Verwaltungsrecht

Armenien, isolierte Feststellung von Abschiebungsverboten, Kläger nach zuvor erfolgter freiwilliger Ausreise wieder nach Deutschland eingereist, Krankheiten (Hodgkin-Lymphom, Depressionen), Existenzminimum, Verfügbarkeit von Medikamenten

Aktenzeichen  W 6 K 20.31415

Datum:
17.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 18854
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg, denn der Bescheid des Bundesamts vom 1. Dezember 2020 – soweit er in der vorliegenden Klage noch mit Ziffer 2 verfahrensgegenständlich ist – ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es kann dahingestellt bleiben, ob der Antrag des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt, denn ein Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG liegt bei dem Kläger nicht vor. Der Kläger hat daher weder einen Anspruch auf eine Änderung des streitgegenständlichen Bescheids unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG noch auf ein sogenanntes „Wiederaufgreifen im weiteren Sinne“ nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V. m. § 48 Abs. 1 Satz 1, § 49 Abs. 1 VwVfG. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid. Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
1.
Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Armenien liegt nicht vor. Insbesondere ergibt sich ein solches nicht aus Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6). Nach der Rechtsprechung des EGMR reicht der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK annehmen zu können. Ausländer können auch kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Denn die EMRK zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Anderes gilt nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen zielstaatsbezogene humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (EGMR [GK], U.v. 27.5.2008 – N./Vereinigtes Königreich, Nr. 26565/05 – NVwZ 2008, 1334 Rn. 42; siehe auch BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 23, 25). Für den Geltungsbereich von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh), der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, hat sich der EuGH dieser Bewertung angeschlossen und ausgeführt, diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre (erst) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit von Behörden zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 92 unter Verweis auf EGMR, U.v. 21.11.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – juris Rn. 252 f.). Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 93; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 – juris Rn. 91; vgl. auch Bülow, ZAR 2020, 72 [73]).
Im Hinblick auf den Grad der Wahrscheinlichkeit stellt der EGMR darauf, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6 m.w.N.). Dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dabei dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent und es kann daher nicht ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis verlangt werden, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (EGMR, U.v. 9.1.2018 – X./Schweden, Nr. 26417/16 – BeckRS 2018, 52619 Rn. 50).
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor. Das Gericht ist davon überzeugt, dass im Falle des Klägers – auch unter der Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse – zwingende humanitäre Gründe nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegen eine Rückkehr nach Armenien sprechen. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger dort in der Lage sein wird, sich eine Lebensgrundlage (zumindest am Rande des Existenzminimums) mithilfe seiner Invalidenrente, unter zusätzlicher Inanspruchnahme des armenischen Sozialsystems sowie der zahlreichen karitativen Organisationen, sowie ggf. einer leichten beruflichen Tätigkeit und Unterstützung durch die Familie zu sichern.
Die allgemeinen humanitären Verhältnisse in Armenien stellen sich nicht generell als derartig defizitär dar, als dass aufgrund dessen unterschiedslos für alle Personen bzw. den Personenkreis, dem der Kläger angehört, von einer Verletzung von Art. 3 EMRK auszugehen ist. Der Kläger ist im Bedarfsfalle gehalten, die Möglichkeiten des armenischen Sozialsystems auszuschöpfen, um sich ein Existenzminimum zu sichern. In Armenien existieren diverse soziale Beihilfen für alle armenischen Staatsangehörigen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Armenien vom 2.10.2020, S. 40 ff.). Das Ministerium für Arbeit und Soziales (MLSA) implementiert etwa Programme zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung und älteren Personen. Der Zugang zu diesen Leistungen erfolgt über die 51 Büros des staatlichen Sozialversicherungsservice (IOM, Länderinformationsblatt Armenien 2020, S. 8). Nach eigenen Angaben erhielt der Kläger in Armenien eine Invalidenrente i.H.v. 26.500 armenischen Dram (AMD) und es ist davon auszugehen, dass er diese Invalidenrente bei seiner Rückkehr erneut erhalten wird. Dies entspricht ungefähr der Hälfte des offiziellen Mindestlohns von 55.000 AMD (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Armenien vom 3.3.2021, S. 34). Im Übrigen ist auf die möglichen Rückkehr- und Starthilfen für freiwillige Rückkehrer nach Armenien nach dem REAG/GARP-Programm hinzuweisen. Damit ist die Finanzierung eines einfachen Lebensunterhalts in den ersten Monaten nach der Rückkehr nach Armenien grundsätzlich möglich. Hierbei kommt es nicht darauf an, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn es kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – BVerwGE 104, 265). So war es dem Kläger nach eigenen Aussagen möglich, sich dank der Rückkehrhilfen und einem Businessplan (Protokoll über die Anhörung v. 23.11.2020, S. 5) eine eigene Wohnung zu mieten und in eine Tierhaltung zu investieren, um sich so eine eigene Existenz aufzubauen. Darüber hinaus konnte es sich der Kläger leisten, sich Medikamente auf dem Schwarzmarkt zu besorgen. Zusätzlich besteht für den Kläger die Möglichkeit, sich in Armenien an die zahlreich tätigen wohltätigen Organisationen und Organisationen mit humanitärer Mission, die sich auf alle Bereiche erstrecken, zu wenden. Das armenische Rote Kreuz leistet soziale, ärztliche und psychologische Unterstützung etwa für alleinstehende Senioren, Flüchtlinge und Kinder (vgl. dazu etwa Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 21.12.2017; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Armenien vom 12.12.2018, S. 31 ff.). Der Kläger ist insoweit gehalten, alle Möglichkeiten auszuschöpfen.
Überdies erachtet das Gericht es nicht für glaubhaft, wenn der Kläger vorträgt, dass er keinerlei Kontakt mehr zu seiner Ehefrau oder den gemeinsamen erwachsenen drei Kindern hat. So hat der Kläger während seines Aufenthalts in Armenien vor seiner Wiedereinreise mit seiner Familie zusammengelebt und regulären Kontakt gehabt. Ausweislich seiner Anhörung brach im Laufe seines Aufenthalts in Armenien Streit darüber aus, dass „das ganze Geld der Familie für seine Behandlung“ verwendet werde (Protokoll, S. 4). Demgegenüber gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, er habe sich aufgrund seiner psychischen Probleme von seiner Familie isoliert, was in Widerspruch hierzu steht. Auch wenn der Kläger in Armenien nach seinen Aussagen in eine eigene Wohnung gezogen ist, besteht die Ehe immer noch und es wurde nicht die Scheidung eingereicht. Zudem ist das Dokument, das der Kläger im gerichtlichen Verfahren vom Gesundheitsministerium Armeniens (Schreiben vom 11.2.2021) vorgelegt hat, an seine Ehefrau gerichtet und adressiert. Die Erklärung in der mündlichen Verhandlung hierzu, es sei alles über einen Freund des Klägers und dessen Ehefrau gelaufen, welche die Ehefrau des Klägers erst überreden mussten, da der armenische Staat solche Dokumente nur an nahe Verwandte abgibt, ist für das Gericht nicht plausibel. Darüber hinaus hat der Kläger drei Schwestern, die zwar in Russland leben, die ihn jedoch aus dem Ausland finanziell unterstützen können. Der Kläger hat im Übrigen selbst angegeben, dass er sich körperlich in der Lage sehe, leichte Arbeiten bis zu drei Stunden täglich auszuüben. Seine spätere Einschränkung in der mündlichen Verhandlung, dass sich diese Angabe nur auf seinen Aufenthalt in Deutschland beziehe, weil er in Armenien keine Arbeit bekäme, ändert nichts an seiner dahingehenden Arbeitsfähigkeit.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aufgrund der Tatsache, dass für den Kläger mit Beschluss des Amtsgerichts Schweinfurt – Abteilung für Betreuungssachen – vom 15. April 2021 (Az.: … … …*) eine vorläufige Betreuung angeordnet wurde. Zwar mag der Kläger aufgrund seiner psychischen Erkrankung im Vergleich zu einem gesunden Menschen bei der Besorgung seiner täglichen Geschäfte und Angelegenheiten eingeschränkt sein. Jedoch hat der Kläger sein asylrechtliches Verwaltungsverfahren eigenständig betrieben, ebenso das gerichtliche Verfahren bis zur Übernahme durch den Betreuer mit dessen Erklärung vom 6. Mai 2021 (§ 62 Abs. 4 VwGO i.V.m. § 53 ZPO). Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Kläger das Gerichtsverfahren selbstständig betrieben und beispielsweise dem Gericht sämtliche medizinischen Unterlagen oder auch das Schreiben des armenischen Gesundheitsministeriums vom 11. Februar 2021 an seine Frau zukommen lassen; diesbezüglich war der Kläger offenkundig in der Lage, eine Übersetzung ins Deutsche zu veranlassen und dem Gericht vorzulegen. Folglich geht das Gericht davon aus, dass der Kläger sich um seine Angelegenheiten kümmern kann. Dies wird untermauert durch den Eindruck in der mündlichen Verhandlung, an welcher der Kläger teilgenommen und die Fragen des Gerichts umfassend beantwortet hat. Daher kommt das Gericht zu der Überzeugung, dass der Kläger keineswegs zwingend auf eine Hilfestellung durch Dritte angewiesen ist, sondern es ihm vielmehr möglich ist, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen. Dies gilt umso mehr, als bereits im vorangegangenen Verfahren W 8 K 18.31166 mit Schreiben vom 13. März 2019 der Gerichtsärztliche Dienst bei dem Oberlandesgericht Bamberg – Außenstelle Aschaffenburg – die Einrichtung einer Betreuung angeregt wurde, der Kläger aber danach am 8. August 2019 freiwillig nach Armenien zurückgekehrt ist, bis er am 23. Juli 2020 wieder nach Deutschland einreiste.
Ein Abschiebungsverbot ergibt sich auch nicht für den Fall, dass sich die wirtschaftlichen bzw. humanitären Verhältnisse in Armenien aufgrund der Auswirkungen der weltweiten „Corona-Krise“ verschlechtern sollten. Schlechte humanitäre Verhältnisse können wie bereits dargelegt nur in ganz außergewöhnlichen Fällen zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn die humanitären Gründe zwingend sind. Dass etwaige negative wirtschaftliche Auswirkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie zu einer derart gravierenden Verschlechterung der humanitären Verhältnisse in Armenien führen werden, ist für das Gericht im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt – auch vor dem Hintergrund der vorhandenen Sozialsysteme – nicht ersichtlich.
2.
Es liegt auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Ab. 7 Satz 2 AufenthG). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Dabei erfasst diese Regelung nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solche ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (st. Rspr. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG; vgl. BVerwG‚ U.v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – DVBl 2003, 463; U.v. 25.11.1997 – 9 C 58.96 – BVerwGE 105‚ 383 m.w.N.). Eine „erhebliche konkrete Gefahr“ im Falle einer zielstaatsbezogenen Verschlimmerung einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung ist daher gegeben, wenn sich der Gesundheitszustand alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat wegen der dortigen Behandlungsmöglichkeiten wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 1 C 3.11 – BVerwGE 142, 179; B.v. 17.8.2011 – 10 B 13.11 – juris; BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris). Gründe hierfür können nicht nur fehlende Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sein, sondern etwa auch die tatsächliche Nichterlangbarkeit einer an sich vorhandenen medizinischen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris Rn. 20).
Um ein entsprechendes Abschiebungsverbot feststellen zu können, ist eine hinreichend konkrete Darlegung der gesundheitlichen Situation erforderlich, die in der Regel durch ein ärztliches Attest zu untermauern ist. Zwar ist der Verwaltungsprozess grundsätzlich durch den in § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO statuierten Amtsermittlungsgrundsatz geprägt. Aus § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO und § 74 Abs. 2 AsylG ergibt sich jedoch die Pflicht der Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken, was in besonderem Maße für Umstände gilt, die – wie eine Erkrankung – in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen. Insoweit ist von einem Ausländer, der sich zur Begründung eines Abschiebungsverbotes auf eine Erkrankung beruft, ein substantiierter, durch ein (fach-)ärztliches Attest belegter Vortrag zu erwarten.
2.1.
Aus den vom Kläger vorgelegten Attesten ergibt sich bereits nicht, dass für den Kläger in Armenien eine erhebliche konkrete Gefahr wegen seiner bestehenden Erkrankungen besteht. Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten des … Krankenhauses … vom 27. Juli bzw. 3. August 2020 ergibt sich, dass hinsichtlich seiner Krebserkrankung (Hodgkin-Lymphom) derzeit kein Hinweis auf ein Rezidiv und kein Anhalt für ein Malignom besteht. Empfohlen wird dem Kläger insoweit eine ambulant onkologische Kontrolle bzw. Nachsorge in sechs bis zwölf Monaten. Die Möglichkeit einer neuerlichen Chemotherapie lehnte der Kläger sowohl hier in Deutschland als auch nach seiner Aussage schon zuvor in Armenien ab. Der Kläger führte hierzu aus, dass er vor seiner Wiedereinreise wegen seiner Krebserkrankung in Armenien in Behandlung war und ihm eine Chemotherapie angeraten wurde; er sei danach sogar zu zwei weiteren armenischen Ärzten gegangen, die ihm beide ebenfalls zur Chemotherapie rieten, was er aber ablehnte. Daraus folgt, dass die Krebsbehandlung des Klägers in Armenien grundsätzlich möglich und ihm auch zugänglich ist. Soweit der Kläger u.a. in der mündlichen Verhandlung angibt, er brauche für seine Krebserkrankung ein Medikament, das nur in Deutschland erhältlich sei, meint er hiermit das Buprenorphin-Pflaster, welches ausschließlich ein Schmerzmittel darstellt und mit der Behandlung seiner Krebserkrankung im eigentlichen Sinn nichts zu tun hat. Im Übrigen wird diesbezüglich auch auf die Ausführungen des Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 1. April 2019 (Az.: W 8 K 18.31166) verwiesen.
Soweit dem Kläger nunmehr zusätzlich eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F32.2) diagnostiziert wurde (vgl. zuletzt Entlassbrief des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin … … v. 15.3.2021), begründet dies ebenfalls keine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen. Nach der Auskunftslage ist die Behandlung von Depressionen auf gutem Standard gewährleistet und erfolgt kostenlos (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Armenien, Stand: 3.3.2021, S. 39).
Soweit der Kläger als wesentliches Argument vorbringt, er könne sich die zu seiner Behandlung notwendigen Medikamente in Armenien nicht leisten, ist anzumerken, dass der Kläger in Armenien jedenfalls aufgrund seiner psychischen Erkrankung bislang nicht in Behandlung gewesen ist. Hinsichtlich der Behandlung seiner Krebserkrankung wird auf die Ausführungen im Urteil vom 1. April 2019 im vorangegangenen Verfahren W 8 K 18.21166 verwiesen; eine Fortsetzung der Krebsbehandlung in Armenien hat der Kläger nach eigenen Angaben abgelehnt. Die Psychopharmakamedikation zur Behandlung der Depressionen (Amitriptylin, Sertralin und Lorazepam) ist ausweislich des Entlassbriefs des Krankenhauses … … nach ihrer Indikation regelmäßig zu überprüfen und das Lorazepam zu reduzieren und abzusetzen (Entlassbrief v. 15.3.2021, S. 5). Die sich so ergebende Entlassmedikation ist folglich schon nicht zwingend von Dauer. Ein neueres ärztliches Attest gibt es nicht.
Aus den vorgelegten Entlassbriefen des Bezirkskrankenhauses … vom 22. September 2020 als auch des Bezirkskrankenhauses … … vom 4. Februar 2021 bzw. 15. März 2021 ergibt sich, dass der Kläger vornehmlich Schmerzen hat und Opioide verlangt (Entlassbrief v. 22.9.20, S. 5: „klagte über „Ganzkörperschmerzen“ und drängte auf Buprenorphin-Gabe“; Entlassbrief v. 4.2.21, S. 4: „war auf seine Schmerzen fixiert und drängte auf die Gabe von Opioiden“). Nachdem seine Schmerzen in Zusammenhang mit der Krebserkrankung stehen, steht es zur Überzeugung des Gerichts auch unter Heranziehung der Behördenakte aus dem vorangegangenen Verfahren W 8 K 18.31166 fest, dass dem Kläger eine Behandlung seiner Schmerzen im Rahmen einer Krebsbehandlung auch in Armenien möglich und zugänglich ist. So ist ausweislich der im Gerichtsverfahren W 8 K 18.31166 durch die Beklagte vorgelegten MedCOI-Auskunft (IOM ZC 243/10.2016) Tramadol als ein Arzneistoff aus der Gruppe der Opioide zur Behandlung mäßig starker bis starker Schmerzen für onkologische Patienten mit einem festgestellten Schmerzsyndrom verfügbar. Der Arzneistoff ist nur über eine spezielle Apotheke verfügbar, bei der sich der Patient registrieren muss und nur gegen Verschreibung eines Onkologen. Dem Kläger ist es zumutbar, sich in Armenien in die kostenlose Behandlung seiner Krebserkrankung zu begeben und so dass auch seine Schmerzen behandelt werden können. Der Vortrag des Klägers, er habe mehrere Hundert Euro pro Monat für Medikamente ausgegeben, erklärt sich dadurch, dass er sich jede Woche das Buprenorphin-Pflaster für 100 Euro oder US-Dollar auf dem Schwarzmarkt besorgt hat. Es steht fest, dass der Kläger eine Weiterbehandlung seiner Krebserkrankung in Armenien abgelehnt hat. Der Kläger ist jedoch darauf zu verweisen, wie ein jeder armenische Staatsbürger die in Armenien für ihn verfügbare und auch zumutbare medizinischen Behandlung in Armenien in Anspruch zu nehmen und in deren Rahmen die durch die Krebserkrankung bedingte Schmerzmedikation zu erlangen.
Im Übrigen wurde weder vorgetragen noch sonst dargelegt und ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger zwingend nur mit der Medikation behandelt werden kann, wie sie sich aus dem Entlassbrief vom 15.3.2021 ergibt. Der Kläger ist insoweit wie andere armenische Staatsangehörige in vergleichbarer Lage auf die im Heimatland verfügbaren medizinischen Angebote zu verweisen. Es begründet für sich genommen kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, wenn gewisse Behandlungs- oder Medikamentenangebote in Armenien qualitativ hinter denjenigen in der Bundesrepublik Deutschland zurückbleiben sollten (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Insbesondere ist der Kläger auch auf Generika zu verweisen, die es ausweislich des von ihm vorgelegten Schreibens des armenischen Gesundheitsministeriums vom 11. Februar 2021 zu den meisten seiner derzeitigen Medikamente gibt. Hinsichtlich der Schmerzmedikation gibt es auch andere Opioide, wie z.B. Tramadol (s.o.). Soweit der Kläger pauschal behauptet hat, die Medikamente, die er in Armenien erhalten habe, würden nicht wirken, so kann dies nicht nachvollzogen werden, da die Wirkstoffe dieselben sind.
Zur Überzeugung des Gerichts liegt auch keine Suizidgefahr beim Kläger vor, die in Zusammenhang mit den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat stünde und so ggf. ein Abschiebungsverbot begründen könnte. Dem Kläger geht es in erster Linie darum, dass er seine Medikamente erhält: „Lieber sterbe ich hier als in Armenien ohne Medikamente. Weil ich ohne Medikamente sowieso sterben würde. Ich brauche nichts anderes, nichts zum Essen und zum Trinken, nur Medikamente bitte“ (Anhörungsprotokoll, S. 4). Auch in der mündlichen Verhandlung stellt der Kläger nur darauf ab, dass er dringend seine Medikamente brauche, damit er nicht sterbe (Protokoll, S. 6). Nachdem der Kläger zur Überzeugung des Gerichts alle notwendigen Medikamente zu seiner Behandlung in Armenien jedoch erhalten wird, wenn er sich nur in die entsprechende ärztliche Behandlung begibt (s.o.), erscheint die Gefahr einer Suizidalität nicht gegeben. Im Übrigen ist anzumerken, dass sich der Kläger allgemein in einem wechselhaften Gemütszustand zu befinden scheint und der Gedanke an die Selbsttötung maßgeblich von seiner Medikation abhängt. Die erstmalige Einweisung am 23. August 2020 ins Bezirkskrankenhaus … … … erfolgte aufgrund von Suizidalität, als der Kläger bei einem Bekannten gewesen sei und urplötzlich versucht habe, sich aus dem dritten Stock zu stürzen. Davor hat sich der Kläger nach eigener Aussage noch nie versucht, etwas anzutun (vgl. Entlassbrief BKH … … … v. 22.9.2020, S. 3). Im Bezirksrankenhaus … … … wurde er mit Psychopharmaka eingestellt, daraufhin zeigte er sich in seiner Stimmung stabilisierter (a.a.O., S. 5). Anlass für die Einlieferung ins Bezirkskrankenhaus … … und seinen letzten Aufenthalt ca. ein halbes Jahr später (3.2.-26.2.2021) waren Schnittwunden an den Unterarmen und Suizidalität, jedoch gab der Kläger hierzu an, er habe an dem Tag keine Medikation eingenommen und wolle sich nach seiner Entlassung das Leben nehmen; nach dem Eindruck der behandelnden Ärzte wirkte der Kläger insgesamt undurchsichtig (Entlassbrief … … v. 15.3.2021, S. 1). Während seines Aufenthalts gab er an, sich zu suizidieren, wenn er ins Ankerzentrum … zurückmüsste (a.a.O., S. 5). Zur Überzeugung des Gerichts hängt die Gefahr der Suizidalität maßgeblich davon ab, ob der Kläger seine Medikamente nimmt und steht nicht in Zusammenhang mit den Verhältnissen im Zielstaat Armenien.
2.2.
Auch die weltweite Corona-Pandemie rechtfertigt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz1 1 AufenthG.
Im Hinblick auf § 60 Abs. 7 AufenthG ist festzuhalten, dass die COVID-19-Pandemie in Armenien mangels einer allgemeinen Abschiebestopp-Anordnung allenfalls eine allgemeine Gefahr darstellt, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn es zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke, d.h. zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage erforderlich ist (vgl. etwa BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07 – juris; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60 AufenthG, Rn. 100 m.w.N.). Die drohende Gefahr, dass sich der Ausländer im Zielland mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert, muss nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Die Gefahren müssen dem Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – BVerwGE 115, 1 m.w.N. – juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – juris).
Eine solche extreme, konkrete Gefahrenlage ist vorliegend für den Kläger im Hinblick auf die Auswirkungen des „Corona-Virus“ in Armenien für das Gericht nicht erkennbar. Insbesondere befindet sich der Kläger nicht mehr in akuter Behandlung wegen seiner Krebserkrankung. Durchgreifende Gründe für eine extreme konkrete Gefahrenlage sind im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt weder vorgetragen noch ersichtlich. Zwar handelt es sich bei Armenien um das bislang durch die COVID-19-Pandemie am stärksten betroffene Land im Südkaukasus und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gesundheitssystem Armeniens durch Auswirkungen der Corona-Pandemie überfordert wird (BAMF, Länderinformation – Armenien, Gesundheitssystem und COVID-19-Pandemie, November 2020, S. 4; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation Zone Russische Föderation/Kaukasus und Iran – COVID-19 Informationen, 1.9.2020, S. 6 ff.). Trotz der nicht unerheblichen Pandemie-Betroffenheit Armeniens lassen sich den allgemeinen Erkenntnismitteln keine näheren Informationen dazu entnehmen, ob es bereits in der Vergangenheit zu einer gänzlichen Überforderung des dortigen Gesundheitswesens kam oder ob eine solche demnächst drohen könnte. Eine jüngste kleinere (dritte) Pandemiewelle zwischen April und Mai 2021 konnte das Land inzwischen weitgehend überwinden.
3.
Die Klage war deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.


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