Verwaltungsrecht

Anforderungen an eine Offensichtlichkeitsentscheidung

Aktenzeichen  M 16 S 16.33661

Datum:
15.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
GG GG Art. 16a Abs. 4 S. 1
AsylG AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 1, § 36 Abs. 4

 

Leitsatz

Für eine Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist nicht ausreichend, wenn das Bundesamt im Rahmen einer freien Beweiswürdigung zu der Überzeugung gelangt, das Vorbringen des Asylantragstellers sei unglaubhaft (VG Düsseldorf BeckRS 2016, 41607). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Oktober 2016 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt einstweiligen Rechtschutz in Bezug auf einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), mit dem ihr Asylbegehren als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.
Die am … geborene Antragstellerin ist armenische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben erstmals im Dezember 2013 in das Bundesgebiet ein. Am 7. März 2014 stellte sie bei dem Bundesamt einen Asylantrag.
Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt gemäß § 25 AsylG am 2. Juli 2014 gab die Antragstellerin im Wesentlichen an, sie sei in Aserbaidschan geboren, habe sich aber seit 1979 in Armenien aufgehalten. In Armenien habe sie noch zwei Schwestern. Sie sei Juristin und habe von 1987 bis 1993 an der staatlichen Universität in Jerewan studiert. Die letzten fünf Jahre vor ihrer Ausreise habe sie nicht mehr gearbeitet. Sie habe aus gesundheitlichen Gründen eine Behindertenrente in Höhe von ca. 80.000 Dram im Monat erhalten. Dies sei für armenische Verhältnisse gut. Ihr Bruder sei am … 1996 erschossen worden. Er sei bei den Luftstreitkräften bei der armenischen Armee gewesen. Er sei in seinem Stützpunkt in … … in der Nähe von Jerewan erschossen worden. Man habe es dann so hingestellt, als ob er Selbstmord verübt hätte. Es hätte irgendwie mit dubiosen Geschäften zu tun gehabt. Der Bruder habe an diesen Geschäften nicht teilnehmen wollen. Es seien insgesamt 13 Personen daran beteiligt gewesen. Sie habe das alles später ermittelt. Sie habe die Personen einzeln befragt, sie hätten sich in Widersprüche verwickelt. Im Hinblick auf ihre Ermittlungen sei der Beschluss geändert worden. Es habe dann nicht mehr geheißen, dass ihr Bruder Selbstmord verübt hätte, sondern dass er bei einem Unglücksfall ums Leben gekommen wäre. Sie habe aber trotzdem keine Ruhe gegeben. Dann sei es noch mal geändert worden. Es habe dann geheißen, dass er in Ausübung seines Dienstes ums Leben gekommen wäre. Ihrem Bruder sei aber ins Herz geschossen worden. Wegen dieser ganzen Ereignisse sei sie gesundheitlich angeschlagen gewesen. Sie habe sich 1997 einer Herzoperation unterziehen müssen. Sie habe dann acht Jahre dafür gekämpft, dass sie Rente für ihren Bruder erhalte. Er sei der Ernährer der Familie gewesen. Er habe die Eltern und auch sie Geschwister versorgt. Sie habe gewollt, dass sie deshalb eine Rente für ihn bekomme. Dies sei nach acht Jahren erfolgreich gewesen. Die Antragstellerin sei dann immer wieder verfolgt worden. Sie sei von der Polizei verfolgt worden. Man habe sie aus ihrer Wohnung werfen wolle. Man habe sogar gedroht, dass man sie töten würde. Man habe sie auch zwangsverheiraten wollen. Sie hätte täglich Probleme mit den armenischen Behörden gehabt. Sie sei auch ein paar Mal in gesundheitlich angeschlagenem Zustand aus dem Krankenhaus geworfen worden. So habe man z. B. aus einem fahrenden Auto gerufen, ob sie immer noch am Leben wäre, als sie auf der Straße gelaufen sei. Man habe ihre Fensterscheiben kaputt gemacht und ihre Tür eingetreten. Es seien Mitbewohner des Mietshauses gewesen. In ihrem Haus hätten Mitarbeiter der Polizei und des Verteidigungsministeriums gewohnt. Aus dem Auto heraus sei sie von einem Mitarbeiter der Luftstreitkräfte beschimpft worden. Sie habe Anzeige erstattet, es sei aber nichts dabei herausgekommen. Dies sei im Sommer 2013 gewesen. Außerdem sei der zuständige Bezirkspolizist zu ihr nach Hause gekommen und habe verlangt, dass sie schreiben solle, was er ihr diktiere. Sie habe schreiben sollen, dass sie sich einer Frau nicht mehr auf eine bestimmte Entfernung nähere. Diese Frau sei angeblich von ihr verfolgt worden. Sie habe ihm geantwortet, dass sie das keinesfalls tun würde. Die Frau sei psychisch krank. Sie hätte sich schon mehrmals selbst verletzt. Sie habe dann einen Beschwerdebrief an den Generalanwalt von Armenien geschrieben. Sie habe auch einen Beschwerdebrief an den Polizeichef geschrieben. Sie habe um einen Termin bei ihm gebeten. Er habe sie aber auch nicht empfangen. In ihrem Mietshaus gebe es auch einen Lift. Diesen benutze sie aber nicht. Es stünden diese Leute dort, sie hätte Angst, dass sie etwas abschneiden würden, wenn sie in dem Lift sei. Der Grund für ihre Ausreise sei sexuelle Belästigung gewesen. Dies sei im Jahr 2010 gewesen. Eine Person habe sie entführt und habe sie zwingen wollen, zu heiraten. Einen Monat sei sie bei diesem Mann gewesen. Es sei auch ein Bewohner ihres Mietshauses gewesen. Dann sei sie aber wieder ausgezogen und habe in ihrer eigenen Wohnung gewohnt. Anfang November 2013 habe sie Armenien schon einmal verlassen wollen. Sie sei in Moskau auf dem Flughafen gewesen und habe einfach in ein anderes Land ausreisen wollen, Israel oder die USA. Sie hätte aber kein Visum für eines dieser Länder gehabt. Als sie dann nach Armenien zurückgekehrt sei, habe sie festgestellt, dass in ihre Wohnung eingebrochen worden sei. Die Wohnungstür sei versiegelt gewesen. Es hätten dann noch Ermittlungen durchgeführt werden müssen. Sie habe aber nicht mehr in dieser Wohnung leben können. Sie hätte sich dann bis zur Ausreise in einer russischorthodoxen Kirche in Jerewan aufgehalten. Zu ihren Geschwistern habe sie nicht gehen können. Diese habe sie immer nur heimlich besucht, damit diese keine Schwierigkeiten mit der Polizei bekämen. Bei einer Rückkehr nach Armenien befürchte sie, dass sie umgebracht werde. Im Folgenden reichte die Antragstellerin dem Bundesamt weitere Schreiben und Unterlagen nach.
Mit Bescheid vom 12. Oktober 2016, zugestellt am 14. Oktober 2016, lehnte das Bundesamt sowohl den Antrag auf Asylanerkennung (Nr. 2 des Bescheids) als auch den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids) als offensichtlich unbegründet ab. Ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Nr. 3 des Bescheids). Das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG wurde verneint (Nr. 4 des Bescheids). Die Antragstellerin wurde zur Ausreise aufgefordert, die Abschiebung wurde bei nicht fristgerechter Ausreise angedroht (Nr. 5 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6 des Bescheids).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen offensichtlich nicht vor (§ 30 Abs. 1 AsylG). Den Ausführungen der Antragstellerin seien keine Anhaltspunkte für eine persönliche flüchtlingsrelevante Verfolgung zu entnehmen. Sie habe auch ihre begründete Furcht vor einem ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG nicht glaubhaft gemacht. Ihr Vortrag erwecke den Eindruck, dass sie tatsächliche Lebensereignisse heranziehe, diese überzogen und wenig glaubhaft darstelle und versuche, damit Gründe für ihr Asylbegehren zu konstruieren. Eine Verfolgung durch die armenischen Behörden aufgrund ihrer Ermittlungen zum Tod ihres Bruders im Jahr 1998 habe sie nicht glaubhaft darstellen können. Von einer staatlichen Verfolgung aufgrund ihres Engagements zum Tod ihres Bruders könne keine Rede sein. Das Gutachten sei umgeschrieben worden und sie habe eine Rente erstreiten können. Angesichts der nunmehr lang zurückliegenden Ereignisse sei es außerdem nicht indiziert, diesem Vorbringen zum heutigen Tage eine Asylrelevanz zuzuschreiben. Auch ihr weiteres Vorbringen, auch wegen einer sexuellen Belästigung im Jahr 2010 im Jahr 2013 Armenien verlassen zu haben, könne die Gefahr eines ernsthaften Schadens nicht begründen. Ihre diesbezüglichen Ausführungen entsprächen nicht den gebotenen Kriterien der Glaubhaftigkeit. Es sei nicht ersichtlich, dass sie gegen ihren Willen festgehalten worden sei oder sie in sonstiger Weise gefährdet gewesen sei. Im Übrigen sei es ihr nicht gelungen, eine tatsächliche Gefährdung ihres Lebens in Armenien glaubhaft darzulegen. Ihre diesbezüglichen Darstellungen seien unsubstantiiert und in weiten Teilen lebensfern. Vielmehr entstehe der Eindruck, dass sie sich in ihre Vorstellungen, verfolgt und bedroht zu sein, hineinsteigere. Jedoch sei bei objektiver Betrachtung der Darstellungen eine tatsächliche Gefährdung nicht erkennbar. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Armenien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Antragstellerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Es könne davon ausgegangen werden, dass sie in der Lage wäre, sich in Armenien eine Existenzgrundlage zu schaffen. Es drohe der Antragstellerin auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Soweit die Antragstellerin vorgetragen habe, unter gesundheitlichen Problemen zu leiden und hierzu entsprechende Atteste vorgelegt habe, sei davon auszugehen, dass eine möglicherweise erforderliche medizinische Behandlung in Armenien für sie zugänglich und auch finanzierbar wäre. Außerdem habe sie auch nach Aufforderung keine aktuellen ärztlichen Stellungnahmen zu ihrem Gesundheitszustand vorgelegt.
Gegen diesen Bescheid erhob der Bevollmächtigte der Antragstellerin am 21. Oktober 2016 Klage mit den Anträgen, den Bescheid aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Asylverfahren fortzuführen, hilfsweise der Antragstellerin den Status als Asylbewerberin, den Flüchtlingsstatus, hilfsweise subsidiären Schutzstatus oder ein Abschiebungsverbot zuzuerkennen.
Zudem beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die in dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.10.2016 enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, die Antragstellerin habe versucht, den mysteriösen Tod des Bruders aufzuklären und entsprechende Ersatzansprüche für die Familie auf dem Gerichtsweg zu erwirken. Sie habe zwar obsiegt, aber von da an sei sie von den Behörden, der Polizei und anderen unbekannten Personen verfolgt und drangsaliert worden. Man habe sie aus der Wohnung vertreiben wollen, habe ihr Eigentum zerstört, habe sie nicht ausreisen lassen und sie sei von der Polizei verfolgt worden, dass sie Schreiben verfassen sollte, in denen sie sich selbst bestimmter Gegebenheiten und Handlungen bezichtige. Aufgrund dieser Nachstellungen und der Angst um die Familie sei sie herzkrank geworden und habe operiert werden müssen. Sie sei dann nach Deutschland geflüchtet, um dem Regime und den Nachstellungen zu entkommen. Sie habe ihre Angaben mit den entsprechenden Unterlagen bestätigt. Sie habe sich nach ihrer Ankunft unverzüglich in stationäre Behandlung begeben müssen und sei dort behandelt worden. Schon zuvor habe die Antragstellerin erfahren, dass die erste Herzoperation nicht ausreichend sei und Folgeoperationen erforderlich seien. Sie habe immer wieder eingewandt, sie müsse ärztlich, vor allem kardiologisch behandelt werden. Sie benötige weitere Herzoperationen, damit sie weiter leben könne. Auch fordere sie die engmaschige Behandlung durch einen Kardiologen ein, die ihr aber aufgrund ihres Status nicht gewährt worden sei. Erst jetzt habe sie einen Behandlungstermin bei einem Kardiologen erhalten können, um die Situation zu klären und sich nachhaltig behandeln zu lassen. In Bezug auf die Erkrankung der Antragstellerin sei der Sachverhalt durch das Bundesamt nicht ausreichend ermittelt worden. Dies gelte auch zu den persönlichen Verhältnissen der Antragstellerin. Das Bundesamt stütze seine Entscheidung auf eine Anhörung von 2014. Allein aufgrund der medizinischen Einwände der Antragstellerin hätte sie nochmals angehört werden müssen. Der Sachverhalt sei nicht einmal annähernd aufgeklärt und eine völlig veraltete und unzutreffende Sichtweise der Behörde sei als Entscheidungsgrundlage verwendet worden. Die aufschiebende Wirkung der Klage sei aufgrund der erheblichen Verfahrensfehler erforderlich. Es lägen aber auch in der Bewertung der Fluchtgründe der Antragstellerin erhebliche Defizite vor. Die Schilderung der Antragstellerin sei nachvollziehbar und stringent logisch. Es sei unwiderlegt, dass sie Erfolge bei den Prozessen gegen den armenischen Staat gehabt habe. Dies habe sie mit Nachstellungen und Schikanen durch die Behörden teuer bezahlen müssen. Die Verfolgung habe erst nach ihrem Erfolg eingesetzt, was das Bundesamt völlig verkenne. Die Antragstellerin schildere eindringlich den Druck, der dann gegen sie als Person erfolgt sei. Es bestehe zum einen eine nachhaltige Verfolgungssituation, die sich wieder erneuere, wenn die Antragstellerin zurückkehren müsste, zum anderen die gesundheitliche Gefährdung der Antragstellerin, die aufgrund der bestehenden Herzprobleme solchen Anfeindungen nicht gewachsen sei und alsbald wieder massiv erkranken könne. Auch aufgrund der Notwendigkeit der Operation und Behandlung am Herzen sei der Antragstellerin subsidiärer Schutz zu gewähren, da ähnliche Behandlungsarten in Armenien für die Antragstellerin nicht erreichbar seien. Die Antragstellerin habe vor zwei Jahren einen afghanischen Staatsangehörigen nach kirchlichem Recht geheiratet. Auch dies sei nicht berücksichtigt worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Klageverfahren M 16 K 16.33660 sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung hat Erfolg.
Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen ist zulässig, insbesondere wurde die Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG gewahrt.
Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg, da ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen (vgl. Art. 16a Abs. 4 GG, § 36 Abs. 4 AsylG).
Gemäß Art. 16a GG, § 36 Abs. 4 AsylG kann das Verwaltungsgericht auf Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die Aussetzung der Abschiebung anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Im Rahmen der Entscheidung über einen solchen Antrag ist im Hinblick auf den durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz auch zu prüfen, ob das Bundesamt zu Recht davon ausgegangen ist, dass der geltend gemachte Anspruch auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung internationalen Schutzes offensichtlich nicht besteht – wobei eine nur summarische Prüfung nicht ausreicht – und ob diese Ablehnung weiterhin Bestand haben kann (vgl. BVerfG, B.v. 2.5.1984 – 2 BvR 1413/83 – BVerfGE 67, 43 ff.). Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag dann, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a GG) und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylG).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegen ernstliche Zweifel i. S.v. Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff.). Dies ist nach ständiger Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen, und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung sich die Abweisung geradezu aufdrängt. Dies lässt sich nicht abstrakt bestimmen, sondern bedarf der jeweiligen Beurteilung im Einzelfall (vgl. z. B. BVerfG, B.v. 27.2.1990 – 2 BvR 186/89 – juris Rn. 14).
Das verfassungsrechtlich gewährleistete vorläufige Bleiberecht tritt nur dort zurück, wo ein eindeutig aussichtsloser Asylantrag vorliegt. Danach darf das Bundesamt nur solche Asylanträge als offensichtlich unbegründet ablehnen, die sich ihm bei richtiger Rechtsanwendung als eindeutig aussichtslos darstellen. Ob es im Einzelfall so liegt, hat das Bundesamt durch umfassende Würdigung der ihm vorgetragenen oder sonst erkennbaren maßgeblichen Umstände unter Ausschöpfung aller ihm vorliegenden oder zugänglichen Erkenntnismittel zu entscheiden. Das dabei erforderliche Maß an Richtigkeitsgewissheit kann jedenfalls nicht hinter den Anforderungen zurückbleiben, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die zum vollständigen Rechtsmittelausschluss führende Abweisung einer asylrechtlichen Klage als offensichtlich unbegründet zu stellen sind. Dies ist im Hinblick auf die einschneidenden Folgen, die die Entscheidung für die weitere Durchführung des noch nicht unanfechtbar abgeschlossenen Asylverfahrens hat, von Verfassungs wegen geboten. Die Entscheidung des Bundesamts muss in ihrer Begründung klar erkennen lassen, weshalb der Antrag nicht als (schlicht) unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist (vgl. BVerfG, B.v. 2.5.1984 – 2 BvR 1413/83 – juris Rn. 26 f.).
Angesichts der erheblichen Bedeutung der in Frage stehenden Rechtsgüter und einer durch die Aufenthaltsbeendigung vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens bestehenden Gefahr irreparabler Folgen bis zum vollständigen Rechtsverlust muss nach den allgemein gültigen Maßstäben der Antrag dann Erfolg haben, wenn durch den Antragsteller substantiierte Anhaltspunkte für eine mögliche Rechtswidrigkeit der ablehnenden Entscheidung des Bundesamts vorgetragen wurden, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend verlässlich ausgeräumt werden können und demzufolge eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts nicht möglich ist (vgl. Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand Oktober 2016, § 36 Rn. 91).
Hiervon ausgehend ist festzustellen, dass die Offensichtlichkeitsentscheidung nicht hätte ergehen dürfen, so dass auch die Abschiebungsandrohung nicht mit einer einwöchigen Ausreisefrist nach § 36 Abs. 1 AsylG und damit auch nicht mit einer sofortigen Vollziehbarkeit hätte verbunden werden dürfen.
Das Bundesamt hat seine Offensichtlichkeitsentscheidung vorliegend ausschließlich auf § 30 Abs. 1 AsylG gestützt und zunächst ausgeführt, dass den Ausführungen der Antragstellerin keine Anhaltspunkte für eine persönlich flüchtlingsrelevante Verfolgung zu entnehmen seien. In Bezug auf den subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG wurde die Offensichtlichkeitsentscheidung allein darauf gestützt, dass die Antragstellerin ihre begründete Furcht vor einem ernsthafte Schaden nicht glaubhaft gemacht habe. Auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wurde nicht Bezug genommen.
Ein eindeutig aussichtsloses Asylbegehren, das den Offensichtlichkeitsausspruch rechtfertigt, lässt sich vorliegend jedoch nicht feststellen. Allein auf eine fehlende Glaubhaftmachung kann die Offensichtlichkeitsentscheidung hier nicht gestützt werden. Auch liegt bereits kein in tatsächlicher Hinsicht zweifelsfreier Sachverhalt vor.
Das Sachvorbringen kann nicht insgesamt als unglaubwürdig angesehen werden. Auch wenn Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Antragstellerin bezüglich der Art und Intensität der geschilderten Verfolgungshandlungen bestehen mögen, hat sie einen Sachverhalt dargelegt – die Aufklärung der wahren Ursache des Todes ihres Bruders, einem Armeeangehörigen -, der als Anknüpfungspunkt für Nachstellungen plausibel erscheint. Die Richtigkeit dieses Sachverhalts wird auch durch das Bundesamt nicht in Frage gestellt. Soweit hierzu ausgeführt wird, es könne von einer staatlichen Verfolgung aufgrund ihres Engagements zum Tod ihres Bruders keine Rede sein, weil das Gutachten zum Tod des Bruders tatsächlich umgeschrieben worden sei und es ihr gelungen sei, eine Rente für die Familie zu erstreiten, berücksichtigt dies nicht, dass die Antragstellerin (auch) Nachstellungen durch Armeeangehörige geltend macht sowie den in der Klagebegründung dargestellten Einwand, erst diese Umstände hätten Verfolgungsmaßnahmen ausgelöst. Legt man die von den Glaubwürdigkeitszweifeln des Bundesamts unberührten Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht zugrunde, hat die Antragstellerin einen Sachverhalt glaubhaft gemacht, dem eine Asylrelevanz zumindest nicht ohne weiteres abgesprochen werden kann (vgl. BVerfG, B.v. 27.2.1990 – 2 BvR 186/89 – juris Rn. 16, Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 30 Rn. 23).
Auch in Bezug auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, der vom Bundesamt allerdings nicht herangezogen wird, genügt es nicht, wenn das Bundesamt im Rahmen einer freien Beweiswürdigung zu der Überzeugung gelangt, das Vorbringen des Antragstellers sei unglaubhaft (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 7.1.2016 – 10 L 3781/15.A – juris Rn. 16).
Zudem sind besondere Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zustellen. Der Zweck des Sonderverfahrens erfordert es dass das Bundesamt seine Entscheidung an dem gebotenen vorläufigen Bleiberecht ausrichtet. Dieses dient dem Ziel, einen möglicherweise Verfolgten einstweilen vor der behaupteten Verfolgung zu schützen. Er soll sich vorläufig im Bundesgebiet und damit in Sicherheit vor dem befürchteten Zugriff des angeblichen Verfolgerstaats aufhalten dürfen. Deshalb hat die Behörde sämtliches schriftliches und mündliches Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und auch konkret in der Entscheidung zu würdigen (Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 30 Rn. 29). Auf das nach der persönlichen Anhörung eingereichte weitere schriftliche Vorbringen der Antragstellerin zu ihrem Verfolgungsschicksal geht der streitgegenständliche Bescheid jedoch nicht ein.
Inwieweit die Behauptungen der Antragstellerin zum Verfolgungsgeschehen tatsächlich zur Überzeugung des Gerichts zutreffen und ob auf deren Grundlage ein Anspruch auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes bestehen, muss im Hauptsacheverfahren geklärt werden.
Das Gericht hat zwar im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Einschätzung des Bundesamts, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, zum Gegenstand der Prüfung zu machen. Dies ist zwar der gesetzlichen Regelung des § 36 AsylG nicht ausdrücklich zu entnehmen, jedoch gebieten die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) die diesbezügliche Berücksichtigung auch im Verfahren nach § 36 AsylG (vgl. zur Rechtslage nach – dem Abschiebungsverbot gemäß § 60 AufentG entsprechenden – § 51 Ausländergesetz 1990: BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166/221). Da dem Antrag jedoch bereits aus anderen Gründen stattzugeben war, ist hier der Frage nicht weiter nachzugehen, ob im Fall der Antragstellerin wegen ihrer gesundheitlichen Probleme ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot vorliegt oder vorliegen könnte. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass das Bundesamt die Antragstellerin nach Aktenlage mit Schreiben vom 28. Juli 2016 zur Erforschung des Sachverhalts gebeten hatte, eine aussagekräftiges Attest vorzulegen, in dem die hierzu einzeln angeführten Fragestellungen beantwortet würden. Ein solches Attest hat die Antragstellerin bislang jedoch nicht vorgelegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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