Verwaltungsrecht

Alleinstehender Frau mit zwei Kleinkindern droht nach Rückkehr nach Nigeria eine unmenschlich Behandlung

Aktenzeichen  M 9 K 18.33840

Datum:
19.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 1980
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG BeckRS 2011, 55580). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Einer alleinstehenden Frau mit zwei Kleinkindern droht nach Rückkehr nach Nigeria eine unmenschlich Behandlung, da sie keine ausreichenden Aussichten hat, ihren Lebensunterhalt wenigstens am unteren Rand des Existenzminimums zu sichern. (Rn. 19 – 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. Mai 2017 wird in den Nrn. 4 – 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigerias vorliegen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO), da sich die Klägerin damit einverstanden erklärte und seitens der Beklagten ein entsprechendes generelles Einverständnis vorliegt. Zur Entscheidung berufen ist der Einzelrichter, die Übertragung des Ursprungsverfahrens wirkt auf das hiesige, aus dem ursprünglichen Klageverfahren, Az. M 9 K 17.40058 abgetrennte Verfahren fort.
Zu entscheiden ist, nachdem die Klägerbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung am 12. Oktober 2018 unter entsprechender Teil-Klagerücknahme die Anträge beschränkt hat, nur noch über den Anspruch der Klägerin auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 9. Mai 2017 ist insoweit rechtswidrig, als dieser Anspruch verneint wird, und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten.
Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16f.). Da die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigerias hat, bedarf es daher einer Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das (Art. 3 Var. 2 EMRK – unmenschliche Behandlung) wäre bei der Klägerin der Fall, wenn sie nach Nigeria zurückkehren müsste. Die Klägerin befürchtet, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände, aufgrund der dortigen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Damit macht die Klägerin zwar nicht geltend, dass ihr näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern sie beruft sich letztlich auf die allgemeine Lage. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen unter Berücksichtigung der individuellen Situation der Klägerin vorliegend aber eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (vgl. umfassend hierzu BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 16 – 18) und kann jedenfalls bei entsprechenden, hinzutretenden individuellen Umständen auch gegeben sein.
Dabei ist hinsichtlich der Frage, durch welchen Gefährdungsgrad derartige außergewöhnliche Fälle gekennzeichnet sein müssen, davon auszugehen (BayVGH a.a.O. Rn. 19), dass aus der Gesetzessystematik hervorgeht, dass der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog nicht herangezogen werden kann. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative ebenso wenig übertragen. Die Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (U.v.28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681) als auch des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167) macht jedoch deutlich, dass von einem sehr hohen Niveau auszugehen ist. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe, die für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots sprechen, „zwingend“ bzw. unabweisbar sind. Eine solche besondere Ausnahmesituation ist bei der Klägerin gegeben.
Dabei geht das Gericht nicht davon aus, dass bereits der Umstand, dass es sich bei der Klägerin um eine alleinstehende Frau mit zwei Kleinkindern und ohne Berufsausbildung o.ä. handelt, für die Bejahung einer besonderen Ausnahmesituation für den Rückkehrfall ausreicht. Zwar lässt sich dem Lagebericht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht -, Stand September 2017, insbesondere Seite 17) entnehmen, dass alleinstehende Frauen wie die Klägerin in Nigeria besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt sind. Jedoch begründet das allein noch keine besondere Ausnahmesituation im Vergleich zu den Lebensverhältnissen vergleichbarer Personen (vgl. hierzu z.B. VG München, U.v. 31.1.2019 – M 9 K 17.48321; U.v. 31.1.2019 – M 9 K 17.48414).
Bei der Klägerin kommen jedoch individuell mehrere Umstände hinzu, welche den Fall der Klägerin aus der Masse ähnlicher Fälle herausheben und in der Zusammenschau eine besondere Ausnahmesituation im o.g. Sinn begründen. Zunächst hat die Klägerin angegeben, lediglich die Grundschule besucht zu haben (Bl. 43 der Behördenakte). Der somit allenfalls nur grundlegende Schulbesuch der Klägerin bzw. der Umstand, dass sie allenfalls rudimentäre Kenntnisse im Lesen und Schreiben hat, ist ohne weiteres glaubhaft – die Analphabetenquote in Nigeria beträgt bei Männern 30 Prozent, bei Frauen sogar rund 50 Prozent (s. Auswärtiges Amt, Länderinformation/Nigeria/Kultur und Bildung unter www.auswäertiges-amt.de, Stand: März 2017). Vor allem ist aber für die Überzeugungsbildung des Gerichts der persönliche Eindruck von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 12. Oktober 2018 entscheidend (vgl. Sitzungsprotokoll, Seite 3, dritter und vierter Absatz von oben). Die Klägerin war in der mündlichen Verhandlung nicht in der Lage, einfachste Fragen des Gerichts sinnvoll zu beantworten, geschweige denn selbst im Zusammenhang ihre (damals noch vor der Teilrücknahme der Klage) vorgebrachten Verfolgungsgründe oder weitere persönliche Umstände im Zusammenhang vorzubringen. Vielmehr wirkte die Klägerin vollkommen desorientiert, teilnahmslos und nicht in der Lage zu einfachsten Äußerungen. Die Klägerin hat auch ansonsten keine Ausbildung o.ä., was ihr bei der Sicherung wenigstens eines Minimums an Lebensunterhalt helfen könnte, abgesehen davon, dass die Klägerin im aktuellen persönlichen Zustand dazu ohnehin nicht in der Lage wäre. Unter Zugrundelegung des geschilderten persönlichen Eindrucks des Gerichts von der der Klägerin und unter Berücksichtigung der Erkenntnisse insbesondere aus dem Lagebericht (a.a.O.) kann nicht mit einer hierfür ausreichenden Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin über die erforderlichen Mittel für die Sicherung eines minimalen Lebensunterhalts wird verfügen können. Davon, dass die Klägerin von Verwandten im Heimatland ausreichende Hilfe erwarten kann, um nicht in eine aussichtslose Situation zu geraten, ist das Gericht nicht überzeugt. Die Klägerin hat die in Nigeria geltend gemachte Vergewaltigung und weitere erlittene Gewalterfahrungen sowie auch den Umstand, dass ihr ihre Familie nicht nur nicht geholfen, sondern sie sogar dazu gedrängt hat, dem Täter zu vergeben, glaubhaft geschildert, auch die Beklagte bezweifelt die Glaubhaftigkeit der Angaben nicht. Dadurch ist der Annahme, die Klägerin könne ausreichende Unterstützung ihrer Familie erwarten, der Boden entzogen und es kann nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin von ihrer Familie / ihren Verwandten bei einer Rückkehr nach Nigeria Hilfe zu erwarten hätte. Auf sich allein gestellt hat die Klägerin jedoch unter Berücksichtigung ihrer sonstigen persönlichen Umstände, insbesondere, dass sie Mutter von eineinhalb Jahre alten Zwillingen ist, und insbesondere angesichts ihres Zustands keine ausreichenden Aussichten, dass sie ihren Lebensunterhalt wenigstens am unteren Rand des Existenzminimums sichern kann, weswegen alles in allem ein besonderer Ausnahmefall im o.g. Sinn vorliegt.
Bei einer Rückkehr nach Nigeria droht der Klägerin somit mit dafür ausreichender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung im oben genannten Sinn. Damit liegt ein Abschiebungshindernis vor, das zur Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt. Auf die Frage, ob der Klägerin ein gesundheitsbezogenes Abschiebungsverbot zuzuerkennen ist, kommt es nicht mehr an, weil es sich bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt, siehe oben Seite 4.
Die Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids wird daher insoweit aufgehoben und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für die Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigerias vorliegen. Infolge des Abschiebungsverbots wird auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids aufgehoben, da im Umkehrschluss zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG eine Abschiebungsandrohung unzulässig ist, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen und kein atypischer Fall gegeben ist, was hier nicht in Betracht kommt. Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheids ist daher rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Wegen des Wegfalls der Ausreisepflicht und der Abschiebungsandrohung kann auch der Ausspruch unter Nr. 6 des Bescheids keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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