Verwaltungsrecht

Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  Au 2 K 19.30587

Datum:
10.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 12745
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 26 Abs. 2, Abs. 3 S. 2
AufenthG § 11 Abs. 1, § 58 Abs. 1a, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Qualifikations-RL Art. 10

 

Leitsatz

1. Zeugen … unterliegen in der Russischen Föderation der Verfolgung, wenn sie eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinschaft einnehmen. Gleiches gilt, wenn sie ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben. (Rn. 71)
2. Eine inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG besteht für diesen Personenkreis nicht. (Rn. 66)
3. Eine Ankerkennung als Flüchtling setzt insoweit voraus, dass die individuelle religiöse Prägung der betroffenen Person erwarten lässt, dass sie nach einer unterstellten Rückkehr ihren Glauben in verfolgungsträchtiger Weise ausüben oder nur aufgrund von Furcht vor Verfolgung darauf verzichten wird. (Rn. 71)
4. Es ist derzeit nicht erkennbar, dass Kindern von Zeugen … in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine eigene Verfolgung in Form der erzwungenen Trennung von ihren Eltern oder Elternteilen drohen würde. (Rn. 81)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für … vom 15. Februar 2017, Geschäftszeichen, verpflichtet, die Klägerin zu 1. als Flüchtling anzuerkennen.
Weiter wird die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Nr. 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Februar 2017, Geschäftszeichen, verpflichtet, hinsichtlich des Klägers zu 2. unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über die Befristung des gesetzlichen Widereinreise undAufenthaltsverbots erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Gerichtskosten haben die Beklagte zu fünf Achtel und der Kläger zu 2. zu drei Achtel zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1. hat die Beklagte zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 2. hat die Beklagte zu einem Viertel zu tragen. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.
Die Klage der Klägerin zu 1. ist zulässig und begründet. Ihr steht bereits der mit dem Hauptantrag verfolgte Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Die Voraussetzungen der Zuerkennung der Eigenschaft eines Flüchtlings i.S.v. § 3 AsylG liegen bei der Klägerin zu 1 vor.
a) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, des Art. 1 A GFK und der Qualifikationsrichtlinie (QRL) gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG; Art. 9 Abs. 1 lit. a QRL), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG; Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL).
Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG; Art. 9 Abs. 3 QRL).
Nach Art. 10 Abs. 1 lit. b QRL umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dabei ist nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der gegen Art. 10 Abs. 1 der Grundrechtscharta (GR-Charta) verstößt, bereits eine Verfolgungshandlung i.S.d. Qualifikationsrichtlinie. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit vorliegt, der Art. 10 Abs. 1 GR-Charta verletzt und als Verfolgungshandlung zu qualifizieren ist, sind eine Reihe objektiver wie auch subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen (EuGH, U.v. 5.9.2012 – Rs. C-71/11, C-99/11 – NVwZ 2012, 1612/1614; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936/939 – juris Rn. 28).
Objektive Gesichtspunkte sind dabei insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter, wie Leib und Leben. Subjektiv ist zu berücksichtigen, ob die religiöse Handlung, die die Verfolgung auslöst, für den Einzelnen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Maßgeblich ist, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936/939 – juris Rn. 29).
Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung kann dabei nicht nur in der schwerwiegenden Verletzung der Freiheit, seine Religion im privaten Rahmen zu praktizieren (forum internum) liegen, sondern auch in der Verletzung der Freiheit, den Glauben öffentlich zu leben (forum externum), so dass schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine beachtliche Verfolgungshandlung i.S.v. Art. 9 Abs. 1 QualfRL darstellen kann. Dies gilt unabhängig davon, ob sich der davon betroffene Glaubensangehörige tatsächlich religiös betätigen wird oder auf die Ausübung aus Furcht vor Verfolgung verzichtet (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Leitsätze 2 bis 4). Das Verbot weist jedoch nur dann die darüber hinaus erforderliche subjektive Schwere auf, wenn die Befolgung der verbotenen religiösen Praxis für den Einzelnen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Leitsatz 6). Maßgeblich ist demnach, wie der Einzelne seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis ein zentrales Element seiner religiösen Identität bildet und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Leitsätze 2 bis 4 Rn. 28 ff. im Anschluss an EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 – NVwZ 2012, 1612).
Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG; Art. 10 Abs. 2 QRL).
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“). Dieser gilt für Anerkennung und Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gleichermaßen und entspricht demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris Rn. 20/23).
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. hierzu und zum Folgenden: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32 ff.).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 QRL zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25).
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 8 QRL nicht zuerkannt, wenn er (Nr. 1) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und (Nr. 2) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
b) Gemessen daran sind im Falle der Klägerin zu 1. die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG gegeben.
aa) Der Klägerin hat Russland zwar letztlich unverfolgt verlassen. Die von ihr geschilderten verbalen Drohungen von Privatpersonen sowie das Einsperren in der Duschkabine erreichen auch in ihrer Gesamtheit nicht das für die Annahme einer Verfolgung erforderliche Gewicht. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass sie bei Rückkehr eine Verfolgung zu erwarten hat.
(1) Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Angehörige der Zeugen J. in der russischen Föderation der Verfolgung unterliegen, ist bislang nicht obergerichtlich geklärt. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist uneinheitlich. Das Verwaltungsgericht Hamburg (VG Hamburg, U.v. 27.6.2018 – 17 A 2777/18 – juris Rn. 24 – rechtskräftig) und im Anschluss daran das Verwaltungsgericht Sigmaringen (U.v. 17.1.2019 – A 4 K 6178/16 – juris Rn. 30 ff. – nicht rechtskräftig) gehen davon aus, dass Zeugen J., die ihren Glauben aktiv ausüben, in Russland strafrechtlicher Verfolgung unterliegen (vgl. im Ergebnis auch VG Stuttgart, U.v. 15.3.2019 – A 14 K 16637/17 – unveröffentlicht, nicht rechtskräftig und zuvor schon VG Göttingen, U.v. 5.10.2017 – 2 A 197/14 – unveröffentlicht). Das Verwaltungsgericht Trier (U.v. 13.11.2018 – 1 K 318/18.TR – juris Rn. 26 ff.) verneint eine Verfolgung allein aufgrund der Zugehörigkeit zu den Zeugen J., kommt im entschiedenen Einzelfall insbesondere aufgrund der Stellung des dortigen Klägers als Ältester aber gleichwohl zur beachtlichen Wahrscheinlich eine Verfolgung. Schließlich hat das Verwaltungsgericht Münster eine Verfolgung angenommen, – soweit ersichtlich – ohne eine Prüfung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (Gerichtsbescheid vom 22. Februar 2018 – 2 K 1079/17.A – juris).
(2) Nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel kommt das Gericht zu der Überzeugung, dass Zeugen J. in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, wenn sie eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinschaft haben oder ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben. Dagegen gibt es keine Hinweise dafür, dass Angehörige der Religionsgemeinschaft, die weder eine herausgehobene Stellung haben noch ihren Glauben in der dargestellten Form ausüben, mit Verfolgung zu rechnen haben.
(a) Zunächst lassen die Erkenntnismittel den Schluss zu, dass die Angehörigen der Zeugen J., die sich auch nur niederschwellig an den Aktivitäten ihrer Glaubensgemeinschaft beteiligen, strafrechtlich belangt werden können.
So führt das Auswärtige Amt im aktuellen Lagebericht vom 13. Februar 2019 (S. 7) aus: „Am 20. April 2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen J. als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen J. können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden.“ Rechtsgrundlage für eine strafrechtliche Verurteilung ist dabei Art. 282.2 des russischen Strafgesetzbuches, dessen Wortlaut (auszugsweise) wie folgt lautet (zitiert nach BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation, Zeugen J. vom 2.3.2018, S. 2 f.):
Art. 282.2 Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation
Z.1 Die Organisation der Tätigkeit … einer religiösen Vereinigung, in Bezug auf die es eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung über die Liquidierung oder ein Tätigkeitsverbot im Zusammenhang mit der Verwirklichung extremistischer Tätigkeit gibt – mit Ausnahme von Organisationen, die gemäß der russischen Gesetzgebung als terroristisch erkannt wurden -, wird mit einer Geldstrafe in Höhe von 400.000 bis 800.000 Rubel bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 6 bis 10 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 10 Jahren und mit Beschränkungen der Freiheit mit einer Frist von 1 bis 2 Jahren.
Z. 1.1. Die Zuführung, Anwerbung oder Einbeziehung einer Person zur Tätigkeit einer extremistischen Organisation mit einer Geldstrafe in Höhe von 300.000 bis 700.000 Rubel bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Zwangsarbeit für einen Zeitraum von 2 bis 5 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren oder ohne einen solchen und mit Beschränkungen der Freiheit mit einer Frist von 1 bis 2 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 4 bis 8 Jahren mit Beschränkungen der Freiheit von 1 bis 2 Jahren.
Z. 2. Die Teilnahme an der Tätigkeit einer … religiösen Gesellschaft …, in Bezug auf die es eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung über die Liquidierung oder ein Tätigkeitsverbot im Zusammenhang mit der Verwirklichung extremistischer Tätigkeit gibt – mit Ausnahme von Organisationen, die gemäß der russischen Gesetzgebung als terroristisch erkannt wurden -, wird mit einer Geldstrafe in Höhe von 300.000 bis 600.000 Rubel bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 3 Jahren oder mit Zwangsarbeit für einen Zeitraum von 1 bis 4 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 3 Jahren oder ohne einen solchen und mit Beschränkungen der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr oder mit Freiheitsstrafe von 2 bis 6 Jahren mit Beschränkungen der Freiheit von 1 bis 2 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren und mit Beschränkungen der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr.
Eine Person, die erstmals ein Verbrechen gemäß dieses Art. begangen und freiwillig die Teilnahme an der Tätigkeit dieser religiösen Gesellschaft, in Bezug auf die es eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung über die Liquidierung oder ein Tätigkeitsverbot im Zusammenhang mit der Verwirklichung extremistischer Tätigkeit gibt, beendet hat, wird von der strafrechtlichen Verantwortung frei, wenn in seinen Handlungen kein anderer Straftatbestand enthalten ist.“
Unter die „Teilnahme an der Tätigkeit einer religiösen Gesellschaft“ lässt sich auch eine bloße gemeinschaftliche Religionsausübung ohne weiteres subsumieren. Gleiches gilt für eine werbende, missionarische Tätigkeit im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal des „Anwerbens“. Ausgehend von den zahlreichen Berichten über die Ermittlungsverfahren gegen Zeugen J. wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen Art. 282.2 Strafgesetzbuch und einer Verurteilungen auf dessen Grundlage (dazu sogleich) ist davon auszugehen, dass die russischen Behörden die Norm auch tatsächlich umsetzen (vgl. zur Maßgeblichkeit der Rechtspraxis im Herkunftsstaat etwa BVerwG, U.v. 15.12.1992 – 9 C 61/91 – Rn. 11, juris). Besondere Beachtung fand insofern die Verurteilung eines dänischen Staatsangehörigen zu sechs Jahren Lagerhaft im Februar 2019 (vgl. UN News, UN rights chief ‘deeply concerned’ over Jehovah’s Witness sentencing in Russia, abrufbar unter https://news.un.org/en/story/2019/02/
1032151).
(b) Im Hinblick auf die Anzahl der Zeugen J., die in Russland strafrechtlicher Verfolgung auf der Grundlage u.a. von Art. 282.2 Strafgesetzbuch ausgesetzt sind, geht das Gericht davon aus, dass einiges mehr als 100 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden und ca. 100 der davon Betroffenen sich in Untersuchungshaft befinden, unter Hausarrest stehen oder sonstigen Freiheitsbeschränkungen (etwa in Form von Ausreiseoder Aufenthaltsbeschränkungen) unterliegen. Das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 13. Februar 2019, S. 4, 7) geht von 85 Ermittlungsverfahren aus. 27 Zeugen J. säßen in Untersuchungshaft, 17 befänden sich im Hausarrest und 31 weitere dürften ihren Wohnort nicht verlassen. Die Vereinten Nationen sprachen Anfang Februar 2019 von mehr als 100 Ermittlungsverfahren (vgl. UN News, UN rights chief deeply concerned over Jehovah’s Witness sentencing in Russia, abrufbar unter https://news. un.org/en/story/2019/02/1032151). Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) geht für Ende 2018 von 121 Ermittlungsverfahren, 23 Inhaftierungen, 27 Hausarresten und 41 Aufenthaltsbeschränkungen aus (United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), Annual Report 2019, April 2019, S. 83). Diese Zahlen dürften sich angesichts weiterer Verhaftungen und Wohnungsdurchsuchungen in den letzten Wochen vor der mündlichen Verhandlung weiter erhöht haben. So wurden am 15. Februar 2019 in der Stadt Surgut 40 Mitglieder der Zeugen J. verhaftet (Amnesty International, Russian Federation: Effectively investigate allegations of torture against and persecution of Jehovah´s Witneesses vom 25. Februar 2019), gegen 19 Mitglieder der Zeugen J. wurde Anklage wegen der Organisation einer extremistischen Vereinigung erhoben (BAMF, Biefing Notes vom 25. Februar 2019, S 6.). Die Zeugen J. selbst (https://jw-russia.org/en/prisoners.html#arrested=) gehen davon aus, dass bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlungen am 6. Mai 2019 gegen (mindestens) 153 Zeugen J. ermittelt wird und sich 90 davon in Haft befanden oder noch befinden.
(c) Über die Hintergründe der Ermittlungsverfahren und die jeweiligen Tatvorwürfe ist den Erkenntnismitteln vergleichsweise wenig zu entnehmen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob sich die Verfolgung – wie die Beklagte andeutet – lediglich gegen solche Personen richtet, die bei der Organisation der Religionsgemeinschaft eine herausgehobene Rolle spielen oder ob auch die „einfache“ Religionsausübung verfolgt wird.
Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Februar 2019 (S. 4) formuliert insoweit (freilich ohne jede Begründung oder Erläuterung), die russischen Behörden gingen gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor, sofern diese öffentlich erfolge. Die Beklagte konnte auf ausdrückliche schriftliche Frage des Gerichts keine Erkenntnisse hinsichtlich einer Differenzierung der Strafverfolgungsbehörden aufgrund der Stellung innerhalb der Gemeinschaft nennen.
Allerdings enthalten die Erkenntnismittel zahlreiche Indizien, die darauf hindeuten, dass auch die einfache Religionsausübung in Russland tatsächlich strafrechtlich verfolgt wird. Ausgangspunkt ist dabei die Aussage des Obersten Gerichts der Russischen Föderation im Verbotsverfahren, das „alle Angehörigen der Religionsgemeinschaft potentielle Täter“ seien, weil ihre Aktivitäten die Stabilität des Schutzes vor Menschenrechtsverletzungen gefährdeten (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation, Verbot und Strafverfolgung von Zeugen J. vom 26.9.2017). In diese Richtung deutet auch die im Parallelverfahren vorgelegte (und der Beklagten von dort bekannten) amtlich beglaubigte Übersetzung eines Schreibens der Staatsanwaltschaft … an den Zeugen … vom 2. Juli 2018 vor, wonach „die Organisation und Teilnahme einer an der Tätigkeit“ einer durch Gerichtsbeschluss liquidierten Vereinigung oder die „Durchführung einer extremistischen Tätigkeit“ nach § 282.2 des Strafgesetzbuches der russischen Föderation strafbar sei und die Zeugen J. kein Recht hätten, ihren Glauben auszuüben, ihre Literatur zu benutzen und zu verbreiten und den minderjährigen Kindern die „Ansichten dieser Organisation“ beizubringen. Soweit den Zeugen J. mittlerweile auch die Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen unmöglich gemacht (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Augsburg vom 27.12.2017 im vorliegenden Verfahren; United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), Annual Report 2019, April 2019, S. 83) und mit einer Entscheidung des Plenums des Obersten Gerichts vom November 2017 jedenfalls der juristisch-theoretische Unterbau geschaffen wurde, um Zeugen J. die elterliche Sorge zu entziehen, wenn sie ihre Kinder mit der Organisation der Zeugen J. in Kontakt bringen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Februar 2019, S. 7), spricht auch dies dafür, dass es den Organen der Russischen Föderation nicht nur um die Zerschlagung der Organisation der Zeugen J. als solcher, sondern auch um die Sanktionierung von individuellen glaubensgeleiteten Verhaltensweisen geht.
Dass die strafrechtliche Verfolgung auch auf rein private religiöse Aktivität zielt, legen zudem einige der in den Erkenntnismitteln genannten Einzelfälle nahe. So wurde den fünf im Oktober 2018 im Oblast Kirows verhafteten Zeugen J. der Versuch vorgeworfen, die Tätigkeit einer religiösen Organisation, die die Glaubenslehre der Zeugen J. weiterverbreitet, wieder aufzunehmen (BAF, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 31.8.2018, S. 7 f.). Trotz der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts vom 20. April 2017 hätten die Festgenommenen laut Untersuchungskomitee – in voller Kenntnis der Gerichtsentscheidung beschlossen, die religiöse Tätigkeit wieder aufzunehmen. Unter Beachtung konspirativen Maßnahmen hätten sie jedes Mal in neuen Wohnungen Treffen von Jüngern und Teilnehmern der religiösen Vereinigung organisiert. Dort hätten sie biblische Lieder gesungen, die Fertigkeiten bei der Durchführung der missionarischen Tätigkeit vervollkommnet und in der Extremismus-Liste aufgeführte verbotene Literatur studiert (New World Translation of the Holy Scriptures, Nr. 4488 der Liste). Außerdem hätten sie eine verbotene religiöse Organisation finanziert, indem sie ca. 500.000 RUB von den Glaubensanhängern gesammelt hätten. Dieses Geld sei zwischen den Führern der Organisation für die Miete der Räumlichkeiten, für den Erwerb und die Wartung von Computern aufgewendet worden. Der Rest der Summe sei dem Leitungszentrum überwiesen worden. Das BFA (a.a.O.) folgert daraus, Teilnahmen an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen (der Zeugen J.) würden von den russischen Behörden „weiterhin“ verfolgt.
Auch, dass bei der bereits beschriebenen Aktion der Sicherheitsbehörden in Surgut auch Frauen und Minderjährige verhaftet wurden (Amnesty International, Russian Federation: Effectively investigate allegations of torture against and persecution of Jehovah´s Witneesses vom 25. Februar 2019) und der Umstand, dass sich unter den 153 von den Zeugen J. selbst als Verdächtigte gelisteten Personen auch 23 Frauen befinden, die nach dem Selbstverständnis der Zeugen J. keine leitenden Funktionen wahrnehmen (vgl. https://www.jw.org/de/jehovas-zeugen/haeufig-gestellte-fragen/frauen-predigerinnen/), sprechen dafür, dass sich die Ermittlungsverfahren keineswegs nur auf solche Personen beschränken, die innerhalb der Organisation eine herausgehobene (Leitungs-) Funktion innehaben.
Auch der Umstand, dass bereits im Jahr 2015 in der Stadt Taganrog 16 Angehörige der Zeugen J., darunter auch eine Frau wegen „Teilnahme an Veranstaltungen einer“ (damals noch nur regional) verbotenen „extremistischen Organisation“ zu Bewährungs- oder hohen Geldstrafen verurteilt wurden (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 21. Dezember 2016; Amnesty International, Urgent Action – Zeugen J. verurteilt vom 9. Dezember 2015), spricht für die Verfolgung der bloßen Religionsausübung.
Darauf, dass ein nicht unerheblicher Verfolgungsdruck hinsichtlich zentraler Elemente der (einfachen) Glaubensausübung wie das Missionieren („Predigen“) oder dem Besuch von Versammlungen besteht, deutet auch das vom Zeugen … in einem Parallelverfahren glaubhaft geschilderte und in den Erkenntnismitteln ebenfalls erwähnte geänderte Verhalten der Angehörigen der Religionsgemeinschaft hin. So schilderte der Zeuge, religiöse Treffen fänden häufig nur noch getarnt als private (Essens-)Einladungen statt, bei denen auf das sonst bei Versammlungen übliche Tragen von feierlicher Kleidung verzichtet werde. Auch versuchten die „Prediger“ mittlerweile, das Risiko einer Verhaftung beim Missionieren dadurch zu minimieren, dass man nur noch im Bekannten-, Verwandten- und Kollegenkreis, also nicht mehr bei Unbekannten tätig werde. Auch sei es nun üblich, unmittelbar nach einem Missionierungsversuch eine größere räumliche Distanz zur Wohnung des Angesprochenen herzustellen, falls dieser sich an die Polizei wende. Dies deckt sich mit der Einschätzung, dass sich Gläubige bei der Ausübung ihrer Religion nunmehr in die Verborgenheit zurückziehen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 31. August 2018).
(d) Die Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit entzieht sich dabei einer rein quantitativen Ermittlung.
Die Beklagte errechnet ausgehend von einer Mitgliederzahl von rund 175.000 und 70 Ermittlungsverfahren eine Verfolgungswahrscheinlichkeit von 0,04% (oder 1:2.500). Dies ist in der vorliegenden Konstellation nicht sachgerecht, jedenfalls nicht ausreichend.
Zum einen ist davon auszugehen, dass eine für die quantitative Bestimmung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unerhebliche Zahl von Zeugen J. mittlerweile die Russische Föderation verlassen hat (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.5.2018, S. 8). Ein Kläger in einem Parallelverfahren hat hierzu angegeben, nach Angaben der Zentralverwaltung der Zeugen J. in der russischen Föderation liege die Zahl der Ausgereisten bei etwa 5.000. Angesichts der Angabe der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung im dortigen Verfahren, allein in den Jahren 2018 und 2019 hätten in Deutschland 1.180 Zeugen J. aus der Russischen Föderation Asyl beantragt, erscheint diese Einschätzung nicht zu hoch.
Zudem ließe eine rein quantitative Ermittlung der Verfolgungsgefahr anhand der eingeleiteten Ermittlungsverfahren diejenigen zu Unrecht außer Betracht, die aus Furcht vor Verfolgung auf eine verfolgungsträchtige Religionsausübung verzichten. Diese Dunkelziffer lässt sich dabei sinnvoll nicht ermitteln, angesichts der dargestellten Lage der Zeugen J., erscheint es allerdings geradezu naheliegend, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Angehörigen der Religionsgemeinschaft bestimmte Formen der Religionsausübung, namentlich öffentliche und gemeinschaftliche Formen, (nur) aus Furcht vor Verfolgung unterlässt.
Eine rechnerische Ermittlung des Verfolgungsrisikos könnte schließlich nur dann sinnvoll erfolgen, wenn sich die Zahl der Zeugen J., die ihre Religion vom Staat geduldet oder toleriert öffentlich oder gemeinschaftlich ausüben, bestimmen ließe. Nur die Relation der Anzahl strafrechtlicher Sanktionen einerseits und vom russischen Staat tolerierten formell strafbaren Verhaltensweisen andererseits könnte Aufschluss über die Verfolgungswahrscheinlichkeit geben. Der Vergleich der Anzahl der Sanktionen (Ermittlungsverfahren, Verhaftungen, Verurteilungen etc.) und Mitgliedern der Zeugen J. stellt insofern einen nur begrenzt tauglichen Maßstab dar.
Dies vorangestellt scheidet eine rein quantitative Ermittlung der Verfolgungswahrscheinlichkeit schon deswegen aus, weil sich den Erkenntnismitteln keine verlässlichen Hinweise darauf entnehmen lassen, dass die russischen Strafverfolgungsbehörden eine an sich von Art. 282.2 Strafgesetzbuch erfasste Religionsausübung geduldet hätten. Auch der Beklagte war auf ausdrückliche Anfrage des Gerichts nicht in der Lage, entsprechende Fälle zu benennen.
Angesichts dessen kann die Gefahr der Strafverfolgung von Zeugen J. in der Russischen Föderation nur anhand der von der Rechtsprechung entwickelten „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung. Es kommt – wie dargestellt – darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
(e) Unter Anlegung dieses qualifizierenden Maßstabes ist unter Beachtung des aktuellen Ausweichverhaltens der Zeugen J. in Russland und der großen Zahl ausgereister Zeugen J. sowie mit Rücksicht auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die systematischen Verbotsverfahren und die dargestellten Ermittlungsverfahren bzw. Verurteilungen Einzelner eine strafrechtliche Verfolgung von Zeugen J., die eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinschaft einnehmen oder ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben, beachtlich wahrscheinlich.
Das Gericht hat allerdings in den Erkenntnismitteln keinen Hinweis darauf gefunden, dass auch Zeugen J., die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären (so ausdrücklich auch BAF, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 31.8.2018, S. 8). Soweit dies den Erkenntnismitteln zu entnehmen ist, knüpften strafrechtliche Ermittlungen und Verurteilung – wenn nicht an eine organisatorische Tätigkeit – immer an den Vorwurf einer öffentlichen oder gemeinschaftlichen Religionsausübung im Weitesten Sinne an. Die bloße Zugehörigkeit zu den Zeugen J. begründet demnach – ungeachtet der Frage, wie sich eine solche bei einem weitgehenden Verzicht auf die religiöse Betätigung und der Auflösung der Organisationsstrukturen den Zeugen J. bestimmen ließe – keine beachtliche Verfolgungsgefahr.
(f) Der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung können sich betroffene Zeugen J. nicht durch ein Ausweichen in bestimmte Regionen der Russischen Föderation entziehen. Eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG steht ihnen nicht zur Verfügung. Alle 395 Regionalverbände der Zeugen J. wurden verboten (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Februar 2019, S. 7). Die strafrechtlichen Bestimmungen gelten landesweit. Verfolgungsmaßnahmen fanden in den letzten beiden Jahren – wie dargestellt – vom westrussischen Belgorod bis ins zentralsibirische Surgut statt. Auch die Beklagte konnte auf ausdrückliche Anfrage des Gerichts keine regionalen Unterschiede aufzeigen.
(g) Das Gericht ist schließlich der Überzeugung, dass es sich bei den dargestellten Verfolgungsmaßnahmen um Verfolgung aus Gründen der Religion und nicht etwa bloße Strafverfolgung zum Schutze allgemeiner individueller oder kollektiver Rechtsgüter handelt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht für die Abgrenzung des kriminellen vom politischen Charakter einer Bestrafung stets der Zweck der Strafe im Vordergrund. Steht hinter staatlichen Maßnahmen das Ziel, den Verfolgten allein oder doch jedenfalls auch aus politischen (religiösen) Gründen zu treffen, so ist eine politische Verfolgung auch dann gegeben, wenn sie der äußeren Form nach in das Gewand einer polizeilichen oder strafrechtlichen Maßnahme gekleidet ist (BVerwG, U.v. 17.5.1983 – 9 C 874/82 -, BVerwGE 67, 195 Rn. 21). Dabei sind die Formulierung der Tatbestände für sich genommen ebenso wenig ausschlaggebend wie ihre Interpretation nach den für unsere Rechtsordnung hergebrachten Auslegungsmethoden. Bedeutsam ist vielmehr eine Analyse der allgemeinen politischen Verhältnisse. Grobe Verletzungen des Prinzips der tatbestandlichen Bestimmtheit von Strafnormen sind allerdings ebenso wie eine evident fehlende Tat- und Schuldangemessenheit der angedrohten oder praktizierten Strafe Indizien für Verfolgungstendenzen.
Gemessen daran ist die dargestellte Verfolgung auf der Grundlage von Art. 282.2 StGB Verfolgung aus Gründen der Religion. Dafür spricht bereits, dass die Norm schon im Tatbestand die Organisation einer religiösen Vereinigung bzw. die Tätigkeit im Rahmen einer solchen Vereinigung nennt. Vor diesem Hintergrund kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Norm selbst an die Verbotsentscheidung eines Gerichtes anknüpft, die speziell und ausschließlich die Gemeinschaft der Zeugen J. betraf. Hinzukommen die enorme Weite des Tatbestands („Teilnahme an der Tätigkeit … einer verbotenen religiösen Gesellschaft“) und das sehr hohe Strafmaß. Hinsichtlich der allgemeinen politischen Verhältnisse sei lediglich darauf hingewiesen, dass am Anfang der Bemühungen um ein Verbot der Zeugen J. Mitte der 1990er Jahre ein Antrag einer Vereinigung stand, die mit der Russischen Orthodoxen Kirche assoziiert ist (vgl. dazu und zu weiteren Versuchen eines Verbotes EGMR, U.v. 22.11.2010 – 302/02), die wiederum für den russischen Staat eine zentrale Rolle spielt und die der Staat auch bevorzugt behandelt, etwa indem er verstärkt Kritik an ihr ahndet (vgl. etwa Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Februar 2019, S. 6 und 7).
Dass die Besonderheiten der Religionsgemeinschaft der Zeugen J., die ihr im Verbotsverfahren von Seiten der Behörden vorgehaltenen wurden (näher dazu EGMR, U.v. 22.11.2010 – 302/02), insbesondere ihr Richtigkeitsanspruch oder die Verweigerung von Bluttransfusionen, eine Einstufung als extremistische Organisation tragen könnten, deren Zerschlagung aus legitimen Gründen des Staats- oder Individualrechtsgutschutzes erforderlich wäre, liegt schon deshalb fern, weil die Zeugen J. z.B. in der Bundesrepublik Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt sind.
(h) Nach alledem haben Zeugen J. aus der Russischen Föderation einen Anspruch auf die Anerkennung als Flüchtling, wenn ihre individuelle religiöse Prägung erwarten lässt, dass sie im Falle einer unterstellten Rückkehr in die Russische Föderation (wieder) eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinschaft einnehmen oder ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben werden oder dass eine solche Betätigung allein aufgrund von Furcht vor Verfolgung unterbleiben würde. Ein solcher Anspruch besteht dagegen nicht, wenn angesichts der individuellen religiösen Prägung ein Verzicht auf verfolgungsträchtige Formen der Religionsausübung zumutbar erscheint.
(3) In Anwendung dieser Grundätze geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin zu 1. als Angehörige der Zeugen J. in einer Weise religiös geprägt ist, die erwarten lässt, dass sie in Russland ihren Glauben in verfolgungsträchtiger Weise ausüben oder hierauf nur aus Furcht vor Verfolgung verzichten würde.
(a) Bei der Feststellung der religiösen Identität als innerer Tatsache kann nur im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen geschlossen werden. Allein der Umstand, dass der Betroffene seinen Glauben in seinem Herkunftsland nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, ist nicht entscheidend, soweit es hierfür nachvollziehbare Gründe gibt. Ergibt jedoch die Prüfung, dass der Betroffene seinen Glauben auch in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in seinem Herkunftsland der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 22/12 – NVwZ 2013, 936/939, Rn. 26; siehe zum Ganzen VG Augsburg, U.v. 27.1.2014 – Au 6 K 13.30418 – juris Rn. 17). Erforderlich ist letztlich eine Gesamtwürdigung der religiösen Persönlichkeit des Betroffenen anhand aller vorliegenden Gesichtspunkte.
(b) Hiervon ausgehend ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Praktizierung ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und in Gemeinschaft mit anderen ein zentrales Element der religiösen Identität der Klägerin zu 1. und für sie unverzichtbar ist.
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung jeweils spontan, detailliert und anschaulich über ihre Glaubensausübung und die jeweiligen religiösen Hintergründe berichtet. Sie hat nachvollziehbar ihre eigenen Handlungen, Gedanken und Gefühle im Hinblick auf die eigene Scheidung dargelegt sowie sehr plastisch anhand eines konkreten Beispiels die glaubensgeleitete Lösung einer Erziehungsfrage geschildert und damit beim Gericht die Überzeugung hervorgerufen, dass die Klägerin ernsthaft versucht, ihr Leben von der Bewältigung von Alltagsproblemen bis hin zu tiefgreifenden persönlichen Entscheidungen an ihren religiösen Überzeugungen auszurichten. Besonders deutlich wird dies bei der Schilderung des faktischen Abbruchs des Kontaktes zu ihrem älteren Sohn nachdem dieser die Zeugen J. verlassen hatte. Ohne dieses Verhalten bewerten zu wollen, zeigt es doch, dass religiöse Überzeugungen einen außerordentlichen Einfluss auf das Verhalten der Klägerin zu 1. haben. Wenn die Klägerin vor diesem Hintergrund schildert, die Teilnahme an Versammlungen und der Missionsdienst gehörten seien integraler Bestandteil ihres Lebensstils und sie könne sich auch im Falle einer Rückkehr nach Russland nicht vorstellen, diese Tätigkeiten aufzugeben, hat das Gericht keinen Zweifel daran, dass dies tatsächlich der Fall ist.
2. Nachdem den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, war der gegenständliche Bescheid des Bundesamts aufzuheben, soweit er dem entgegensteht. Diese Aufhebung umfasst insbesondere die in Ziffer 5. des Bescheids gemäß §§ 34, 38 AsylVfG erlassene Abschiebungsandrohung, deren Grundlage entfallen ist.
II.
Die Klage des Klägers zu 2. ist dagegen zulässig aber (derzeit) überwiegend unbegründet. Ihm stehen die geltend gemachten Ansprüche (noch) nicht zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Allerdings ist die Befristungsentscheidung im angegriffenen Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger zu 2. in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Der Kläger zu 2. hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
a) Der Kläger zu 2. kann die Anerkennung als Flüchtling nicht aufgrund einer ihm selbst drohenden Verfolgung beanspruchen
Der Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling setzt – wie der Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter – die Gefahr politischer Verfolgung in der Person des betroffenen Asylsuchenden voraus. Diese Gefahr kann daher nicht aus der politischen Verfolgung eines Familienmitgliedes ohne weiteres abgeleitet werden. Stets ist aber in Betracht zu ziehen, dass Familienangehörige politisch Verfolgter der Gefahr ausgesetzt sein können, selbst verfolgt zu werden. Unter dem Gesichtspunkt sog. Drittbetroffenheit steht ein Schutzanspruch diesen nur zu, wenn die politische Verfolgung einzelner Familienmitglieder auf einem Verfolgungsgrund oder einer Verfolgungsabsicht beruht, die auch andere Familienmitglieder mit einbeziehen. Dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass die mittelbaren Wirkungen einer gegen einen anderen gerichteten Verfolgungsmaßnahme auch unmittelbar gegen den Drittbetroffenen wirken sollen. Davon ist auszugehen, wenn sich der Verfolgungswille von Anfang an oder später auch gegen den Drittbetroffenen richtet (vgl. zum ganzen zusammenfassend etwa OVG Saarland vom 22.2.1989 – 3 R 434/85 – juris Rn. 39 f. unter Verweis auf BVerfG, B.v. vom 19.12.1984 – 2 BvR 1517/84 -, NVwZ 85, 260 und BVerwG, U.v. 27.04.1982 – BVerwG 9 C 239.80 – BVerwGE 65, 244).
Die in der Rechtsprechung entwickelte Regelvermutung (dazu und zum Folgenden OVG Saarland vom 22.2.1989 – 3 R 434/85 – juris Rn. 39 f. m.w.N.), dass solche Verfolgungshandlungen gegen das Kind zu erwarten sind, setzt dabei voraus, dass Fälle festgestellt worden sind, in denen in dem betreffenden Verfolgerstaat minderjährige Kinder politisch verfolgter Eltern (bzw. eines Elternteils) asylrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen unterworfen wurden, aus denen gefolgert werden kann, dass dem Kind, über dessen Schutzantrag zu entscheiden ist, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das gleiche Schicksal droht. Sind konkrete Bezugsfälle nicht namhaft zu machen oder nicht eindeutig festzustellen, kann die Vermutung auch dann eingreifen, wenn auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem menschenverachtenden Charakter eines Verfolgerstaates aus sicheren Erkenntnisquellen hervorgeht, dass er vor Menschenrechtsverletzungen im oben dargestellten Sinn gegenüber nahen Angehörigen – wie Kindern und Ehegatten – politisch Verfolgter nicht haltmacht. Dazu ist erforderlich, dass ein individueller Nachweis von Bezugsfällen allein deshalb nicht möglich ist, weil die Lage in einem Staat für die dort tätigen Bediensteten der deutschen Auslandsvertretung und andere Beobachter nur schwer durchschaubar ist und Erkenntnisse nur eingeschränkt zu erhalten und – im Sinne einer Namhaftmachung – zu erhärten sind.
Gemessen daran kann das Gericht nicht erkennen, dass der Kläger zu 2. in der Russischen Föderation selbst Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wäre.
Abgesehen von einem Bericht, dass unter den Festgenommenen in Surgut auch Minderjährige gewesen sein sollen, lassen sich den Erkenntnismitteln keine Hinweise darauf entnehmen, dass jüngere Kinder von Zeugen J. mit einer Verhaftung oder gar Strafverfolgung zu rechnen hätten. Eine strafrechtliche Verfolgung würde dem siebenjährigen Kläger zu 2. auch schon deswegen nicht drohen, weil er offensichtlich auch nach russischem Recht nicht strafmündig ist. Unabhängig davon kann das Gericht bei ihm schon aufgrund des Alters und auch unter Berücksichtigung der Angaben der Klägerin zu 1. zu ihrem Bemühen, ihn im Glauben zu erziehen eine besondere religiöse Prägung (zu diesem Erfordernis auch bei Kindern vgl. BVerwG, U.v. 17.8.1993 – 9 C 8/93 – juris Rn. 13), die ihn in absehbarer Zeit veranlassen könnte, in verfolgungsträchtiger Weise tätig zu werden, nicht feststellen.
Soweit den Erkenntnismitteln zu entnehmen ist, dass mit einer Entscheidung des Plenums des Obersten Gerichts vom November 2017 jedenfalls der juristisch-theoretische Unterbau geschaffen wurde, um Zeugen J. die elterliche Sorge zu entziehen, wenn sie ihre Kinder mit der Organisation der Zeugen J. in Kontakt bringen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Februar 2019, S. 7), würde sich eine tatsächliche Entziehung insofern auch als eine gegen das jeweilige Kind gerichtete Verfolgungsmaßnahme darstellen. Allerdings betont das Auswärtige Amt (a.a.O.), dass es insofern bislang zu keinen Fall der Trennung der Eltern von ihren Kindern gekommen sei. Auch sonst lassen sich den Erkenntnismitteln und dem klägerischen Vortrag keine Hinweise dafür entnehmen, dass die russischen Behörden derzeit von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Dass ein individueller Nachweis von Bezugsfällen allein deshalb nicht möglich ist, weil die Lage in der Russischen Föderation für die dort tätigen Bediensteten der deutschen Auslandsvertretung und andere Beobachter nur schwer durchschaubar und Erkenntnisse nur eingeschränkt zu erhalten wären, ist angesichts der Fülle der Informationen und nicht zuletzt der systematischen Dokumentation von Verfolgungshandlungen durch die Gemeinschaft der Zeugen J. selbst nicht anzunehmen.
b) Der Kläger zu 2. hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 2, Abs. 5 AsylG, weil der Klägerin zu 1. in Ermangelung der Rechtskraft dieser Entscheidung die Flüchtlingseigenschaft nicht unanfechtbar zuerkannt ist. Ihm kann von der Beklagten die Flüchtlingseigenschaft als Familienangehöriger gemäß § 26 AsylG in einem Folgeverfahren (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.2002 – 1 C 10.02 – juris Rn. 6 ff.) erst zuerkannt werden, sobald die Flüchtlingsanerkennung der Klägerin zu 1. unanfechtbar ist.
Eine Verpflichtung der Beklagten, Familienangehörige schon vorher – aufschiebend bedingt durch die Unanfechtbarkeit der Anerkennung des Stammberechtigten (§ 36 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 Nr. 2 VwVfG) – als Flüchtlinge gemäß § 26 AsylG anzuerkennen, kommt nicht in Betracht (vgl. hierzu und zum Folgenden OVG Bautzen U.v. 7.2.2018 – 6 A 696/16 – BeckRS 2018, 2127, beck-online m.w.N.). Abgesehen davon, dass die Beklagte über eine solche Bedingung nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet, könnte sie die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung nach § 26 AsylG nicht sicherstellen. Denn erst bei Unanfechtbarkeit der Flüchtlingsanerkennung des Stammberechtigten ist zu prüfen, ob dann die übrigen Voraussetzungen des § 26 AsylG bei den Familienangehörigen (noch) vorliegen, etwa keine Ausschlussgründe nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylG. Deshalb scheidet auch eine durch die Unanfechtbarkeit der Anerkennung des Stammberechtigten bedingte – gerichtliche – Verpflichtung der Beklagten zur Flüchtlingsanerkennung nach § 26 AsylG aus.
In diesem Zusammenhang weist das Gericht darauf hin, dass es von der Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO bis zur Unanfechtbarkeit der Entscheidung über die Flüchtlingseigenschaft der Klägerin zu 1. auch deswegen keinen Gebrauch gemacht hat, um dem Kläger zu 2. die Möglichkeit zu geben, seinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grundlage einer eigenen drohenden Verfolgung zeitnah im Berufungszulassungsverfahren weiter zu verfolgen. Als (für den Kläger zu 2. möglicherweise bedeutsamen) Reflex einer originären Flüchtlingsanerkennung, könnte seinem personensorgeberechtigter Vater in diesem Fall ein Anspruch nach § 26 Abs. 3, Abs. 5 AsylG zustehen. Die (zugegebenermaßen sehr ungewisse) Perspektive bestünde weder im Falle einer Aussetzung des vorliegenden Verfahrens noch im Falle der (künftigen) Zuerkennung von bloßem Familienflüchtlingsschutz für den Kläger zu 2. In letzterem Falle könnte dem Vater des Klägers zu 2. die Flüchtlingseigenschaft nicht nach § 26 AsylG zuerkannt werden, weil dem der Ausschlussgrund des § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG entgegenstünde. § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG ist trotz seines engeren Wortlauts weit dahingehend auszulegen, dass eine Gewährung von abgeleitetem Schutz nach § 26 AsylG von einem Familienangehörigen, der selbst diesen Schutzstatus über § 26 AsylG erhalten hat, nicht möglich ist (ausführlich dazu BayVGH, U.v. 26.4.2018 – 20 B 18.30332 – juris Rn. 27 ff.).
2. Der Kläger zu 2. hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG oder auf die Feststellung eines Zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AsylG. Solche Ansprüche kämen allenfalls unter dem Gesichtspunkt in Frage, dass der Kläger aufgrund der (aus der heutigen Perspektive absehbaren) Flüchtlingsanerkennung seiner Mutter ohne diese nach Russland zurückkehren müsste (zur Rückkehrprognose, wenn ein Familienmitglied in Deutschland einen Schutzstatus innehat BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris) und damit die Sicherung seiner Existenzgrundlage fraglich wäre. Im Falle des Klägers zu 2. wäre insofern jedoch zu berücksichtigen, dass die Klage seines Vaters mit Urteil vom heutigen Tage abgewiesen wurde und insofern – wenn überhaupt – von einer Rückkehr des Klägers zu 2. zusammen mit seinem Vater auszugehen wäre. Andernfalls käme eine Abschiebung ohnehin nur in Betracht, wenn sich die Ausländerbehörde nach § 58 Abs. 1a AufenthG zuvor vergewissert hat, dass er einer personensorgeberechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird. Insofern wird in jedem Fall gesichert sein, dass der Kläger zu 2. nicht in eine menschenrechtswidrige Gefahrenlage im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder § 60 Abs. 5 kommen würde.
Ungeachtet der Beschränkung des Prüfungsstoffs im Asylverfahren auf zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote weist das Gericht zudem darauf hin, dass eine Abschiebung des Klägers zu 2. ohne die Klägerin zu 1. vor dem Hintergrund der von der Ausländerbehörde zu prüfenden Schutzwirkung von Ehe und Familie (Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) offensichtlich ausgeschlossen sein dürfte, solange sich die Klägerin zu 1. als sorgeberechtigte und die Personensorge wahrnehmende Mutter im Bundesgebiet aufhält.
3. Die Befristungsentscheidung der Beklagten ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) allerdings rechtswidrig und verletzt den Kläger zu 2. in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 11 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, weder erneut in das Bundesgebiet einreisen, noch sich darin aufhalten, noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden (Einreise- und Aufenthaltsverbot). Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden. Nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG darf die Frist fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG entscheidet das Bundesamt (unter anderem) im Falle einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34, 35 AsylG über die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots.
Bei der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung, bei der die persönlichen Belange des Betreffenden an einer Wiedereinreise und einem erneutem Aufenthalt im Bundesgebiet sowie die öffentlichen Interessen an der Fernhaltung des Ausländers vom Bundesgebiet zu berücksichtigen sind (vgl. dazu und zum folgenden BayVGH, B.v. 6.4.2017 – 11 ZB 17.30317 – juris Rn. 12). Der Behörde steht dabei ein Ermessensspielraum zu. Fallübergreifende, verallgemeinerungsfähige Kriterien können hierzu nicht festgelegt werden.
Nach § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) ist das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und sind die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG dient dazu, einen Ausländer der entweder ausgewiesen wurde, versucht hat, unerlaubt einzureisen oder nicht fristgerecht ausgereist ist und deshalb abgeschoben wurde, wegen dieser Gesetzesverstöße eine angemessene Zeit vom Bundesgebiet fernzuhalten (dazu und zum Folgenden BayVGH, B.v. 6.4.2017 – 11 ZB 17.30317 – juris Rn. 13). Dabei sind nach dem Zweck der Vorschrift die persönlichen Belange des Ausländers zu berücksichtigen, die nach der Ausweisung, der Zurückschiebung oder der Abschiebung eine baldige Wiedereinreise erforderlich machen. Orientiert an diesem Zweck können keine Aspekte berücksichtigt werden, die alleine gegen die zwangsweise Beendigung des Aufenthalts sprechen (z.B. eine Ausbildung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 und 4 AufenthG), sondern es sind die Belange einzustellen, die die Beendigung des Aufenthalts überdauern und Bedeutung für eine möglichst baldige Wiedereinreise haben. Dazu gehören z.B. verwandtschaftliche Bindungen an Personen im Bundesgebiet, durch einen langen rechtmäßigen Voraufenthalt anderweitig verfestigte Bindung an das Bundesgebiet und Umstände in der Person des Ausländers, wie z.B. hohes Alter oder Krankheit, die ggf. eine spätere Wiedereinreise unmöglich machen (BayVGH a.a.O.).
Gemessen daran kann die Befristungsentscheidung der Beklagten im Hinblick auf den Kläger zu 2. keinen Bestand haben. Sie hat die Bindung des Klägers zu 2. zur Klägerin zu 1., die aufgrund des vorliegenden Urteils die Bundesrepublik Deutschland auf absehbare Zeit nicht verlassen wird, – naturgemäß – nicht berücksichtigt, da das Bundesamt bei Erlass des angegriffenen Bescheides noch von der gemeinsamen Rückkehr der gesamten Familie ausgegangen ist.
III.
Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens entsprechend ihrem jeweiligen Obsiegen bzw. Unterliegen (§§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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