Verwaltungsrecht

Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 13 K 17.31081

Datum:
26.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 163016
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 3
Qualifikations-RL Art. 12 Abs. 1 lit. a

 

Leitsatz

§ 3 Abs. 3 AsylG ist im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 lit. a Qualifikationsrichtlinie unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass bei Wegfall des Schutzes des UNRWA unter bestimmten Voraussetzungen ipso facto von einer Flüchtlingseigenschaft auszugehen ist, es dann folglich einer Prüfung des § 3 Abs. 1 AsylG nicht mehr bedarf, und einer beantragten Zuerkennung in einem solchen Fall daher nur sonstige Ausschlussgründe entgegen gehalten werden könnten. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.    Unter Aufhebung von Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Januar 2017 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht kann mit Einverständnis der Prozessparteien ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage hat in der Sache Erfolg, da dem Kläger ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Der Kläger hat als Mandatsflüchtling des UNRWA Anspruch auf die Anerkennung als Flüchtling, ohne dass es der Erfüllung der allgemeinen Flüchtlingsmerkmale des § 3 Abs. 1 AsylG bedarf.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention/ GK), wenn er sich
a. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
b. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
aa) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
bb) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
§ 3 Abs. 2 und 3 AsylG beinhalten ebenso wie § 3 Abs. 4 AsylG Ausschlussgründe, bei deren Vorliegen der Betroffene nicht als Flüchtling gilt bzw. von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgesehen wird, auch wenn die Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sein sollten.
Absatz 2 betrifft dabei Fälle, bei denen aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Antragsteller eine der dort aufgeführten Straftaten begangen hat (u.a. Kriegsverbrechen und schwere nichtpolitische Straftaten).
Nach Abs. 3 Satz 1 ist auch kein Flüchtling im Sinne des Absatz 1, wer den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR nach Art. 1 Abschnitt D GK genießt. Die Regelung bezieht sich auf Palästina-Flüchtlinge, die in Jordanien, Syrien, im Libanon und im Gaza-Streifen leben und von dem UNRWA betreut werden. Abs. 3 Satz 2 bestimmt, dass aber auch in Bezug auf diese Personengruppe die Abs. 1 und 2 des § 3 AsylG anwendbar sind – diese also Flüchtlinge im Sinne der GK sein können -, wenn ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist.
Diese Regelung ist im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikationsrichtlinie wie auch deren Neufassung (RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011) dabei unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass bei Wegfall des Schutzes des UNRWA unter bestimmten Voraussetzungen ipso facto von einer Flüchtlingseigenschaft auszugehen ist, es dann folglich einer Prüfung des Abs. 1 des § 3 AsylG nicht mehr bedarf, und einer beantragten Zuerkennung in einem solchen Fall daher nur sonstige Ausschlussgründe entgegen gehalten werden könnten (vgl. hierzu EuGH, U.v. 19.12.2012 – C-364/11 – juris; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand Nov. 2016, § 3 Rn. 17). Insbesondere kommt eine solche Beurteilung in Betracht (vgl. EuGH, U.v. 19.12.2012 Rn. 63), wenn der Betroffene das Einsatzgebiet des UNRWA gezwungenermaßen verlässt, was auch dann bejaht werden kann, wenn Anlass hierfür der Umstand ist, dass er sich in „einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dieser Organisation unmöglich ist, ihm in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen“.
2. Diese Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG sind vorliegend erfüllt: Das Gericht ist aufgrund der im Verfahren vorgelegten Bescheinigung des UNRWA und des syrischen Personalausweises für Palästinenser sowie dem Vorbringen des Klägers davon überzeugt, dass es sich bei dem Kläger um einen staatenlosen Palästinenser handelt, der unter dem Schutz des UNRWA stand und sich seit seiner Geburt in Syrien aufhielt. Da gegenwärtig ein faktisch verfolgungshindernder Schutz oder Beistand für palästinensische Flüchtlinge durch das UNRWA in Syrien offenkundig nicht gewährleistet ist und auch der Schutz des UNRWA in einem Nachbarstaat Syriens für den Kläger faktisch nicht erreichbar ist, (siehe hierzu neben den Erkenntnismitteln zur allgemeinen Situation in Syrien auch die Antwort der Bundesregierung vom 20.04.2016 auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Anette Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Linke „Zur Situation des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten und der aus Syrien geflüchteten Palästinenserinnen und Palästinenser“ – BT-Drs. 18/8201 sowie UNRWA, FAQs und „Syria Regional Crisis Emergency Appeal“ und Deutsche Welle v. 06.04.2015: UNRWA „Jarmuk ist ein Höllenloch“ (Interview) sowie zur Frage der Schutzgewährung in Nachbarländern ACCORD, Anfragebeantwortung vom 13.05.2014 sowie Human Rights Watch vom 07.08.2014: „Jordanien: Aus Syrien fliehende Palästinenser abgewiesen“) ist nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG die Ausschlussklausel des Satzes 1 der Bestimmung nicht anwendbar.
Da auch keiner der übrigen Ausschlussgründe in § 3 Abs. 2 und § 3 Abs. 4 AsylG ersichtlich ist, lebt der Flüchtlingsschutz für palästinensische Flüchtlinge des Klägers folglich automatisch und ohne das Erfordernis einer erneuten Prüfung der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft (ipso facto) wieder auf, mit der Folge, dass dem Kläger auf seinen Antrag hin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu gewähren ist. Der Klage war daher unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheids stattzugeben.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 83 b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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