Verwaltungsrecht

Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverbot hinsichtlich Sierra Leone

Aktenzeichen  W 10 K 20.30036

Datum:
21.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 6662
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Es ist vor dem Hintergrund der sehr schwierigen Lebensbedingungen in Sierra Leone nicht ersichtlich, wie der völlig auf sich allein gestellte Kläger im Alter von elf Jahren in der Lage sein sollte, dort sein Existenzminimum zu sichern. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Das Verfahren wird hinsichtlich der Klagebegehren auf Asylanerkennung, Zuerkennung von Flüchtlingsschutz und subsidiärem Schutz eingestellt.
II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juni 2018 wird in den Ziffern 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 2/3, die Beklagte 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die nach § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden durfte, ist im verbliebenen Umfang begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Sierra Leone. Der streitgegenständliche Bescheid vom 12. Juni 2019 ist deshalb in den Ziffern 4 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Ablehnung der Asylanerkennung, der Flüchtlingseigenschaft sowie des subsidiären Schutzstatus (Ziffern 1 bis 3 des streitgegenständlichen Bescheids) sind durch die Teilrücknahme der Klage unanfechtbar geworden. Insoweit war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. 1.
Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Sierra Leone.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung unterworfen werden. Insbesondere genügt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EGMR) der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Diese Vorschrift verpflichtet die Staaten nicht, Fortschritte in der Medizin sowie Unterschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht auszugleichen (EGMR, U.v. 27.5.2008 – Nr. 26565/05, N./Vereinigtes Königreich – NVwZ 2008, 1334 Rn. 44). Etwas anderes gilt nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen. Ein Ausnahmefall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, liegt beispielsweise dann vor, wenn die Versorgungslage im Herkunftsland völlig unzureichend ist (vgl. EGMR, a.a.O. Rn. 42; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952).
Im Hinblick auf den Kläger ist ein solch außergewöhnlicher Ausnahmefall anzunehmen, da aufgrund seiner individuellen Umstände ein entsprechend hohes Gefährdungsniveau vorliegt. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger als Rückkehrer tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden und er in eine existenzielle Notlage geraten würde.
In Bezug auf Sierra Leone ist allgemein festzustellen, dass die Sicherheitslage im ganzen Land stabil ist (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, 4.7.2018, S. 5). Zudem hat sich die Menschenrechtslage nach dem Ende des Bürgerkriegs in vielen Bereichen deutlich verbessert (vgl. BFA, a.a.O., S. 9). Darüber hinaus ist es den Bürgern nicht verwehrt, sich innerhalb des Lands uneingeschränkt zu bewegen. In der Verfassung ist sowohl die Emigration als auch die Rückkehr verankert (vgl. BFA, a.a.O., S. 16). Zwar ist dem Gericht bekannt, dass Sierra Leone trotz des Reichtums an Bodenschätzen eines der ärmsten Länder der Welt ist. Gründe hierfür sind unter anderem der sehr große informelle Wirtschaftssektor, eine kaum diversifizierte Wirtschaftsstruktur und eine hohe Importabhängigkeit. Die Infrastruktur und der Energiesektor sind nur schwach ausgebaut. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, wobei bisher keine verlässlichen statistischen Daten erhoben wurden. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77 Prozent) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Familie und die lokale Gesellschaftsordnung ist für die meisten Sierra-Leoner der wichtigste Bezugsrahmen. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Gleichzeitig ist allerdings zu beachten, dass die Mehrheit versucht, sich mit Gelegenheitsjobs, Subsistenzlandwirtschaft oder als Händler ein Auskommen zu erwirtschaften und sich die wirtschaftliche Entwicklung zwischen Stadt und Land unterscheidet. Zudem gelingt es selbst ungelernten Arbeitslosen durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (etwa Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnliche Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicherzustellen (vgl. BFA, a.a.O., S. 17; OVG NW, B.v. 6.9.2017 – 11 A633/05.A – BeckRS 2007, 26471, m.w.N.). Daneben ist seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2002 mit Ausnahme der Jahre 2014 und 2015 (Einbruch der Rohstoffpreise sowie Ebola-Epidemie) ein erfreuliches Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, auch wenn die Strukturprobleme der Wirtschaft nicht beseitigt werden konnten. Die Wirtschaftspolitik ist auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie die Erhöhung der Staatseinnahmen ausgerichtet. Zur Stärkung der Steuerbasis (nur knapp 15 Prozent des BIP) soll der informelle Sektor in die formelle Wirtschaft überführt und die Korruption bekämpft werden, auch wenn die Erfolge bislang noch bescheiden sind (vgl. Auswärtiges Amt, Sierra Leone – Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/sierraleone-node/ wirtschaft/203486, abgerufen am 23.1.2020; BFA, a.a.O., S. 13, 17 f.)
Der Kläger gehört als unbegleiteter Minderjähriger jedoch zur Gruppe der vulnerablen Personen. Er hat in Sierra Leone keinen familiären Rückhalt oder ein sonstiges soziales Netz. Zudem hat er sein Heimatland bereits im Alter von sieben Jahren verlassen. Es ist daher gerade vor dem Hintergrund der sehr schwierigen Lebensbedingungen in Sierra Leone nicht ersichtlich, wie der völlig auf sich allein gestellte Kläger im Alter von elf Jahren in der Lage sein sollte, dort sein Existenzminimum zu sichern.
Weder den Ausführungen des Klägers noch denen seines Cousins oder seiner Cousine lassen sich belastbare Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass seine Mutter überhaupt noch am Leben wäre. Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger gemeinsam mit seinem Cousin und seiner Cousine nach Sierra Leone zurückkehren würde, sodass er nicht auf deren Unterstützung verwiesen werden kann. Hierzu wird auf die Begründung im Urteil vom heutigen Tag zum Cousin des Klägers im Verfahren W 10 K 19.31378 Bezug genommen, in der ausgeführt wird:
„(…) nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Maßgeblich ist für die typisierende Betrachtung im Rahmen der Rückkehrprognose nicht der – nicht auf Kernfamilien beschränkte – Schutzbereich des Art. 6 GG bzw. des Art. 8 EMRK. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie mögen ebenfalls durch nach Art. 6 GG schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sein; sie rechtfertigen für sich allein aber nicht die typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 18 m.w.N.).
Das Bundesamt hat mithin zu Unrecht darauf abgestellt, dass die Geschwister und ihr Cousin gemeinsam nach Sierra Leone zurückkehren würden und so der Lebensunterhalt für sie alle sichergestellt werden könnte. Denn nach den oben genannten Grundsätzen ist eine gemeinsame Rückkehr grundsätzlich lediglich bei der Kernfamilie, also den Eltern und ihren minderjährigen Kindern, anzunehmen. Darüber hinaus ist Voraussetzung, dass sie bereits im Bundesgebiet eine tatsächliche Lebensgemeinschaft bilden. Die Geschwister und ihr Cousin sind weder Angehörige einer Kernfamilie, noch leben sie zusammen. Auch sonst gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte, die im vorliegenden Fall die Annahme rechtfertigen würden, dass eine Rückkehr nur gemeinsam erfolgen würde. Hieran ändert auch die gemeinsame Einreise und der Umstand nichts, dass sich der Kläger nach wie vor um seine Schwester und seinen Cousin kümmert und sich für sie verantwortlich fühlt. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass es für die regelhafte Prognose der gemeinsamen Rückkehr gerade nicht ausreicht, dass eine von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK geschützte Bindung besteht. Hieraus kann sich allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis nach § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG ergeben. Derartige inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse sind allerdings nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.“
Anders als bei seinem Cousin und seiner Cousine kann der Kläger bei einer Rückkehr nach Sierra Leone auch nicht auf die im Facebook-Profil seiner Cousine enthaltenen Personen gleichen Nachnamens und Herkunftsort zurückgreifen. Denn im Hinblick darauf, dass diese Personen den gleichen Familiennamen wie sein Cousin und seine Cousine haben, ist davon auszugehen, dass es sich um Verwandtschaft väterlicherseits handelt, während es sich beim Kläger um Verwandtschaft mütterlicherseits handelt. Zwar spielt die Unterstützung der traditionellen Großfamilie, wie dargestellt, eine große Rolle in Sierra Leone. Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass hiervon im patriarchalisch geprägten Sierra Leone (vgl. 28 Too Many, Country Profile, Juni 2014, S. 35) sogar Angehörige der entfernteren Schwägerschaft umfasst wären. Dies gilt umso mehr, als nicht ersichtlich ist, dass der Kläger überhaupt jemals (näheren) Kontakt zur Großfamilie seines Cousins und seiner Cousine hatte.
Da die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einen einheitlichen, nicht weiter aufteilbaren Streitgegenstand darstellen (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24/10 – juris Rn. 9), musste über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht gesondert entschieden werden.
2. Da der Kläger Anspruch auf die Feststellung hat, dass ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Sierra Leone vorliegt, waren die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 38 Abs. 1 AsylG mit der Zielstaatsbezeichnung Sierra Leone in Ziffer 5 sowie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG einschließlich der Befristung gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids ebenfalls aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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