Verwaltungsrecht

Asyl, Herkunftsland Afghanisten: Gesteigerter und widersprüchlicher Vortrag zum Verfolgungsschicksal, innerstaatliche Fluchtalternative

Aktenzeichen  M 26 K 17.35220

Datum:
4.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 10668
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e, § 4, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 77 Abs. 2
VwGO § 102 Abs. 2, § 108 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Echte Dokumente unwahren Inhalts gibt es in Afghanistan insbesondere aufgrund der weit verbreiteten Korruption in erheblichem Umfang. Die vorgelegten Urkunden müssen daher im Kontext des Vorbringens des Klägers insgesamt und dessen Glaubwürdigkeit bewertet und gewürdigt werden. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Verschiedene Presseberichte deuten zudem darauf hin, dass es mittlerweile einen regen Handel mit gefälschten Taliban-Drohbriefen gibt. Vor diesem Hintergrund vermögen solche Briefe allein keine Bedrohung durch die Taliban glaubhaft zu machen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3 Der Kläger ist auf eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen. Es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass er in der Anonymität zumindest der Städte Kabul und Herat, wohin es Inlandsflugverbindungen gibt, gefunden werden kann. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
4 Da der Kläger bereits über Berufserfahrung verfügt, jung und arbeitsfähig ist und den größten Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht hat, ist davon auszugehen, dass es ihm möglich sein wird, ein Leben in Afghanistan oberhalb des Existenzminimums zu führen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
5 Das Risiko durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, ist nach den von der Rechtsprechung hierfür angelegten Maßstäben unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die für die Feststellung einer individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erforderliche Gefahrendichte auch nur möglicherweise annähernd erreicht wäre.  (Rn. 24 – 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 23. April 2018 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat mit allgemeiner Prozesserklärung auf Einhaltung der Ladungsfrist sowie Ladung gegen Empfangsbekenntnis verzichtet.
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Der Bescheid vom 1. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG) oder subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). Er hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG. Die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung sowie das dreißigmonatige Einreise- und Aufenthaltsverbot sind ebenfalls nicht zu beanstanden. Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und sieht diesbezüglich von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Es ergänzt lediglich wie folgt:
„1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes.
1.1. Wie das Bundesamt konnte auch das Gericht aufgrund des Vortrags des Klägers nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus Afghanistan von Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden bedroht war oder dass ihm im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden drohen würde. Der Vortrag des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt war auffallend pauschal und oberflächlich. In der mündlichen Verhandlung trug der Kläger sodann eine vollkommen andere Geschichte vor, die nicht glaubhaft ist.
a) Aus dem Vortrag des Klägers in der Anhörung geht nicht hervor, dass er vor seiner Ausreise aus Afghanistan von Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bedroht war. Die behaupteten Versuche der Dorfpolizei, von der klägerischen Familie Geld bzw. Waffen zu erhalten, stellen kriminelles Unrecht dar; dass diese Versuche mit einer drohenden unmenschlichen Behandlung verbunden waren, hat der anwaltlich vertretene Kläger nicht substantiiert vorgetragen. Auch ist aus dem Vortrag nicht ersichtlich, dass der Kläger von den Feinden seines Großvaters einmal aufgesucht oder konkret bedroht worden wäre. Der Kläger trägt insoweit nur pauschal vor, diese Leute hätten auch in Kunduz nach ihnen gesucht und der Kläger sei sich sicher, dass sein Vater deswegen verschwunden sei. Schließlich lässt auch der Vortrag, er sei von den Taliban bedroht worden und habe sich ihnen anschließen sollen, weil er auf einer Koranschule gewesen sei, jedwede Einzelheiten zu einer etwaigen Bedrohungssituation vermissen. Der Vortrag bleibt insgesamt äußerst pauschal und oberflächlich. Dass der Kläger konkreten Verfolgungshandlungen oder einer Drohung mit der Zufügung einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war oder dass ihm solche im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würden, kann dem Vortrag nicht entnommen werden.
b) Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung, er sei von den Taliban bedroht worden, weil er in einer Bank gearbeitet habe, ist nicht glaubhaft.“
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die danach gebotene Überzeugungsgewissheit muss in dem Sinne bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals sowie von der Richtigkeit der Prognose, dem Kläger drohe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden, erlangt hat. Da unmittelbare Beweise im Herkunftsland in der Regel nicht erhoben werden können, kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109/84, Rn. 16 und 17, juris). Der Schutzsuchende muss sein Schicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen, sowie auch dann, wenn er sein Vorbringen im Lauf des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH Baden-Württemberg, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11, Rn. 35, juris; Hessischer VGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A, Rn. 15).
So verhält es sich aber vorliegend. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung im Vergleich zur Anhörung vor dem Bundesamt unterschiedliche Angaben zu seiner beruflichen Situation und zu den behaupteten Bedrohungen der Taliban gemacht, die nicht in Einklang zu bringen sind. So hat er in der Anhörung auf ausdrückliche Frage zu seiner beruflichen Situation angegeben, er habe in der Landwirtschaft mitgearbeitet, während er seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge nahezu drei Jahre in einer Bank gearbeitet hat. Während er in der Anhörung angegeben hatte, er sei von den Taliban zur Zusammenarbeit aufgefordert worden, weil er eine Koranschule besucht habe, gab er in der mündlichen Verhandlung an, die Taliban hätten ihn wegen seiner Tätigkeit bei der Bank bedroht; auch drei Drohbriefe will er deswegen erhalten haben, von denen in der Anhörung vor dem Bundesamt ebenfalls nicht die Rede war.
Auch unter Berücksichtigung dessen, dass dem Kläger ausweislich der Niederschrift über die Anhörung vor dem Bundesamt nur wenige konkrete Nachfragen gestellt wurden, konnte der Kläger für die erheblichen Steigerungen und Widersprüche seines Vortrags in der mündlichen Verhandlung im Vergleich zu seinen Angaben in der Anhörung keine vernünftige Erklärung geben. Sein Erklärungsversuch, man habe ihm vor der Anhörung gesagt, Sachverhalte, für die er keine Nachweise habe, brauche er gar nicht erst anzugeben, und die Nachweise über seine Tätigkeit bei der Bank habe er erst vor acht Monaten von seiner Mutter erhalten, vermag nicht zu überzeugen. Trotz der relativ wenigen Nachfragen seitens des Bundesamts hat der Kläger durchaus viel erzählt, und zwar ausschließlich von Sachverhalten, für die er ebenso wenig Nachweise hatte wie für die nunmehr behauptete Tätigkeit in der Bank. Dass der Kläger in der Anhörung bewusst unvollständige bzw. wahrheitswidrige Angaben gemacht haben will, nur weil er für das, was tatsächlich geschehen ist, keine Nachweise hatte, erschließt sich dem Gericht vor diesem Hintergrund nicht. Ausweislich der Niederschrift über die Anhörung wurde der Kläger auch ausdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen, alle für seinen Asylantrag relevanten Dinge in der Anhörung vorzutragen. Deshalb hält das Gericht das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung für unglaubhaft.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht angesichts der vorgelegten Ausweise und Bestätigungen der afghanischen Bank und der Drohbriefe der Taliban. Angesichts des Verfahrensablaufs, des Eindrucks, den das Gericht vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat sowie des Umstands, dass der Kläger diese Unterlagen seinen Angaben zufolge vor ungefähr acht Monaten von seiner Mutter aus Afghanistan erhalten hat, drängt sich dem Gericht der Eindruck auf, dass die Unterlagen nach Erhalt des ablehnenden Asylbescheids extra für das Klageverfahren hergestellt wurden. Echte Dokumente unwahren Inhalts gibt es in Afghanistan insbesondere aufgrund der weit verbreiteten Korruption in erheblichem Umfang (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016). Für die Familie des Klägers dürfte es vor diesem Hintergrund – auch angesichts dessen, dass der Onkel des Klägers seinen Angaben zufolge bei der Bank arbeitet – kein allzu großes Problem darstellen, solche Dokumente für das Asylverfahren zu beschaffen. Die Urkunden müssen daher im Kontext des Vorbringens des Klägers insgesamt und dessen Glaubwürdigkeit bewertet und gewürdigt werden.
Derartige Drohbriefe der Taliban, wie der Kläger sie in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat, sind dem Gericht aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt. Die Authentizität dieser Briefe ist oft – wie auch vorliegend – zweifelhaft und kann mangels geeigneter Beweismittel zugleich auch nicht weiter geklärt werden (vgl. auch VG Gelsenkirchen, U.v. 14.4.2016 – 5a K 4763/11.A – juris). Verschiedene Presseberichte deuten zudem darauf hin, dass es mittlerweile einen regen Handel mit gefälschten Taliban-Drohbriefen gibt (vgl. z.B. http://www.bild.de/politik/ausland/taliban/mit-gefaelschter-taliban-drohung-in-der-tasche-nach-europa-43512332.bild.html; abgerufen am 28.4.2017). Vor diesem Hintergrund vermögen solche Briefe nach Überzeugung des Gerichts allein keine Bedrohung durch die Taliban glaubhaft zu machen; vielmehr können auch solche Dokumente nur im Kontext des Vorbringens des jeweiligen Klägers insgesamt und dessen Glaubwürdigkeit bewertet und gewürdigt werden.
Neben den Widersprüchen in den Angaben des Klägers und der sehr späten Einführung in das Verfahren ergeben sich Zweifel hinsichtlich der Glaubhaftigkeit des klägerischen Vorbringens nicht zuletzt aus den Umständen rund um den Erhalt der Dokumente sowie den sonstigen Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Der Kläger hat sich die Dokumente, die ausweislich der jeweils angegebenen Ausstellungsdaten bereits im Zeitraum 2011 bis 2016 ausgestellt worden sein sollen, erst vor acht Monaten von seiner Mutter zuschicken lassen. Auf die Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung, warum er erst zwei Monate nach Erhalt des Drohbriefs ausgereist sei, äußerte der Kläger zunächst, weil er den Drohbrief nicht gelesen und daher zunächst keine Kenntnis von dessen Inhalt gehabt habe. Erst bei der Rückübersetzung gab der Kläger sodann an, dass die Taliban auch vor seiner Ausreise nochmals bei seiner Mutter gewesen seien. Dass der Kläger sich vom Inhalt des ersten Drohbriefs, den er vor seiner Ausreise erhalten hatte, gar keine Kenntnis verschafft hat, legt im Übrigen den Schluss nahe, dass er selbst nicht von der Ernsthaftigkeit einer etwaigen Drohung seitens der Taliban ausging. Auch passt der Inhalt des vorgelegten Briefs nicht zu dem, was der Kläger in der mündlichen Verhandlung zur Vorgeschichte des Drohbriefs berichtet hat. So gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, dem Drohbrief seien zwei Besuche der Taliban vorausgegangen, in denen die Taliban Geld und die Beendigung seiner Tätigkeit bei der Bank verlangt hätten. Ausweislich der vorgelegten Übersetzung des ersten Drohbriefs soll diesem Brief jedoch eine telefonische Mitteilung der Taliban vorausgegangen sein, wonach der Kläger „am unteren Teil des Autos des Kommandanten Manan Hazara eine versteckte Mine anbringen sollte“, was er nicht getan habe.
1.2. Unabhängig hiervon wäre der Kläger, selbst wenn sein Vortrag als glaubhaft bzw. wahr unterstellt wird, darauf zu verweisen, in einem anderen Landesteil Afghanistans außerhalb seiner Herkunftsprovinz, der unter der Kontrolle der Regierung steht, internen Schutz zu suchen, §§ 4 Abs. 3 i.V.m. 3e AsylG. Von dem Kläger wäre beispielsweise vernünftiger Weise zu erwarten, dass er sich in Kabul, wo auch seine Familie nun lebt, oder in Herat niederlässt.
Nach §§ 4 Abs. 3, 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt bzw. subsidiärer Schutz nicht gewährt, wenn ihm in einem Teil seines Herkunftslandes keine Verfolgung bzw. kein ernsthafter Schaden droht und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Dem Ausländer dürfen in dem in Betracht kommenden Gebiet keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, B.v. 10.11.1989 – 2 BvR 403/84 – juris; Hailbronner, Asyl und Ausländerrecht, 4. Aufl. 2017, Rn. 1325). Der Flüchtling muss für eine gewisse Dauerhaftigkeit Schutz erhalten und sich dort niederlassen können. Die Verweisung auf eine interne Fluchtalternative ist daher nur zumutbar, wenn dort nicht andere unzumutbare Nachteile, wie die konkrete Beeinträchtigung elementarer Menschenrechte, drohen. Zumutbar ist eine Rückkehr nur dann, wenn der Ort der inländischen Schutzalternative ein wirtschaftliches Existenzminimum ermöglicht, zum Beispiel durch zumutbare Beschäftigung oder durch Mittel der Existenzsicherung aufgrund von Leistungen humanitärer Organisationen. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn den Asylsuchenden am Ort der internen Schutzalternative ein Leben erwartet, das zu Hunger, Verelendung und zum Tod führt oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein „Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums“ (BVerwG, B.v. 17.5.2006 – 1 B 100/05 – juris; BVerwG, B.v. 21.5.2003 – 1 B 298/02 – juris). Im Hinblick auf den internen Schutz gem. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG muss für den Rückkehrer in dem schutzgewährenden Landesteil die Existenzgrundlage damit soweit gesichert sein, dass von ihm erwartet werden kann, dass er sich vernünftigerweise dort aufhält. Dies geht als Zumutbarkeitsmaßstab über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 5 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus, wobei das Bundesverwaltungsgericht bislang offen gelassen hat, welche darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards erfüllt sein müssen (vgl. BVerwG, U.v. 29.5.2008 – 10 C 11.07 – juris Rn. 35; U.v. 31.01.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20, jeweils zu § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG a. F.; NdsOVG, U.v. 19.09.2016 – 9 LB 100/15 – juris; OVG NW, B.v. 6.6.2016 – 13 A 1882/15.A – juris Rn. 14). Der UNHCR hält in seinen Richtlinien vom 19. April 2016 eine innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan nur für zumutbar, wenn der betreffende Ausländer dort Zugang zu Obdach, Grundleistungen wie Trinkwasser, sanitären Einrichtungen, Gesundheitsfürsorge und Bildung sowie die Möglichkeit, sich eine Existenzgrundlage zu schaffen, hat. Als Ausnahme vom Erfordernis einer externen Unterstützung sieht er alleinstehende, leistungsfähige Männer und Ehepaare im Arbeitsalter an, die nicht aufgrund persönlicher Umstände auf eine besondere Unterstützung angewiesen sind. Solche Personen können dazu in der Lage sein, ohne die Unterstützung durch die Familie oder durch eine Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten zu leben, die unter staatlicher Kontrolle sind und die nötige Infrastruktur und die Möglichkeit bieten, die Grundbedürfnisse zu befriedigen (vgl. UNHCR, Eligibility Guidelines for accessing the international protection needs of asylum-seekers from Afghanistan, 19.4.2016, S. 83 f.; NdsOVG, U.v. 19.9.2016 – 9 LB 100/15 – juris Rn. 76). Außerdem muss das Zufluchtsgebiet für den Betroffenen sicher und legal erreichbar sein (Hailbronner, Asyl und Ausländerrecht, 4. Aufl. 2017, Rn. 1325).
Diese Voraussetzungen sind für den Kläger zumindest hinsichtlich Kabul und Herat, wohin es Inlandsflugverbindungen gibt, erfüllt. Unter Berücksichtigung der Verfolgungsintensität und der sonstigen individuellen Umstände sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger in der Anonymität der Großstädte dort gefunden werden kann bzw. verfolgt wird (vgl. a. VG Ansbach, U.v. 13.1.2017 – AN 11 K 15.31065 – juris Rn. 29; Lagebericht des Auswärtigen Amts v. 19.10.2016). Eine Meldepflicht besteht in Afghanistan nicht (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan der Bundesrepublik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Stand 19.12.2016, S. 188; BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30427 – juris Rn. 28; VG Würzburg, U.v. 15.6.2016 – W 2 K 15.30769 – juris Rn. 25; VG Köln, U.v. 6.6.2014 – 14 K 6276/13.A – juris Rn. 42). Es ist nicht anzunehmen, dass der Aufenthalt des Klägers in Kabul oder Herat bekannt werden würde. Seitens der Dorfpolizei, deren Machtbereich auf das Dorf beschränkt ist, droht dem Kläger in einer Großstadt ohnehin nichts. Die Feinde des Großvaters aus der Provinz Paktia, die den Kläger selbst nie konkret bedroht haben und die ihn angesichts des Zeitablaufs von 30 Jahren seit dem Vorfall mit dem Großvater und angesichts des Umstands, dass er bereits in der Provinz Kunduz geboren ist, gar nicht kennen dürften, würden vom Aufenthalt des Klägers in Herat oder Kabul nichts erfahren und ihn dort auch nicht gezielt suchen. Dass die Feinde des Großvaters über landesweiten Einfluss verfügen, hat der Kläger im Übrigen nicht behauptet. Schließlich sprechen auch stichhaltige Gründe dagegen, dass die Taliban gezielt nach dem Kläger suchen würden, wenn er sich in einer größeren Stadt außerhalb seiner Herkunftsprovinz niederlässt. Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass die Taliban landesweit agieren und dass sie im Einzelfall auch in der Lage sein dürften, einen ihrer wohl bekannten und exponierten Gegner zu finden, wenn sich dieser in einer anderen Provinz niedergelassen hat (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Whether the Taliban has the capacity to pursue individuals after they relocate to another region; their capacity to track individuals over the long term; Taliban capacity to carry out targeted killings, 15. Februar 2016). Vorliegend spricht aber nichts dafür, dass der Kläger – unterstellt, seine Verfolgungsgeschichte sei wahr – die Rolle eines solch herausgehobenen Gegners einnimmt und die Taliban nach ihm noch heute außerhalb seiner Heimatprovinz suchen würden. Unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers bzw. des (insoweit zu ersteren allerdings teilweise widersprüchlichen) vorgelegten ersten Drohbriefs ging es den Taliban vor allem um die Ausführung eines konkreten Auftrags in der Bank bzw. um die Beendigung der Tätigkeit dort. Beides wäre im Falle der Rückkehr nicht mehr konkret relevant, so dass nicht ersichtlich ist, weshalb die Taliban noch ein gesteigertes Interesse an dem Kläger haben sollten. Hierfür spricht nicht zuletzt auch der Umstand, dass die Mutter des Klägers, die im zweiten Drohbrief vom 14. Oktober 2014 direkt mit dem Tod bedroht wurde, trotz eines weiteren Drohbriefs aus dem Jahr 2016 weiterhin in Afghanistan (nun in Kabul) lebt, ohne dass die Taliban ihr etwas angetan hätten.
Die aktuelle Wirtschafts- und Versorgungslage in Afghanistan und in der Hauptstadt Kabul stellen sich wie folgt dar: Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (S. 21 ff.) aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei und trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 lediglich Rang 171 von 187 im Human Development Index belegt habe. Die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90%. So seien ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert hätten. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch die schwache Investitionstätigkeit geprägt. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Rund 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was für Rückkehrer naturgemäß verstärkt gelte. Dabei bestehe ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren wie z.B. Kabul und ländlichen Gebieten Afghanistans. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 werde das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4% pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes sei die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Aufgrund kultureller Bedingungen seien die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familienbzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage vom 30. September 2016, Seite 24 ff.) führt aus, Afghanistan bleibe weiterhin eines der ärmsten Länder weltweit. Die bereits sehr hohe Arbeitslosenrate sei seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte Ende 2014 wegen des damit zusammenhängenden Nachfrageschwundes rasant angestiegen, das Wirtschaftswachstum betrage nur 1,5%. Die Analphabetenrate sei noch immer hoch und der Pool an Fachkräften bescheiden. Die Landwirtschaft beschäftige bis zu 80% der Bevölkerung, erziele jedoch nur etwa 25% des Bruttoinlandprodukts. Vor allem in Kabul gehöre wegen des dortigen großen Bevölkerungswachstums die Wohnraumknappheit zu den gravierendsten sozialen Problemen. Auch die Beschäftigungsmöglichkeiten hätten sich dort rapide verschlechtert. Nur 46% der afghanischen Bevölkerung verfüge über Zugang zu sauberem Trinkwasser und lediglich 7,5% zu einer adäquaten Abwasserentsorgung. Unter Verweis auf den UNHCR sähen sich Rückkehrende beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert. Geschätzte 40% seien verletzlich und verfügten nur über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft. Außerdem erschwere die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr. Gemäß UNHCR verließen viele Rückkehrende ihre Dörfer innerhalb von zwei Jahren erneut. Sie wichen dann in die Städte aus, insbesondere nach Kabul.
Trotz dieser geschilderten schwierigen Bedingungen ist von dem Kläger vernünftiger Weise zu erwarten, sich in Kabul oder Herat niederzulassen, wo er nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Da der Kläger bereits über Berufserfahrung (sei es in der Landwirtschaft und/oder als Bankangestellter im Bereich IT) verfügt, jung und arbeitsfähig ist und den größten Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht hat, ist davon auszugehen, dass es ihm möglich sein wird, ein Leben oberhalb des Existenzminimums zu führen (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2017 – 13a ZB 17.30099 – juris Rn. 12; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 20, unter Berufung auf den UNHCR; VG Ansbach, U.v. 13.1.2017 – AN 11 K 15.31065 – juris Rn. 29; s.a. u. 3.1, 3.2).
1.3. Die allgemeine Gefährdungslage in Afghanistan bzw. in den Provinzen Kabul, wohin wohl zunächst eine Abschiebung erfolgen würde und wo die Familie des Klägers nun lebt, Kunduz, wo der Kläger zuletzt mit seiner Familie gewohnt hat, und Herat, wo der Kläger internen Schutz finden könnte, erreicht auch unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnismittel keine Intensität, aufgrund der bereits ohne das Vorliegen individueller gefahrerhöhender Umstände von der Erfüllung des Tatbestands des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen wäre. Das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, ist nach den von der Rechtsprechung hierfür angelegten Maßstäben unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756- juris; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris, B.v. 8.2.2017 – 13a ZB 17.30016 – juris; BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33; BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f., jeweils m.w.N.).
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) besteht und dass es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos bedarf (vgl. BayVGH, U.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30182 – juris Rn. 4 ff. m.w.N.). Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person des Betroffenen fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist somit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (BayVGH, U.v. 17.1.2017 a.a.O. Rn. 5 m.w.N.). Zur Ermittlung der für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr ausreichenden Gefahrendichte ist dabei aufgrund aktueller Quellen die Gesamtzahl der in der Herkunftsprovinz lebenden Zivilpersonen annäherungsweise zu ermitteln und dazu die Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt sowie der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Beziehung zu setzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist dabei ein Risiko von ca. 1:800 oder 0,125%, in der Herkunftsprovinz verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der für den subsidiären Schutz beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass sich das Fehlen einer wertenden Gesamtbetrachtung neben der rein quantitativen Ermittlung nicht auszuwirken vermag (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f.; dazu auch BayVGH, U.v. 17.1.2017 a.a.O. Rn. 6 f. m.w.N.).
An diesen, in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung gefestigten Maßstäben gemessen, ist für den Kläger nicht davon auszugehen, dass die für die Feststellung einer individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erforderliche Gefahrendichte auch nur möglicherweise annähernd erreicht wäre:
Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von 11.418 Opfern in Afghanistan im Jahr 2016 bzw. 10.453 Opfern im Jahr 2017 (nach UNAMA) lag die Gefahrendichte in den Jahren 2016 und 2017 landesweit erheblich unter 0,12% oder 1:800 (vgl. für das Jahr 2016 BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris).
Unter Zugrundelegung der Einwohnerzahlen für die einzelnen Provinzen Afghanistans im Jahr 2016 (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 2.3.2017, in der Fassung der Einfügung am 30.1.2018, Nrn. 3.1 ff, S. 29 ff) und der Opferzahlen für das Jahr 2017 (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2017, February 2018, Anlage 3, S. 67 ff) errechnet sich für die Provinzen Kabul und Kunduz jeweils eine Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, von gerundet 0,04%. Für die Provinz Herat ergibt sich eine entsprechende Wahrscheinlichkeit von 0,03%. Diese Zahlen sind bei Anlegung der dargelegten Maßstäbe auch unter Berücksichtigung einer gewissen Dunkelziffer (vgl. zur Notwendigkeit der Berücksichtigung einer Dunkelziffer auch die von der Bevollmächtigten des Klägers vorgelegten Gutachten von Amnesty International und Friederike Stahlmann für das VG Wiesbaden vom 5.2.2018 und 28.3.2018) weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt. Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 (S. 9) ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden, handelt es sich insoweit – in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage – zunächst um eine allein dem Gericht vorbehaltene rechtliche Würdigung, die die Gutachterin nicht zu leisten vermag und der auch keine Indizwirkung zukommen kann (VGH Baden-Württemberg, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 1729/17 – juris Rn. 109). Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Gerichts keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier – wie ausgeführt – aufgrund der sich weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt bewegenden Opferzahlen aber unter keinen Umständen auswirken kann.
Auch ist nicht ersichtlich, dass eine im Wesentlichen zunehmende Tendenz der Opferwahrscheinlichkeit gegeben wäre. Insoweit muss zwar festgestellt werden, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan insgesamt seit Anfang 2016 deutlich verschlechtert hat und die Situation dort als volatil anzusehen ist (vgl. Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 1; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, S. 1). Nach der Dokumentation von UNAMA (UNAMA first quarter 2017 civilian casualty Data, vom 27.04.2017) ist jedoch für die ersten drei Monate im Jahr 2017 eine Anzahl ziviler Opfer in Höhe von 2.181 verzeichnet worden. Dies entspricht laut UNAMA einem Rückgang von vier Prozent im Vergleich zu den ersten drei Monaten des Vorjahres (2.268 zivile Opfer). Im ersten Halbjahr 2017 bewegten sich die Opferzahlen in etwa auf dem hohen Niveau des Vorjahres; laut den Daten von UNAMA (Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. Midyear Report 2017, July 2017, S. 3) sank die Anzahl der Opfer um etwa ein halbes Prozent im Vergleich zum Vorjahr (24 Opfer weniger / 5.267 Opfer im ersten Halbjahr 2016). Nach dem am 12. Oktober 2017 veröffentlichten Bericht der UNAMA über zivile Opfer im bewaffneten Konflikt, der den Zeitraum 1. Januar bis 30. September 2017 umfasst, bewegten sich die Opferzahlen im Berichtszeitraum weiterhin auf dem Niveau des Jahres 2016 (landesweit wurde im Vergleich zur selben Periode des Jahres 2016 ein Rückgang um 6% verzeichnet, wobei jedoch die Zahl der Todesopfer um 1% gestiegen war). Wenngleich die durch Anschläge und Selbstmordattentate verursachten zivilen Opfer im Jahr 2017 im Vergleich zu den Vorjahren erheblich zugenommen hat, sank die Zahl der zivilen Opfer dem Jahresbericht der UNAMA vom Februar 2018 zufolge im Vergleich zum Jahr 2016 insgesamt um neun Prozent, was den ersten Rückgang der Opferzahlen seit dem Jahr 2012 darstellt. Die Zahl der Toten sank um zwei Prozent und die Zahl der Verletzten um elf Prozent.
Eine wesentliche Steigerung der Opferzahlen für die Zukunft implizieren die aktuellen Berichte mithin nicht.
Soweit Organisationen wie UNHCR (s. Anmerkungen vom Dezember 2016) und Pro Asyl sowie Presseberichte auf die Zunahme von Anschlägen – vor allem in Kabul – verweisen, folgen sie eigenen Maßstäben, aber nicht den von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an die Annahme von erheblichen Gefahren aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (vgl. BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris, U.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris). Auch die medial sehr präsenten Anschläge in Afghanistan seit Mai 2017 (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19.06.2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, S. 4 ff; http://www.zeit.de/thema/afghanistan) vermögen es nicht, diese Einschätzung zu widerlegen (so etwa auch: OVG NW, B. v. 10.7.2017 – 13 A 1385 (17.A); s. auch AA, Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31.5.2017 vom 28.7.2017, Rn. 30 ff). Im Übrigen geht auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof weiterhin davon aus, dass in keiner Region Afghanistans die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen. Auch führe die Lage in Afghanistan nicht dazu, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG anzunehmen wäre (vgl. z.B. B.v. 4.1.2018 – 13a ZB 17.31287 – UA Rn. 5; B.v. 2.11.2017 – 13 a ZB 17.31033 – juris Rn. 5).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ebenfalls der Auffassung, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletze (vgl. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 Rn. 53; U.v. 11.7.2017 – Soleimankheel and others/Netherlands, Nr. 41509/12 Rn. 51; U.v. 11.7.2017 – G.R.S./Netherlands, Nr. 77691/11 Rn. 39; U.v. 11.7.2017 – E.K./Netherlands, Nr. 72586/11 Rn. 67; U.v. 11.7.2017 – E.P. and A.R./Netherlands, Nr. 63104/11 Rn. 80; U.v. 16.5.2017 – M.M./Netherlands, Nr. 15993/09 Rn. 120; U.v. 12.1.2016 – A.G.R./Niederlande, Nr. 13442/08 – NvWZ 2017, 293 Rn. 59).
Das Bestehen individueller, gefahrerhöhender Umstände, die eine Gefährdung im o.g. Sinne dennoch begründen könnten, ergibt sich für den Kläger nach dessen Vorbringen nicht. Diesbezüglich wird auf obige Ausführungen verwiesen.
2. Für den Kläger besteht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch insoweit wird auf die zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dem das erkennende Gericht auch insoweit folgt, geht weiterhin davon aus, dass die Situation in der Zentralregion mit Kabul und auch sonst in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris m.w.N.). Die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan stellt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Zwar können schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167; BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris m.w.N.). Hieran hält das Gericht auch in Würdigung der von der Bevollmächtigten des Klägers vorgelegten Gutachten von Amnesty International und Friederike Stahlmann für das VG Wiesbaden fest (vgl. auch ausführlich VGH Baden-Württemberg, U.v. 11.4.2018 – a.a.O.). Die individuelle Situation des Klägers erfordert bzw. rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Diesbezüglich wird auf obige Ausführungen unter 1.2. verwiesen. Der Kläger verfügt zudem noch über Familie in Kabul (Onkel und Mutter), so dass angenommen werden kann, dass diese ihn zumindest anfangs bzw. notfalls unterstützen würde. Auch aufgrund seiner in Europa erworbenen Erfahrungen und Sprachkenntnisse befindet sich der Kläger in einer vergleichsweise guten Position.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dem Kläger droht auch aufgrund der unzureichenden Versorgungslage in Afghanistan keine extreme Gefahr infolge einer Verdichtung der allgemeinen Gefahrenlage, die zu einem Abschiebungsverbot im Sinne der verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG führen könnte. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungswegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den betroffenen Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Das Erfordernis des unmittelbaren – zeitlichen – Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extremen Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 16; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. A. 2016, § 60 AufenthG Rn. 54). Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssten. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sowie weiterer Oberverwaltungsgerichte, der sich das erkennende Gericht anschließt, ergibt sich aus den Erkenntnismitteln zu Afghanistan derzeit nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (st.Rspr., z.B. BayVGH, B.v. 21.8.2017 – 13a ZB 17.30529 – juris; B.v. 4.8.2017 – 13a ZB 17.30791 – juris; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 6.4.2017 – 13a ZB 17.30254 – juris; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris; B.v. 27.07.2016 – 13a ZB 16.30051 – juris; B.v. 15.6.2016 – 13a ZB 16.30083 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17 m.w.N.; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris; OVG NW, U.v. 3.3.2016 – 13 A 1828/09.A – juris Rn. 73 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 21.10.2015 – 1 A 144/15.A – juris; NdsOVG, U.v. 20.7.2015 – 9 LB 320/14 – juris). Auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG wird Bezug genommen. Eine extreme Gefahr für Leib und Leben i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann der Kläger auch dadurch abwenden, dass er Start- und Reintegrationshilfen in Anspruch nimmt. So können afghanische ausreisewillige Personen seit dem Jahr 2016 Leistungen aus dem REAG-Programm sowie aus dem GARP-Programm erhalten, die Reisebeihilfen im Wert von 200,00 EUR und Starthilfen im Umfang von 500 EUR beinhalten. Darüber hinaus besteht seit Juni 2016 das Reintegrationsprogramm ERIN. Die Hilfen aus diesem Programm umfassen z.B. Service bei Ankunft, Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und caritativen Einrichtungen, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Arbeitsplatzsuche sowie Unterstützung bei einer Geschäftsgründung. Die Unterstützung wird weitgehend als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen für rückgeführte Einzelpersonen beträgt dabei ca. 700 EUR (vgl. Auskunft des Bundesamts vom 12.8.2016 an das VG Ansbach; VG Augsburg, U.v. 18.10.2016 – AU 3 K 16.30949 – juris). Der Kläger könnte sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris; VGH BW, U.v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris). Dementsprechend ist es dem normal Kläger möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Afghanistan freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.


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