Verwaltungsrecht

Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen drohende Abschiebung nach Italien

Aktenzeichen  M 22 S 15.50896

Datum:
11.2.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 133593
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 27a, § 34a
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Die Frage, ob systemische Mängel im Asylverfahren bzw. den Aufnahmebedingungen in Italien vorliegen, kann nicht abschließend geklärt werden und bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes für … vom 28. Oktober 2015 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben senegalesischer Staatsangehöriger, stellte am 11. Mai 2015 einen Asylantrag. Nachdem das Bundesamt für … (im Folgenden: Bundesamt) aufgrund eines Eurodac-Treffers festgestellt hatte, dass der Antragsteller bereits in Italien um internationalen Schutz nachgesucht hatte, wandte es sich am 11. August 2015 an die italienische Dublin Unit mit der Bitte um Wiederaufnahme des Antragstellers im Vollzug der Dublin III-Verordnung. Dieses Gesuch blieb unbeantwortet.
Mit Bescheid vom 28. Oktober 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an.
In den Bescheidsgründen wurde ausgeführt, da die italienische Dublin Unit auf das Wiederaufnahmegesuch nicht geantwortet habe, sei davon auszugehen, dass dem Gesuch stattgegeben werde, was die Verpflichtung nach sich ziehe, die betreffende Person in Italien wieder aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für deren Ankunft zu treffen.
Der in Deutschland gestellte Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylG unzulässig, da Italien aufgrund des dort gestellten Antrags für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung beruhe auf § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Gegen den ihm am 5. November 2015 zugestellten Bescheid ließ der Antragsteller am 9. November 2015 Klage erheben. Weiter beantragt er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen, die Rückführung nach Italien sei angesichts der „katastrophalen Flüchtlingslage“ nicht möglich. Es sei überraschend, dass zwar einerseits die europäische Solidarität eingefordert werde, andererseits diese aber gegenüber Ländern wie Italien und Griechenland nicht gegeben sei.
Die Antragsgegnerin hat sich zu dem Antrag nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 28. Oktober 2015 ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Nach der in diesem Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung stellen sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen dar. Die im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Antrag vorzunehmende Interessenabwägung fällt bei dieser Sachlage zugunsten des Antragstellers aus.
Wesentlich für diese Bewertung ist der Umstand, dass Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen mit Blick auf eine möglicherweise zu erwartende Verletzung des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) bedingt durch die Verhältnisse, mit denen sich der Antragsteller als abgeschobener Asylbewerber in Italien konfrontiert sähe.
Auf der Grundlage der Aussagen in den vorliegenden Erkenntnismitteln erscheint insbesondere fraglich, ob der Antragsteller bei einer Rückführung nach Italien sogleich Zugang zum Aufnahmesystem für Asylbewerber im Hinblick auf eine Unterkunft und die Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts hätte. Nach den Feststellungen in der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das Verwaltungsgericht Schwerin vom 23. April 2015, die auf den Länderbericht von AIDA, Stand: Januar 2015, Bezug nimmt (siehe hierzu nunmehr den AIDA Länderbericht Italien, Stand: Dezember 2015, S. 62, wonach sich an der Situation anscheinend nichts geändert hat; vgl. auch die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 25.03.2015 an das VG Schwerin), gibt es insbesondere in den großen Städten eine Lücke zwischen dem Asylgesuch und seiner formellen Registrierung. Es könne Wochen bis Monate dauern, bis die sog. Verbalizzazione erfolge. In dieser Zeit hätten die Asylsuchenden „allenfalls“ keinen Zugang zu Unterbringung und medizinischer Versorgung, die über eine Notfallversorgung hinausgehe. Mittellose Asylbewerber seien in dieser Zeit obdachlos, außer sie könnten vorübergehend bei Bekannten oder in Notschlafstellen unterkommen. Statistiken dazu, wie viele Personen von diesem Problem betroffen seien, gebe es allerdings nicht. Für Dublin-Rückkehrer (auch solche, die bereits einen Asylantrag in Italien gestellt haben) stellt sich die Situation soweit ersichtlich vergleichbar dar (vgl. hierzu AIDA Länderbericht Italien, Stand: Dezember 2015, S. 63 f.). Anzumerken ist weiter, dass die Problematik auch vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass die Kapazitäten der für die Unterbringung von Asylbewerbern vorgesehenen Einrichtungen angesichts der hohen Flüchtlingszahlen offenkundig nicht ausreichend sind.
Müsste der Antragsteller für den Fall seiner Rückkehr nach Italien tatsächlich damit rechnen, längerfristig obdachlos zu sein, ehe ihm ein Unterkunftsplatz zur Verfügung gestellt werden kann, so wäre dies auch in Ansehung der dem italienischen Staat (nach dem Gemeinschaftsrecht) obliegenden Verpflichtungen gegenüber (mittellosen) Asylbewerbern – unbeschadet der Beurteilung des Sachverhalts im Hinblick auf die Regelung des Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-Verordnung – wohl als Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta (bzw. Art. 3 EMRK) zu werten, was zur Folge hätte, dass auch eine Abschiebung nach Italien durch die deutschen Behörden zu unterbleiben hätte (andernfalls auch diesen ein Verstoß gegen Art. 4 EU-Grundrechtecharta vorzuwerfen wäre). Da nach den vorliegenden Erkenntnissen aber eine solche Gefahrenlage für den Fall der Abschiebung wie dargestellt jedenfalls möglich (wenn nicht sogar naheliegend) erscheint, ist es nach Auffassung des Gerichts hier geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, da eine abschließende Klärung der inmitten stehenden Fragen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss und dem Antragsteller, was den Vollzug der Anordnung angeht, auch nicht zugemutet werden kann, sich auf nachträglichen Rechtsschutz verweisen zu lassen (vgl. zum Ganzen in Bezug auf Schutzsuchende, die nicht wie etwa Familien mit kleinen Kindern als besonders vulnerabel gelten, ein Abschiebungsverbot bzw. systemische Mängel bejahend: VG Düsseldorf, U.v. 15.12.2015 – 12 K 7303/15.A – juris; VG Potsdam, GB.v. 30.9.2015 – VG 4 K 2689/14.A – abrufbar über die Rechtsprechungsdatenbank in asyl.net; VG Hannover, U.v. 7.9.2015 – 10 A 13369/14 – asyl.net; VG München, U.v. 28.7.2015 – M 24 K 15.50498 – juris; solche Mängel dagegen verneinend: VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris; VG München, U.v. 3.11.2015 – 12 K 15.50799 – juris und VG Augsburg, U.v. 19.10.2015 – Au 5 K 15.50416 – juris).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).


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