Aktenzeichen M 28 S7 17.49197
Leitsatz
1 Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ist kein Rechtsmittelverfahren, sondern ein gegenüber dem ursprünglichen Eilverfahren selbstständiges Verfahren. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine psychische Erkrankung, die zu einer konkreten Selbstgefährdung beziehungsweise Suizidgefahr führte, begründet auch dann ein mögliches Abschiebungsverbot, wenn im Eilverfahren kein qualifiziertes ärztliches Attest vorgelegt werden kann. (Rn. 15 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Unter Abänderung von Ziffer I. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 28. September 2017 (Az.: M 28 S 17.37377) wird die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. April 2017 (Az.: 5815224 – 232) angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger, stellte am 18. September 2014 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 4. Oktober 2016 trug der Antragsteller keine gesundheitlichen Einschränkungen vor.
Mit Bescheid vom 6. April 2017, lehnte das Bundesamt die Anträge des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.), auf Asylanerkennung (Ziffer 2.) sowie auf subsidiären Schutz (Ziffer 3.) jeweils als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.), forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, andernfalls werde er abgeschoben (Ziffer 5.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6.).
Gegen diesen Bescheid (zugestellt mittels PZU am 11. April 2017) erhob der Antragsteller am 13. April 2017 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte, den Bescheid des Bundesamtes vom 6. April 2017 aufzuheben sowie die Antragsgegnerin zu verpflichten festzustellen, dass er asylberechtigt sei, die Flüchtlingseigenschaft bei ihm vorliege, der subsidiäre Schutzstatus bei ihm vorliege und Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 und 7 AufenthG bei ihm vorlägen. Diese Klage, über die noch nicht entschieden ist, wurde zunächst unter dem Aktenzeichen M 21 K 17.37376 und wird nunmehr unter dem Aktenzeichen M 28 K 17.37376 geführt. Ferner beantragte er ebenfalls am 13. April 2017, die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 28. September 2017 abgelehnt.
Mit Schriftsatz vom 24. Oktober, eingegangen bei Gericht am selben Tag teilte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit, dass der Antragsteller am 17. Oktober einen ernsthaften Suizidversuch unternommen habe. Hierzu wurde das Protokoll über eine Unterbringung des Antragstellers gemäß Art. 1 Abs. 1, Art. 10 Abs. 2 UnterbrG der Polizeiinspektion W* … … … vom 17. Oktober 2017 vorgelegt. Dort ist unter anderem aufgeführt, dass der Antragsteller versucht habe, sich bei der „… … (nahe …*)“ mit einem kunstoffbeschichteten Stahlseil aufzuhängen. Neben ihm sei ein Abschiedsbrief gefunden worden. Aus Sicht des Unterzeichners des polizeilichen Protokolls habe zu „jeder Zeit eine konkrete Selbstgefährdung bzw. Suizidgefahr“ bestanden. Der Antragsteller sei nach angemessener intensivmedizinischer Überwachungszeit zur weiteren Behandlung in’s ISK (wohl I* …*) eingewiesen worden, da dieser weiterhin suizidale Absichten geäußert habe. Die Bevollmächtigte kündigte für die mündliche Verhandlung einen Beweisantrag dahingehend an, durch Einholung eines psychologischen/psychiatrischen Gutachtens zu klären, dass der Antragsteller an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide und durch diese Erkrankung weiterhin konkrete Suizidgefahr bestehe sowie seine Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Folterungen und unmenschliche Behandlungen entstanden sei.
Der Antragsteller habe sich nach seinem Suizidversuch drei Tage lang zur Behandlung im Klinikum befunden und sei dann entlassen worden. Der Hausarzt habe ihn in Folge an eine fachspezifische Praxis (Neurologin) zur Weiterbehandlung verwiesen. Die Bestätigung der Praxis werde im Termin zur mündlichen Verhandlung nachgereicht.
Am 25. Oktober hat im Hauptsacheverfahren (Az.: M 28 K 17.37376) die mündliche Verhandlung vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht München stattgefunden, zu der die Prozessbevollmächtigte, der Antragsteller jedoch selber nicht erschienen ist. Die Prozessbevollmächtigte erklärte, dass der Antragsteller aufgrund ernsthafter psychischer Probleme, welche auch durch den Selbstmordversuch belegt seien, nicht in der Lage sei, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Hierzu wurde ein (allerdings nicht unterschriebenes) Attest von Frau L* … S* … vom K* … … … … …, R* …, vom 24. Oktober 2017 vorgelegt, welche die derzeitige Verhandlungsunfähigkeit des Antragstellers bescheinigte. Eine Suizidalität wurde darin nicht ausgeschlossen. Weiter wurde ein ärztliches Attest vom 24. Oktober 2017 der Gemeinschaftspraxis Dr. W* …, Praktische Ärzte, B** …, vorgelegt, welche ebenfalls eine Verhandlungsunfähigkeit des Antragstellers bescheinigten und ihn zur Weiterbehandlung in fachärztliche Hände verwies. Die mündliche Verhandlung wurde vertagt, der Prozessbevollmächtigten wurde Schriftsatzfrist zur Vorlage eines entsprechenden qualifizierten ärztlichen Attestes eingeräumt.
Mit Schriftsatz vom 8. November 2017, eingegangen bei Gericht am selben Tag, beantragte die Prozessbevollmächtigte, unter Abänderung der Nr. I. des Beschlusses vom 28. September 2017 (Az.: M 28 S 17.37377) die aufschiebende Wirkung der Klage vom 13. April 2017 hinsichtlich der Nr. 5 des Bescheids vom 6. April 2017 (Az.: 5815224-232) anzuordnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten im vorliegenden sowie in den Verfahren M 28 K 17.37376 und M 28 S 17.37377 sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Dem Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 28. September 2017 war stattzugeben.
1. Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO). Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ist dabei kein Rechtsmittelverfahren, sondern vielmehr ein gegenüber dem ursprünglichen Eilverfahren selbstständiges Verfahren. Voraussetzung für einen Anspruch, auf Änderung eines zunächst ergangenen Beschlusses ist nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, dass sich nach der ersten gerichtlichen Entscheidung die maßgebliche Sach- oder Rechtslage geändert hat. Dies ist insbesondere bei tatsächlichen Veränderungen der Fall, gilt aber ebenso für eine Änderung der Rechtslage. Dasselbe gilt bei einer Veränderung der Prozesslage etwa aufgrund neu gewonnener Erkenntnisse. Darüber hinaus muss die geänderte Sach- oder Rechtslage geeignet sein, eine andere Entscheidung herbeizuführen (VG Magdeburg B.v. 17.7.2015 – 9 B 631/15 MDjuris).
2. Nach diesen Grundsätzen ist das Vorbringen der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers in den Schriftsätzen vom 24. Oktober 2017 und 8. November 2017 sowie in der mündlichen Verhandlung vom 25. Oktober 2017 und die Vorlage der entsprechenden Atteste und des polizeilichen Unterbringungsprotokolls geeignet, die begehrte Abänderung zu rechtfertigen, da sich die maßgebende Sachlage insoweit zugunsten des Antragstellers geändert hat.
Im Vergleich zum Entscheidungszeitpunkt über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO haben sich vorliegend demnach neue Tatsachen ergeben, welche eine Abänderung des gerichtlichen Beschlusses im Eilverfahren notwendig machen.
Angesichts der möglicherweise bestehenden schweren psychischen Erkrankung des Antragstellers steht zumindest ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Raum.
Zwar wurde von Seiten des Antragstellers bislang kein den Anforderungen der Rechtsprechung (vgl. BVerwG U.v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris Rn. 15; VG München U.v. 13.4.2017 – M 4 K 16.31543 -, juris Rn. 20 ff) entsprechendes Attest über seine psychische Erkrankung vorgelegt. Dies scheint aber angesichts des erst kürzlich stattgefundenen Suizidversuchs (am 17. Oktober 2017) zumindest nachvollziehbar.
Im vorliegenden Verfahren des § 80 Abs. 7 VwGO reicht daher aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls der nachweislich stattgefundene Suizidversuch am 17. Oktober 2017 mit der entsprechenden Einschätzung des Polizeibeamten, dass eine konkrete Selbstgefährdung beziehungsweise Suizidgefahr vorgelegen habe, welche zur Unterbringung des Antragstellers nach Art. 1 Abs. 1, Art. 10 Abs. 2 UnterbrG geführt hat, sowie der Nachweis, dass sich der Antragsteller danach in ärztliche Behandlung begeben hat, um im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) von ernstlichen Zweifeln an der Entscheidung des Bundesamtes auszugehen (§ 36 Abs. 4 AsylG).
Zwar wurden während des Asylverfahrens keine gesundheitlichen Belange beziehungsweise psychischen Probleme vorgetragen, es scheint aber im vorliegenden Fall zumindest nicht ausgeschlossen, dass sich diese angesichts einer konkret drohenden Rückkehr des Antragstellers in sein Heimatland erstmalig oder verstärkt manifestiert haben.
Ob hinsichtlich des Vorliegens von Abschiebeverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch der Maßstab der ernstlichen Zweifel des § 36 Abs. 4 AsylG anzulegen ist oder ob von dem allgemeine Prüfungsmaßstab des § 80 Abs. 5 VwGO mit entsprechender Interessenabwägung auszugehen ist kann vorliegend demnach offen bleiben (vgl. Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 36 AsylG Rn. 38).
Im Hauptsacheverfahren wird zur Frage des Vorliegens der vorgetragenen Erkrankung jedoch von Seiten des Antragstellers ein den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechend qualifiziertes Attest (vgl. BVerwG U.v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris Rn. 15; VG München U.v. 13.4.2017 – M 4 K 16.31543 – juris Rn. 20 ff) nachzureichen sein.
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83 b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.