das Gericht nunmehr davon aus, dass die oben zitierte Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, wonach jungen erwerbsfähigen Männern im Regelfall kein Abschiebungsverbot zu gewähren ist, jedenfalls aktuell und in dieser Allgemeinheit nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Diese Einschätzung basiert – unter zusammenfassender Berücksichtigung obiger Ausführungen – auf einer erneuten tiefgreifenden Verschlechterung der Wirtschaftslage in Afghanistan, die sich bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban in einer prekären und grenzwertigen Situation auch für die vorgenannte Rückkehrergruppe befunden hat, der weiteren deutlichen Einschränkung von Arbeitsmöglichkeiten bei einem gleichzeitigen erheblichen Anstieg der Preise, insbesondere auch für Nahrungsmittel, sowie sinkender Kaufkraft, der anhaltenden schweren Dürre mit ihren vielfältigen negativen Auswirkungen auf die in Afghanistan zentrale Landwirtschaft, auf einer sehr großen Anzahl von Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland und einer ebenfalls sehr erheblichen Anzahl von Binnenvertriebenen, die zu einer nochmaligen Erhöhung der Konkurrenz insbesondere um Arbeit und öffentliche Dienstleistungen beitragen, sowie schließlich der Einstellung von Rückkehrhilfen. Hieran vermag auch die fortlaufende Gewährung humanitärer Hilfen durch die UN, ihre Unterorganisationen sowie eine Reihe von NGO´s in Afghanistan nichts zu ändern, zumal ein Großteil der internationalen Hilfsgelder weiter eingefroren bleibt und selbst die von den Vereinten Nationen als notwendig erachtete reine humanitäre Hilfe für das Jahr 2022 im Umfang von 4,4 Milliarden USD jüngst auf einer Geberkonferenz nicht erzielt werden konnte, sondern lediglich 2,44 Milliarden USD (https://www.zdf.de/nachrichten/politik/baerbock-guterres-konferenz-afghanistan-102.html)).
In Ansehung dessen geht das Gericht nunmehr davon aus, dass sich die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots über Angehörige besonders vulnerablen Gruppen hinaus im Regelfall auch für erwachsene und arbeitsfähige Männer ergeben. Anderes kann jedoch dann gelten, wenn in der Person des Schutzsuchenden besondere begünstigende Umstände vorliegen. Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt. Dagegen geht das Gericht nicht davon aus, dass eine besondere Belastbarkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder fachliche Qualifikation des Betreffenden Umstände sind, die für sich allein ausreichen, dass die Person im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums zu sichern (so auch: VGH Baden-Württemberg, U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 – juris sowie die – soweit ersichtlich – derzeit einhellige veröffentlichte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung – statt vieler: VG Cottbus, U.v. 04.03.2022 – 6 K 3120/17.A – juris; VG Saarland, U.v. 23.02.2022 – 5 K 741/20 – juris; VG Minden, U.v. 28.01.2022 – 3 K 1476/19.A – juris; VG München, U.v. 10.02.2022 – 15 K 17.30382 – juris; VG Hamburg, U.v. 26.11.2021 – 1 A 31/21 – juris).
Anzumerken ist zudem, dass vor dem Hintergrund der skizzierten aktuellen Wirtschaftslage in Afghanistan von dort lebenden Familienmitgliedern und Verwandten eine Unterstützungsfähigkeit nicht mehr ohne Weiteres angenommen und erwartet werden kann. Erforderlich ist vielmehr, dass hierfür im Einzelfall ernsthafte tatsächliche Anhaltspunkte bestehen. Solche können sich vor allem daraus ergeben, dass die – für den Rückkehrer erreichbaren – Verwandten auch nach der Machtübernahme der Taliban in überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnissen leben oder ihre eigene Versorgung aus sonstigen Gründen dergestalt gesichert ist, dass die Möglichkeit besteht, den Rückkehrer ohne Einbußen bei der eigenen Versorgung zu unterstützen. Hingegen kann es gegen die Unterstützungsbereitschaft sprechen, wenn es sich bei den Verwandten nicht um Mitglieder des engen Familienkreises des Rückkehrers oder solche Personen handelt, zu denen jedenfalls bis zur Ausreise kein enges Verhältnis bestanden hat (so auch: VG Minden, U.v. 28.01.2022 – 3 K 1476/19.A – juris)
Gemessen daran ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr der Verelendung und einer unmenschlichen Behandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, wobei vorliegend zunächst auf Kabul als langjährigen Wohnort und auch Rückkehrort für den Kläger abzustellen ist.
Besondere begünstigende Umstände sind in der Person des Klägers hingegen nicht ersichtlich. Der Kläger hat insoweit vor dem Bundesamt vielmehr glaubhaft erklärt, dass neben ihm selbst auch seine gesamte Familie im Jahr 2017 aus Afghanistan ausgereist ist und er dort keine Verwandten mehr hat. Die Richtigkeit dieser Angaben ergibt sich nach Überzeugung des Gerichts auch daraus, dass der Halbbruder des Klägers (R … R …) sowie dessen Ehefrau (F … S …) in deren Asylverfahren konsistent und übereinstimmend ebenfalls berichtet haben, dass sich keine Verwandten mehr im Heimatland aufhalten. Kohärent haben der Kläger und sein Halbbruder dargelegt, dass sie an der türkisch-iranischen Grenze von der übrigen Familie getrennt worden sind und seither kein Kontakt besteht. Der Halbbruder des Klägers hat lediglich zu einzelnen Personen ausführen können, dass sich ein Cousin in Griechenland aufhält, ein weiterer in Schweden sowie dessen Mutter (die Stiefmutter des Klägers) in Griechenland. Die Flucht der gesamten Familie hat ihren Ausgangspunkt in einem Säureangriff auf die Stiefmutter des Klägers, in dessen Folge der Täter, der neue Ehemann der Stiefmutter, dieser weiter nach dem Leben trachtete und in diesem Zusammenhang auch weitere Familienmitglieder bedroht bzw. verletzt hat, was im Kern übereinstimmend vom Kläger, seinem Halbbruder sowie seiner Schwägerin geschildert wurde und überdies auch vom Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid nicht grundsätzlich in Abrede gestellt wurde. Vor diesem Hintergrund ist nichts für ein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan oder eine nachhaltige finanzielle Unterstützung durch Dritte in Afghanistan oder aus dem Ausland ersichtlich, zumal sich der Halbbruder des Klägers – soweit aus der vorgelegten Bundesamtsakte ersichtlich – selbst noch im Asylverfahren befindet.
Darüber hinaus ist nach Überzeugung des erkennenden Einzelrichters auch nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan auf das bei der Ausreise von der Familie bewohnte und in deren Eigentum stehende Haus am Rande von Kabul würde zurückgreifen können. Denn auch wenn der Kläger bei seiner Bundesamtsanhörung am 29.06.2021 erklärt hat, dass das Haus weiterhin der Familie gehöre, so ist aufgrund der beschriebenen derzeit in Afghanistan herrschenden äußerst prekären Umstände davon auszugehen, dass ein seit längerer Zeit leerstehendes Haus längst von dritten Personen bewohnt und in Besitz genommen wurde und der Kläger trotz fortbestehender Eigentumslage bei lebensnaher Betrachtung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit würde darauf zurückgreifen und sein Ansprüche würde durchsetzen können. Auch ist nicht erkennbar, dass der Kläger über sonstiges Vermögen verfügt, welches ihm im Rückkehrfalle den notwendigen Lebensunterhalt würde sichern können, insbesondere kann der Kläger auch nicht auf Rückkehrhilfen zurückgreifen (vgl. oben).
Aus der Tatsache, dass der Kläger beim Bundesamt erklärt hat, dass die Familie früher in Afghanistan sehr gut gelebt und er dort als angelernter Schneider gearbeitet hat, ergibt sich nichts Abweichendes. Denn wie ausführlich dargelegt hat sich die wirtschaftliche Situation seit der Machtübernahme der Taliban nochmals drastisch verschlechtert und der Kläger könnte überdies auch nicht auf die seinerzeit gegebene nachhaltige Unterstützung durch seine Familie zurückgreifen, sodass die damalige Situation nicht mit der jetzigen Rückkehrsituation vergleichbar ist. Wie oben dargelegt kann allein aus der beruflichen Qualifikation als (angelernter) Schneider sowie der Tatsache, dass der Kläger seinerzeit hiervon hätte leben können, aktuell kein durchgreifendes Indiz dafür hergeleitet werden, dass dieser auch weiterhin in der Lage wäre, allein durch diese Qualifikation eine Verelendung im Rückkehrfalle abzuwenden. Dies insbesondere deshalb, weil sich die Arbeitsmöglichkeiten nach der Machtübernahme durch die Taliban erheblich reduziert haben und der Kläger in Afghanistan ohne ein Netzwerk auf sich allein gestellt wäre, was die Chancen auf Arbeit weiter deutlich reduziert. Ohne dass es entscheidungserheblich hierauf ankäme (vgl. oben), ist ergänzend hinzuzufügen, dass der Kläger auch nicht über eine herausgehobene Bildung verfügt, da er nur 4 Jahre die Schule besucht hat.
Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist daher festzustellen.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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