Verwaltungsrecht

Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Aufnahmeeinrichtung, Antragstellers, Behördenakten, Antragsgegner, Summarische Prüfung, Rechtsschutzbedürfnis, Widerspruchsverfahren, Aufschiebende Wirkung, Einstweilige Anordnung, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Begünstigter Personenkreis, Sach- und Rechtslage, Posttraumatische Belastungsstörung, Humanitäre Gründe, Verwaltungsgerichte, Haushaltsgemeinschaft, Stellungnahmen, Maßgeblicher Zeitpunkt, Besuchserlaubnis

Aktenzeichen  W 2 S 21.30146

Datum:
25.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 3526
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 22 Abs. 1 S. 2 Alt. 2
AufenthG analog § 15a

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Weiterleitungsanordnung der Antragsgegnerin vom 21. November 2020 wird abgelehnt.
II. Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 zu verpflichten, die Klägerin vorläufig nach Hamburg umzuverteilen wird vom Verfahren abgetrennt und unter Az. W 2 E 21.30197 fortgesetzt.
III. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Weiterleitungsanordnung vom 21. November 2020 wird abgelehnt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Anordnung der Antragsgegnerin vom 21. November 2020, sich unverzüglich bei der Aufnahmeeinrichtung Anker-Einrichtung Unterfranken zu melden (Weiterleitungsanordnung).
1. Die Antragstellerin, eine volljährige ivorische Staatsangehörige reiste nach eigenen Angaben im Zeitraum Februar bis April 2020 über Frankreich in die Bundesrepublik Deutschland ein. In den Folgemonaten lebte sie in Hamburg bei ihrem seit 1998 in Deutschland lebenden Vater.
Am 20. November 2020 wurde sie bei der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung der Freien und Hansestadt Hamburg unter Vorlage eines anwaltlichen Schreibens vom 12. November 2020 vorstellig und äußerte ein Asylgesuch.
Zugleich legte sie die psychologische Stellungnahme einer Diplom-Psychologin vom 30. Oktober 2020 vor: Die Antragstellerin befinde sich seit 6. Juli 2020 in deren psychotherapeutischer Behandlung. Da sie nicht krankenversichert sei, sei eine kontinuierliche Psychotherapie noch nicht möglich. Nach den ersten Eindrücken liege der Verdacht einer posttraumatischen Belastungsstörung nahe (ICD 10, F43.1) sowie eine Depression mit Angstsymptomatik (ICD 10, F41.2). Die Antragstellerin brauche dringend die Nähe ihrer Familie, um einen Weg aus der Krise zu finden. Damit sich ihre Krise nicht weiter chronifiziere, sei es wichtig, dass sie weiterhin bei ihrer Familie leben könne oder zumindest in unmittelbarere Nähe.
Mit Weiterleitungsanordnung vom 21. November 2020, der Antragstellerin am gleichen Tag ohne Rechtsbehelfsbelehrung:ausgehändigt, wurde die Antragstellerin der Aufnahmeeinrichtung Anker-Einrichtung Unterfranken zugewiesen.
2. Dagegen ließ die Antragstellerin am 12. Februar 2021 Klage erheben und ließ zugleich im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes beantragen, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Weiterleitungsanordnung vom 21. November 2020 anzuordnen.
Zur Begründung ließ sie im Wesentlichen vortragen:
Sie habe nach ihrer Einreise bereits mehrere Monate bei ihrem Vater in Hamburg gelebt. Sie sei aufgrund schwersten, auch sexuellen Misshandlungen traumatisiert und auf den Beistand ihres Vaters angewiesen. Sie sei der Zuweisungsentscheidung zunächst gefolgt. Am 25. November 2020 sei es in der Aufnahmeeinrichtung zu einem schwerwiegenden sexuellen Übergriff gegen die Antragstellerin gekommen, in dessen Folge die Antragstellerin einen psychischen Kollaps erlitten und stationär habe behandelt werden müssen. Sowohl die Gewaltschutzbeauftragten der Aufnahmeeinrichtung sowie die behandelnden Fachärzte würden eine Rückverteilung nach Hamburg befürworten. Dort lebe auch die Mutter der Antragstellerin und ihr Zwillingsbruder, die ebenso wie der Vater eingebürgert seien. Ein Antrag auf Umverteilung sei mit Bescheid vom 25. Januar 2021 abgelehnt worden (Gegenstand des mit Klage vom 12. Februar 2021 erhobenen Hilfsantrags).
Die Klage gegen die Weiterleitungsanordnung sei zulässig. Es handele sich um einen Verwaltungsakt, für den es kein Widerspruchsverfahren geben. Da keine Rechtsbehelfsbelehrung:beigefügt gewesen sei, gelte eine einjährige Klagefrist. Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Weiterleitungsentscheidung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 AsylG sei § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG analog anzuwenden. Auf die Rechtsprechung des VG Bremen vom 1. Juli 2020 (Az. 4 K 381/20) und des VG Trier vom 18. März 2020 (11 L 769/20TR) werde Bezug genommen. Jedenfalls unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten sei von einer Ermessensreduktion auszugehen, wenn Gründe vorliegen, die ein vergleichbares Gewicht wie die Erhaltung einer Haushaltsgemeinschaft von Ehegatten und minderjährigen Kindern hätten. Im Hinblick auf die Verletzlichkeit der Antragstellerin lägen derartige Umstände vor. Dem vorläufigen Umzug der Antragstellerin nach Hamburg stünden keine öffentlichen Interessen entgegen. Die Anhörung im Asylverfahren sei bereits durchgeführt. In Hamburg könne die Antragstellerin bei ihrer Familie wohnen. Dies würde zu einer Entlastung hinsichtlich der öffentlichen Kosten führen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 12. Februar 2021 Bezug genommen.
Die Antragsgegnerin beantragte, den Antrag abzulehnen.
Es bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis. Da nicht ausreichend dargestellt werde, inwieweit der Vater die Antragstellerin, die erst nach Eintritt der Volljährigkeit eingereist sei, der Unterstützung des Vaters bedürfe. Es sei zunächst eine innerbayerische Verteilung anzustreben, damit die Antragstellerin nicht ins betreffende Ankerzentrum zurückkehren müsse.
Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren der Hauptsache (W 2 K 21.30145) sowie auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakte der Antragsgegnerin, fortgeschrieben durch die Zentrale Ausländerbehörde Unterfranken, Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Weiterleitungsanordnung vom 21. November 2020 ist zulässig, jedoch unbegründet.
1. Da es sich bei der Weiterleitungsanordnung gem. § 22 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2, Abs. 3 AsylG als einer Regelung mit unmittelbarer Außenwirkung um einen Verwaltungsakt handelt, ist die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage statthaft. Diese hat gem. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung, so dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft ist.
Da die Klage gegen die Weiterleitungsanordnung gem. § 58 Abs. 2 VwGO auch fristgerecht erhoben wurde, fehlt dem Antrag auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis.
2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Maßgeblich orientiert es sich dabei an den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, soweit diese bei summarischer Prüfung bereits hinreichend zuverlässig abzusehen sind.
Bei einer solchen summarischen Prüfung sind die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Weiterleitungsanordnung der Antragsgegnerin vom 21. November 2020 als gering einzustufen.
Die Klage ist zulässig, jedoch voraussichtlich unbegründet.
Die in der Hauptsache angefochtene Weiterleitungsanordnung dürfte sich zum gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtmäßig erweisen.
Zweifel an der formellen, auf der Grundlage von § 22 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2, Abs. 3 Satz 1 AsylG erlassenen Weiterleitung sind weder vorgetragen, noch ersichtlich. Insbesondere wurde die Antragstellerin gem. §§ 22 Abs. 3 Satz 4, 20 Abs. 1 Satz 4 AsylG ordnungsgemäß belehrt. Unabhängig davon, ob eine förmliche Anhörung ggf. analog zu § 50 Abs. 4 Satz 4 AsylG entbehrlich wäre, wurde die Antragstellerin zu ihren Belangen im Hinblick auf die Weiterleitung tatsächlich angehört. Laut Aktenvermerkt vom 21. November 2020 wurden das Anwaltsschreiben vom 12. November 2020 und die psychologische Stellungnahme vom 30. Oktober 2020 bei der Weiterleitungsanordnung berücksichtigt. Sie wurde auf die Möglichkeit eines späteren Umverteilungsantrags hingewiesen.
Die Weiterleitungsanordnung erweist sich bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage auch als materiell rechtmäßig erweisen.
Dabei bestehen keine Zweifel, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Weiterleitung der Antragstellerin als asylsuchende ivorische Staatsangehörige in die Aufnahmeeinrichtung Anker-Einrichtung Unterfranken gemäß § 46 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 und 3 AsylG entsprechend den Aufnahmequoten des § 45 AsylG vorliegen.
Streitig ist hier allein, ob die Antragstellerin aufgrund ihrer persönlichen Situation ausnahmsweise einen Anspruch darauf hat, abweichend von § 55 Abs. 1 Satz 2 AsylG, in Hamburg verbleiben zu dürfen. Gemäß 55 Abs. 1 Satz 2 AsylG hat ein Ausländer, der um Asyl nachsucht, keinen Anspruch darauf, sich in einem bestimmten Land oder an einem bestimmten Ort aufzuhalten.
Mit den Regelungen über die Verteilung von Asylbewerbern trägt das Gesetz dem regelmäßig besonders gewichtigen öffentlichen Interesse Rechnung, die Lasten, die mit der Aufnahme von Asylbewerbern etwa hinsichtlich Unterbringung, Verpflegung und Überwachung verbunden sind, gleichmäßig auf die Bundesländer und deren Landkreise und Kommunen zu verteilen. Die persönlichen Verhältnisse des Asylbewerbers, insbesondere familiäre Binden an im Bundesgebiet lebende Personen sollen dabei rechtlich keine Rolle spielen (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht 13. Auf. 2020, AsylG § 49, Rn. 5). Reisen Ehegatten oder Eltern und ihre minderjährigen ledigen Kinder sowie andere i.S.d. § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG privilegierte Angehörige zusammen ein und melden sie sich bei der Aufnahmeeinrichtung, sind sie gemäß § 46 Abs. 3 Satz 2 AsylG als Gruppe zu melden und bei der weiteren Bearbeitung als solche zu behandeln. Lebt bereits ein Angehöriger im Bundesgebiet oder reisen die einzelnen Angehörigen zu verschiedenen Zeitpunkten ein, ist diesem Umstand gemäß § 50 Abs. 4 Satz 5 i.V.m. § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG bzw. gem. § 51 Abs. 1 i.V.m. § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG erst nach Beendigung der Wohnverpflichtung in der Aufnahmeeinrichtung Rechnung zu tragen (vgl. Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Aufl. 2020, § 9 Asylverfahren Rn. 12 m.w.N.).
In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird – entgegen dieser gesetzlich intendierten zeitlichen Abstufung – teilweise vertreten, dass analog zu § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylG bzw. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG bereits bei der Weiterleitungsanordnung gem. § 22 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2, Abs. 3 Satz 1 AsylG darüber hinaus familiäre Beziehungen i.S.v. § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG und sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht zu berücksichtigen sind (vgl. z.B. VG Bremen, GB.v. 1.7.2020 – 4 K 381/20; VG Trier, B.v. 18.3.2020 – 11 L 769/20.TR; a.A.: OVG Bremen, U.v. 9.9.2020 – 2 B 243/20; VG Münster, B.v. 22.9.2017 – 3 L 1563/17, wohl auch: VG Trier, U.v. 5.3.2020 – 10 K 5062/19.TR – jeweils juris).
Ob bei Erlass der Weiterleitungsanordnung gem. § 22 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2, Abs. 3 Satz 1 AsylG tatsächlich Raum für eine Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Asylbewerbers im Wege der analogen Anwendung von § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG besteht oder diese in besonderen Konstellationen sogar verfassungsrechtlich geboten ist (vgl VG Bremen, GB v. 1.7.2020 – 4 K 281/20 – juris, Rn. 19) kann vorliegend offenbleiben. Denn selbst wenn man eine solche Analogie bzw. verfassungskonforme Berücksichtigung grundsätzlich für geboten erachtet, muss dies auf atypische Ausnahmefälle beschränkt bleiben, die sich deutlich von der Mehrzahl der in Deutschland Asylsuchenden abhebt. Andernfalls wäre die Intention einer gleichmäßigen Verteilung gem. 45f. AsylG und der Grundsatz des § 55 Abs. 1 Satz 2 AsylG in der Praxis nicht zu verwirklichen.
Nach diesen Maßgaben liegt bei der Antragstellerin – jedenfalls bei summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage – kein Ausnahmefall vor, der im Rahmen einer solchen Analogie zu berücksichtigen wäre. Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass bei ihr humanitäre Gründe vorliegen, die in ihrer Gewichtung dem Schutz einer Haushaltsgemeinschaft aus Ehegatten und/oder Eltern und minderjährigen Kindern oder eines anderen gemäß § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG begünstigten Personenkreises gleichkommen.
Selbst wenn man das in ihren ivorischen Ausweispapieren bescheinigte Geburtsdatum „19. Dezember 1999“ zugrunde legen würde – das angesichts der unzuverlässigen Beurkundungspraxis in der Elfenbeinküste (vgl. dazu: AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Côte d‘ Ivoire v. 9.10.2020, S. 21), den Einlassung des Vaters der Klägerin im vorgelagerten Visumverfahren (vgl. Gesprächsprotokoll v. 11.1.2012, Behördenakte, S. 271) dem ebenfalls im Rahmen des Visumsverfahrens eingeholten Altersfeststellungsgutachten vom 16. April 2012 (vgl. Behördenakte, S. 297ff.) sowie dem laut Auszug aus der VIS-Datei vom 23. Dezember 2020 mit „10.12.1995“ abweichend registrierten Geburtsdatum (vgl. Behördenakte, Bl. 387f.) fraglich erscheint und in der Behördenakte mittlerweile entsprechen korrigiert wurde (vgl. Behördenakte, Bl. 398) – handelt es sich bei der Antragstellerin in jedem Fall um eine volljährige Erwachsene, die gerade nicht (mehr) in den von § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylG bzw. § 51 Abs. 1 AsylG jeweils i.V.m. § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG begünstigten Personenkreis fällt. Allein die familiäre Bindung der Antragstellerin kann mithin eine Ausnahme vom Verteilungsschlüssel gem. §§ 45f. AsylG nicht rechtfertigen.
Daran kann auch der Vortrag nicht ändern, die Antragstellerin würde in Hamburg bei ihrer Familie wohnen, was zu einer Entlastung hinsichtlich der öffentlichen Kosten führe. Dem steht schon in der Sache ihre aktuell noch bestehende Verpflichtung zum Aufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung gemäß § 47 AsylG entgegen. Im Übrigen wäre auch rechtsystematisch für eine solche Überlegung im Rahmen einer analogen Anwendung von § 15 Abs. 1 Satz 6 AsylG kein Raum. Es kommt mithin alleine auf das Gewicht der humanitären Gründe an, die für einen Verbleib der Antragstellerin in Hamburg sprechen. Dabei sind auch bei der summarischen Prüfung der Weiterleitungsanordnung vom 21. November 2020 alle Umstände, Stellungnahmen und Atteste zu berücksichtigen, die nach diesem Zeitpunkt datieren. Denn gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG ist auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen.
Soweit in der psychologischen Stellungnahme vom 30. Oktober 2020 ein Verbleib der Antragstellerin in Hamburg wegen der dort angedachten Psychotherapie für notwendig erachtet wird, ist festzuhalten, dass laut der Stellungnahme eine kontinuierliche Psychotherapie bislang noch nicht stattgefunden hat, so dass der Umzug nach Unterfranken nicht zum Abbruch einer bereits begonnenen Therapie geführt hat (zum Aspekt des Behandlungsabbruchs vgl. VG München, U.v. 10.2.2015 – M 24 K 14.5502 – BeckRS 2015,44707). Weder aus der Stellungnahme vom 30. Oktober 2020 noch aus der Angabe weiterer in Hamburg befindlicher Anlaufstellen im vorläufigen Ambulanzbrief vom 20. Dezember 2020 lässt sich schließen, dass die Antragstellerin auf ein Therapieangebot angewiesen wäre, dass in dieser Form nur in Hamburg verfügbar wäre bzw. in der Aufnahmeeinrichtung Anker-Einrichtung in Unterfranken oder bei einer landesinternen Umverteilung innerhalb Bayerns nicht gleichwertig ortsnah möglich wäre. Im Gegenteil, dass eine adäquate medizinische Betreuung der Antragstellerin auch dort ortsnah gewährleistet ist, zeigen schon die stationäre Betreuung der Antragstellerin im Leopoldina Krankenhaus in Schweinfurt vom 29. November 2020 bis 30. November 2020 sowie die Anbindung an die nervenärztliche Konsiliarärztin in der Einrichtung am 15. Dezember 2020.
Die Einlassung in der fachärztlichen Stellungnahme vom 15. Dezember 2020, medizinische Gründe würden die Familienzusammenführung der Antragstellerin in Hamburg mit ihren Eltern erforderlich machen, werden dort jedoch nicht einmal ansatzweise anhand einer fachlich qualifizierten und methodisch nachvollziehbaren Diagnose plausibilisiert. Eine Differenzierung zwischen Anamnese, Diagnose, Medikation und Therapievorschlage sind der Stellungnahme nicht zu entnehmen. Sie bezieht sich in ihren Folgerungen vielmehr auf die Ausführungen in der psychologischen Stellungnahme vom 30. Oktober 2020. Als eigenständiger psychiatrischer Befund wird dort lediglich aufgeführt „sehr abgemagert, scheue Mimik, orientiert, differenziert, labilisiert, instabil, ständig unter Angst, nächtliche Flashbacks mit lautem Schreien, Scham. Und Schuldgedanken“. Eine eigenständige Diagnose ist dem nicht zu entnehmen bzw. war nach der einmaligen Konsultation am 15. Dezember 2020 seriös wohl auch gar nicht feststellbar. Stellt man weiterhin in Rechnung, dass der anwaltliche Vertreter der Antragstellerin bereits am 7. Dezember 2020 wegen eines Antrags die Antragstellerin auf Umverteilung nach Hamburg bei der Antragstellerin vorstellig geworden war, ist anhand der fachärztlichen Stellungnahme vom 15. Dezember 2020 eine Differenzierung zwischen diesem – menschlich nachvollziehbaren – Anliegen der Antragstellerin und der bescheinigten „medizinischen“ Erforderlichkeit einer Rückkehr nach Hamburg nicht möglich. Zumal der Stellungnahme vom 15. Dezember 2020 wohl die Vorstellung zugrunde liegt, die Antragstellerin könne – entgegen der Verpflichtung zur Wohnung in einer Aufnahmeeinrichtung gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylG – zu ihrer Familie nach Hamburg ziehen.
Ähnliches gilt für die psychologische Stellungnahme vom 30. Oktober 2020, die anhand der „ersten Eindrücke“ als Diagnose, den Verdacht auf „posttraumatische Belastungsstörung (ICD 10, F43.1)“ und eine „Depression mit Angstsymptomatik (ICD 10, F41.2)“ aufwirft und es „aus psychologischer Sicht“ als „wichtig“ einstuft, dass die Antragstellerin weiterhin bei ihrer Familie oder zumindest in unmittelbarer Nähe leben kann, damit die „Krise“ der Antragstellerin sich nicht weiter chronifiziert. Hier wird zwar ausdrücklich auch die rechtlich vorgesehene Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung in Hamburg – getrennt von der Familie – befürwortet, jedoch ist auch hier nicht die medizinische Indikation einer solchen Verteilung plausibel gemacht. Dies scheitert schon grundlegend daran, dass die Empfehlung auf einer bloßen „Verdachtsdiagnose“ beruht und wiederum nicht hinreichend deutlich zwischen dem subjektiven Wunsch der Antragstellerin und der objektiven medizinischen Notwendigkeit einer Verteilung nach Hamburg differenziert. Für letztes wird lediglich aufgeführt, dass es ohne therapeutische oder familiäre Hilfe viel schwerer wäre, Zusammenbrüche im Fall von Flashbacks aufzufangen. Daraus lässt sich jedoch weder etwas über Anzahl, Dauer und Schwere dieser Zusammenbrüche herleiten, noch dass diesen nicht auch im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Betreuung außerhalb Hamburgs angemessen begegnet werden könne.
Auch in Zusammenschau mit den weiteren ärztlichen Attesten und Stellungnahmen erhalten die familiären Bindungen der Antragstellerin nach Hamburg kein solches Gewicht, dass sie als sonstige humanitären Gründe i.S. § 15a Abs. 1 Satz 6 AsylG bzw. § 50 Abs. 4 Satz 4 oder § 51 Abs. 1 AsylG das öffentliche Interesse an einer gleichmäßigen Lastenverteilung bezüglich der Unterbringung, Verpflegung und Versorgung von Asylsuchenden ausnahmweise überwiegen würden. Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass die psychische Erkrankung der Antragstellerin so gravierend ist, dass ihr – trotz der Möglichkeit auch anderweitig vorhandener medizinischer und psychologischer Hilfs- und Unterstützungsangebote – eine räumliche Entfernung aus Hamburg nicht zugemutet werden könnte. Zwar wird die Verdachtsdiagnose aus der psychologischen Stellungnahme vom 30. Oktober 2020 im Ambulanzbrief vom 20. Dezember 2020 mit der Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung, F43.1“ und „schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome, F32.2“ im Wesentlichen bestätigt. Jedoch basiert auch diese Diagnose ausschließlich auf einer einmaligen Exploration im Rahmen eines eigeninitiativ von der Antragstellerin in Begleitung ihres Vaters initiierten Vorstellung bei der Ambulanz der psychiatrischen Abteilung einer Klinik in Hamburg. Dabei sei der der psychopathologische Befund aufgrund Sprachbarriere nach eigenen Angaben des begutachtenden Arztes nur eingeschränkt beurteilbar gewesen. Die Vorstellung habe der Krisenintervention und der weiteren Anbindung gedient. Es bestehe eine dringende Behandlungsindikation. Das Angebot einer stationären Therapie habe die Antragstellerin, trotz des vorher geäußerten Wunsches jedoch nicht angenommen. Sie präferiere eine ambulante Anbindung. Bei ausgeprägter Schlafstörung werde der Beginn einer antidepressiven Medikation (Mitrazapin) empfohlen. Eine tatsächliche Medikation, beispielsweise mit Psychopharmaka, ist dem Attest ebenso wenig zu entnehmen wie ein konkreter Therapievorschlag oder Aussagen zur Notwendigkeit einer Behandlung gerade in Hamburg.
Anders als der vorläufige Ambulanzbrief vom 20. Dezember 2020 beruht der vorläufige Arztbrief vom 30. November 2020 nicht auf einer punktuellen Exploration, sondern einer zweitägigen stationären Behandlung vom 28. November 2020 bis 30. November 2020. Auffällig ist, dass dessen Diagnose „Kollaps bei Hyperventilation, a.e. im Rahmen einer psychischen Belastungsreaktion“ und „sonstige und nicht näher bezeichnete Ovarialzysten (N83.2)“ nicht annähernd den Schweregrad der „Posttraumatischen Belastungsstörung bzw. Schweren depressiven Episode“ entspricht. Auch hier ist weder für den stationären Aufenthalt noch im Anschluss daran eine Medikation festgehalten. Zwar wird eine mutmaßliche Belastungsreaktion (vgl. „a.e.=am ehesten) mit der am Tag des Kollapses anstehenden Trennung vom Vater („wohl deswegen psychische Belastungssituation“) in Verbindung gebracht, jedoch ist auch diesem Arztbrief nicht zu entnehmen, dass die volljährige Antragstellerin so existenziell auf die Nähe ihrer Familie in Hamburg angewiesen wäre, dass eine räumliche Trennung – auch unter Berücksichtigung möglicher Besuchserlaubnisse – sie gesundheitlich so belasten würde, dass darin ein humanitärer Grund i.S.v. .S. § 15a Abs. 1 Satz 6 AsylG bzw. § 50 Abs. 4 Satz 4 oder § 51 Abs. 1 AsylG gesehen werden könne. Besondere Maßnahmen zur Stabilisierung sind weder für die Aufnahmesituation noch den weiteren stationären Aufenthalt dokumentiert. Dabei ist auch die zeitliche Nähe des Kollapses zu dem von der Antragstellerin zur Anzeige gebrachten Vorfall der sexuellen Belästigung vom 25. November 2020 zu berücksichtigen. Dieser habe die Antragstellerin laut Gesprächsprotokoll der Gewaltschutzkoordinatorin vom 9. Dezember 2020 stark mitgenommen. Die Antragstellerin habe bei dem Gespräch einen Termin mit einem Psychologen dankend angenommen, den Bedarf medizinischer Versorgung jedoch negiert. Auch wenn die Antragstellerin selbst ihren gesundheitlichen Zustand nicht objektiv-fachlich beurteilen kann, ist aus der Ablehnung medizinischer Versorgung jedoch zu folgernd, dass der psychische Leidensdruck der Antragstellerin in der Anker-Einrichtung in Unterfranken nicht so hoch war, dass er sich trotz der geschilderten Mangelernährung und des Schlafmangels soweit physisch niedergeschlagen hat, dass sie es selbst als behandlungsbedürftig empfunden oder nach Linderung etwa durch Medikamente verlangt hätte. Soweit die beiden Gewaltschutzkoordinatorinnen der Anker-Einrichtungen gleichwohl eine Rückverteilung der Antragstellerin nach Hamburg befürworten, stützen sie sich im Wesentlichen darauf, dass der Vorfall vom 25. November 2020 bei der Antragstellerin zu einer Retraumatisierung in Bezug auf einen in der Kindheit erlittenen sexuellen Übergriff geführt habe. Jedoch ist weder dem Gesprächsprotokoll vom 9. Dezember 2020 noch dem Empfehlungsschreiben vom 16. Dezember 2020 zu entnehmen, welche psychologisch-psychiatrische Vorbildung die beiden Koordinatorinnen zu dieser medizinischen Beurteilung qualifiziert.
Unabhängig von den psychischen Folgen, die der Vorfall vom 25. November 2020 bei der Antragstellerin tatsächlich ausgelöst haben mag, ist schon die, den vorgelegten Stellungnahmen anamnetisch zugrunde gelegte – Trauma auslösende -Vergewaltigung als Zwölfjährige vor dem Hintergrund der Email des Mitarbeiters der deutschen Botschaft in Abidjan vom 21. Januar 2013 (Behördenakte, Bl. 327ff.) zweifelhaft. Dort informiert der Botschaftsmitarbeiter die Antragsgegnerin, dass der Ivorer, in dessen Obhut die Antragstellerin sich damals mit ihrem – nach Darstellung der Antragstellerin – in einer Vergewaltigung durch Milizen gezeugtem Neugeboren befand, das Kind der Antragstellerin an den Kindsvater bzw. dessen Mutter übergeben habe. Die Antragstellerin habe mit dem Kindsvater in Kontakt gestanden und ihn lediglich deshalb ferngehalten, um die behauptete Vergewaltigung nicht zu widerlegen. Mithin kann – jedenfalls diesbezüglich – die vorgetragene Vorgeschichte der Antragstellerin im Heimatland nicht ohne weiteres als wahr übernommen und aktuell zum Anknüpfungspunkt einer besonderen Vulnerabilität bei der räumlichen Zuweisung der Antragstellerin gemacht werden.
Sofern ihr – unabhängig davon – wegen der psychischen Folgen des Vorfalls vom 25. November 2020 der Verbleib in der Aufnahmeeinrichtung Ankerzentrum Unterfranken – trotz der bereits erfolgten Unterbringung in einem anderen Gebäude – nicht mehr zumutbar sein sollte, führt dies jedenfalls nicht zu einer Rechtswidrigkeit der Weiterleitungsanordnung vom 21. November 2020. Denn dem kann auch durch die Umverteilung in eine andere Aufnahmeeinrichtung innerhalb Bayerns begegnet werden, ohne dass dafür ein Verbleib der Antragstellerin in Hamburg erforderlich wäre.
Ihrem – menschlich nachvollziehbarem – Anliegen einer Anbindung an ihre Familienangehörigen in Hamburg, wie sie es ausweislich der Niederschrift vom 15. Januar 2021 auch bei ihrer Asylanhörung schilderte, kann in angemessener Weise durch entsprechende Besuchserlaubnisse Rechnung getragen werden.
Jedenfalls bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage haben die persönlichen Belange der Antragstellerin – auch unter Berücksichtigung ihrer durch Stellungnahmen und Atteste dokumentierten gesundheitlichen Situation – nicht ein solches Gewicht, dass sie dem Schutzes des Zusammenlebens des von § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG begünstigten Personenkreises gleich kommen und das besondere Interesse an der gleichmäßigen Lastenverteilung bei der Versorgung und Unterbringung von Asylsuchenden ausnahmsweise dahinter zurücktreten müsste.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Weiterleitungsanordnung war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Prozesskostenhilfe war gem. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO abzulehnen. Für das Fehlen der Erfolgsaussichten wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.
Der als Hilfsantrag erhobene Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO zu verpflichten, die Antragstellerin vorläufig nach Hamburg umzuverteilen, war mit der Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Weiterleitungsanordnung vom 21. November 2020 als innerprozessuale Bedingung anhängig geworden. Seine Abtrennung erfolgte gemäß § 93 Satz 2 VwGO abzutrennen und in einem eigenständigen Verfahren fortzusetzen.


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