Verwaltungsrecht

Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen Abschiebungsanordnung nach Italien

Aktenzeichen  M 22 S 15.50585

Datum:
16.2.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 133596
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 27a
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2

 

Leitsatz

Die Frage, ob im Asylverfahren bzw. den Aufnahmebedingungen in Italien systemische Mängel vorliegen, kann nicht abschließend beantwortet werden und bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für … vom 29. Mai 2015 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste eigenen Angaben zufolge am 3. Januar 2015 in das Bundesgebiet ein und stellte am 20. Februar 2015 einen Asylantrag. Nachdem eine Eurodac-Abfrage einen Treffer für Italien ergeben hatte, bat das Bundesamt für … (im Folgenden: Bundesamt) mit Schreiben vom 15. April 2015 die zuständige italienische Behörde (Dublin Unit) um Wiederaufnahme des Antragstellers. Diesem Gesuch stimmte die Dublin Unit unter Bezugnahme auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-Verordnung mit Schreiben vom 29. April 2015 zu.
Mit Bescheid vom 29. Mai 2015 lehnte das Bundesamt daraufhin den Asylantrag gemäß § 27 a AsylVfG (jetzt: AsylG) ab und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an. In den Bescheidsgründen wurde unter Bezugnahme auf eine Vielzahl von Judikaten (im Wesentlichen aus den Jahren 2014 und früher) ausgeführt, dass hinsichtlich des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien keine systemischen Mängel vorlägen.
Gegen den ihm am 18. Juni 2015 zugestellten Bescheid ließ der Antragsteller am 25. Juni 2015 Klage erheben. Weiter beantragt er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung von Klage und Antrag wurde vorgetragen, dass in Italien systemische Mängel des Asylverfahrens bestünden. Dazu wurde u.a. auf einen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Mai 2011 hingewiesen. Es sei davon auszugehen, dass nicht garantiert werden könne, dass der Antragsteller im Falle einer Rückkehr nach Italien einen Unterbringungsplatz erhalten würde.
Mit Schriftsatz vom 1. Juli 2015 übersandten die Bevollmächtigten des Antragstellers ein Attest eines Dipl. Psych. Psychotherapeuten vom 26. Juni 2015, wonach der Antragsteller an u.a. an einer psychischen Traumatisierung leide und derzeit eine Reisefähigkeit nicht gegeben sei (Suizidgefahr).
Die Antragsgegnerin hat sich im Verfahren nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 29. Mai 2015 ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Nach der in diesem Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung stellen sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen dar. Die im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Antrag vorzunehmende Interessenabwägung fällt bei dieser Sachlage zugunsten des Antragstellers aus.
1. Wesentlich für diese Bewertung ist der Umstand, dass Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen mit Blick auf eine möglicherweise zu erwartende Verletzung des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) bedingt durch die Verhältnisse, mit denen sich der Antragsteller als abgeschobener Asylbewerber in Italien konfrontiert sähe.
Auf der Grundlage der Aussagen in den aktuellen Erkenntnismitteln erscheint insbesondere fraglich, ob der Antragsteller bei einer Rückführung nach Italien sogleich Zugang zum Aufnahmesystem für Asylbewerber im Hinblick auf eine Unterkunft und die Sicherstellung des Lebensunterhalts hätte. Nach den Feststellungen in der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das Verwaltungsgericht Schwerin vom 23. April 2015, die auf den Länderbericht von AIDA, Stand: Januar 2015, Bezug nimmt (siehe hierzu nunmehr den AIDA Länderbericht Italien, Stand: Dezember 2015, S. 62, wonach sich an der Situation anscheinend nichts geändert hat; vgl. auch die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 25.03.2015 an das VG Schwerin), gibt es insbesondere in den großen Städten eine Lücke zwischen dem Asylgesuch und seiner formellen Registrierung. Es könne Wochen bis Monate dauern, bis die sog. Verbalizzazione erfolge. In dieser Zeit hätten die Asylsuchenden „allenfalls“ keinen Zugang zu Unterbringung und medizinischer Versorgung, die über eine Notfallversorgung hinausgehe. Mittellose Asylbewerber seien in dieser Zeit obdachlos, außer sie könnten vorübergehend bei Bekannten oder in Notschlafstellen unterkommen. Statistiken dazu, wie viele Personen von diesem Problem betroffen seien, gebe es allerdings nicht. Für Dublin-Rückkehrer (auch solche, die bereits einen Asylantrag in Italien gestellt haben) stellt sich die Situation soweit ersichtlich vergleichbar dar (vgl. hierzu AIDA Länderbericht Italien, Stand: Dezember 2015, S. 63 f.).
Anzumerken ist weiter, dass die Problematik auch vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass die Kapazitäten der für die Unterbringung von Asylbewerbern vorgesehenen Einrichtungen angesichts des Anstiegs der Zahl der Schutzsuchenden im Zuge der sog. Flüchtlingskrise offenkundig bei weitem nicht ausreichend sind. Angesichts der aktuellen Entwicklungen verbietet es sich daher auch, hinsichtlich der Beurteilung der Situation auf die Feststellungen bzw. Wertungen in älteren Gerichtsentscheidungen abzustellen.
Müsste der Antragsteller für den Fall seiner Rückkehr nach Italien tatsächlich damit rechnen, längerfristig obdachlos zu sein, ehe ihm ein Unterkunftsplatz zur Verfügung gestellt werden kann, so wäre dies auch in Ansehung der dem italienischen Staat (nach dem Gemeinschaftsrecht) obliegenden Verpflichtungen gegenüber (mittellosen) Asylbewerbern wohl als Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta (bzw. Art. 3 EMRK) zu werten, was zur Folge hätte, dass auch eine Abschiebung nach Italien durch die deutschen Behörden zu unterbleiben hätte (andernfalls auch diesen ein Verstoß gegen Art. 4 EU-Grundrechtecharta vorzuwerfen wäre). Da nach den vorliegenden Erkenntnissen aber eine solche Gefahrenlage für den Fall der Abschiebung wie dargestellt jedenfalls möglich (wenn nicht sogar naheliegend) erscheint, ist es nach Auffassung des Gerichts hier geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Eine abschließende Klärung der inmitten stehenden Fragen muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben (vgl. zum Ganzen in Bezug auf Schutzsuchende, die nicht wie etwa Familien mit kleinen Kindern als besonders vulnerabel gelten, ein Abschiebungsverbot bzw. systemische Mängel bejahend: VG Düsseldorf, U.v. 15.12.2015 – 12 K 7303/15.A – juris; VG Potsdam, GB.v. 30.9.2015 – VG 4 K 2689/14.A – abrufbar über die Rechtsprechungsdatenbank in asyl.net; VG Hannover, U.v. 7.9.2015 – 10 A 13369/14 – asyl.net; VG München, U.v. 28.7.2015 – M 24 K 15.50498 – juris; solche Mängel dagegen verneinend: VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris; VG München, U.v. 3.11.2015 – 12 K 15.50799 – juris und VG Augsburg, U.v. 19.10.2015 – Au 5 K 15.50416 – juris).
2. Auf die Frage, ob auch im Hinblick auf den Vortrag des Antragstellers zu dessen Erkrankung eine Abschiebung unzulässig sein könnte (wenn ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis anzunehmen wäre), muss daher hier nicht mehr eingegangen werden (zu den Anforderungen bezüglich der Darlegung einer PTBS vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8/07 – juris; zur Aussetzung einer Abschiebung bei Suizidgefahr vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 8.10.2015 – OVG 12 S 60.15 – juris).
3. Für das weitere Verfahren sei vorsorglich bemerkt, dass, sollte sich die Einschätzung zur Gefahr einer längerfristigen Obdachlosigkeit bestätigen, hieraus nicht notwendig zu folgern wäre, dass insoweit ein systemischer Mangel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-Verordnung zu konstatieren wäre. Vielmehr würde sich dann ggf. die Frage stellen, ob nicht im Wege einer vom Bundesamt zu veranlassenden Abstimmung mit den italienischen Behörden die eine Abschiebung hindernden Umstände ausgeräumt werden könnten (durch Einholung einer verbindlichen Zusicherung der italienischen Behörden wie in den Fällen bei beabsichtigter Abschiebung von besonders vulnerablen Personen). Ein solches Vorgehen könnte unter Umständen auch mit Blick auf die Erkrankung des Klägers angezeigt sein (wenn davon auszugehen wäre, dass medizinische Gründe einer Abschiebung nicht grundsätzlich entgegenstehen). Allerdings scheint es sich so zu verhalten, dass die italienischen Behörden gegenwärtig nicht mehr bereit sind, individuelle Zusicherungen abzugeben (vgl. dazu Hocks, Asylmagazin 6/2015, S. 185).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).


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