Verwaltungsrecht

Asyl: Irak, Stadt Chamchamal, Provinz Sulaimaniyah, Sunnitischer Kurde, Bedrohung durch Familie der ehemaligen Freundin wegen vorehelicher Beziehung (unglaubhaft)

Aktenzeichen  M 4 K 17.49773

Datum:
21.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 22105
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
I.
Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2021 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne, § 102 Abs. 2 VwGO. Die Beklagte wurde formgerecht geladen.
II.
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zuerkennung eines internationalen Schutzes (§§ 3, 4 AsylG) oder Feststellung von Abschiebungsverboten zu. Der streitgegenständliche Bescheid ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klage war daher abzuweisen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Überprüfung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Von einer kompletten Darstellung der Entscheidungsgründe wird nach § 77 Abs. 2 AsylG abgesehen, da das Gericht den Feststellungen im streitgegenständlichen Verwaltungsakt folgt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Verwaltungsakt an falscher Sachverhaltsdarstellung oder kausalen Rechtsfehlern leidet. Die richtigen Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid werden wie folgt ergänzt:
1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG liegen nicht vor. Weder der vom Kläger vorgetragene interfamiliäre Konflikt mit der Familie des Mädchens noch die Familienfehde mit dem Stamm … lässt sich unter einem der abschließend aufgezählten Verfolgungsgründe des § 3b AsylG fassen.
2. Der Kläger hat das Gericht im Falle einer Rückkehr in den Irak von einer dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden, ernsthaften Gefahr nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht überzeugt. Anhaltspunkte für eine Gefahr nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG liegen nicht vor.
Ein Asylbewerber hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für das Drohen einer ernsthaften Gefahr in schlüssiger Form vorzutragen. Es ist erforderlich, dass er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildert, aus dem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass er bei verständiger Würdigung einer gegenwärtigen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu gewärtigen hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, B.v. 26.10.1989 – 9 B 405/89 – juris Rn. 8).
Nach diesen Maßstäben und dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung ist der Vortrag des Klägers in maßgeblichen Teilen nicht glaubhaft.
Der Kläger konnte nicht schlüssig vortragen, tatsächlich von der Familie …s bzw. seiner eigenen Familie bedroht zu sein.
Der in der mündlichen Verhandlung wegen der emotionalen Zurückhaltung des Klägers und fehlendem Detailtiefe der Antworten zunächst entstandene Eindruck, schon keine Frau namens … gekannt bzw. geliebt zu haben, schwand am Ende der mündlichen Verhandlung, als der Kläger (erneut) aufgefordert wurde, von … und seiner Beziehung zu ihr zu erzählen. Beobachtungen des Klägers während der (kurzen) Erzählungen zeigten eine starke emotionale Beteiligung, die der Einzelrichterin glaubhaft schien. Die Einzelrichterin geht daher davon aus, dass der Kläger vor seiner Ausreise tatsächlich in eine Frau namens … verliebt war, hat jedoch erhebliche Zweifel an einer tatsächlichen heimlichen Beziehung der Intensität, die der Kläger angab bzw. des gesellschaftlichen Stands …
Dies ergibt sich daraus, dass der Kläger die Fragen zum Beginn und zur Gestaltung der gemeinsamen Beziehung nur sehr oberflächlich beantworten konnte und trotz Kontakten zu Freunden und der angeblich herausgehobenen Stellung der Familie … angeblich seit seiner Ausreise nichts über ihr weiteres Schicksal erfuhr. Soweit der Kläger angab, dass dies unmöglich sei, weil sein Freund … nicht kenne, erscheint dies angesichts der (zur Verdeutlichung der Gefährdung hervorgehobene) Prominenz von … Familie, die noch dazu zum gleichen Stamm des Klägers gehört und der offensichtlich im Irak verbreiteten Nutzung sozialer Medien durch den Kläger und seines Freundes- und Bekanntenkreises vorgeschoben. … tauschte schließlich mit dem Kläger in der Schule Handynummern, so dass es – auch unter Berücksichtigung einer zwischenzeitlichen Hochzeit von … – unglaubhaft scheint, dass jegliche Kontaktaufnahme mit ihr unmöglich ist. Die zahlreichen Widersprüche im Sachvortrag beginnen mit dem ersten Treffen mit der Freundin, die der Kläger – je nachdem, wann man ihn befragte – bei der Prüfungsvorbereitung (Anhörung beim Bundesamt), zu den Abschlussprüfungen (Schriftsatz vom 22.1.2018) bzw. zu den Halbjahresprüfungen (Anhörung in der mündlichen Verhandlung) kennen gelernt haben will. Dies sei im Juni 2015 oder am … … 2015 gewesen (Anhörung in der mündlichen Verhandlung). Trotz mehrfacher Nachfrage konnte der Kläger nur sehr oberflächliche Angaben zu ihrem ersten Treffen machen und konnte dieses nicht genau zeitlich einordnen, obwohl das erste Treffen an dem wohl herausgehobenen Tag der (Abschluss- bzw. Halbjahres-)Prüfung stattgefunden haben soll, zu der in eine vorher ihm zugewiesene Schule fahren musste. Die Beziehung habe nach den Angaben des Klägers vom ersten Treffen bis zur Ausreise aus dem Irak insgesamt fünf bis sechs Monate gedauert, wobei das erste Treffen Mitte Mai 2015 (Anhörung in der mündlichen Verhandlung) und die Ausreise am 10. September (Anhörung in der mündlichen Verhandlung) bzw. am 26. September (Anhörung beim Bundesamt) stattgefunden habe. Dies entspricht einer Beziehungsdauer von lediglich knapp vier Monaten. Trotz mehrfacher Nachfragen konnte der Kläger über Allgemeinplätze hinaus („über die Zukunft reden“) Aktivitäten oder genauere Gesprächsinhalte mit … vor Eintritt der Bedrohungslage wiedergeben. Ebenso wenig gelang es dem Kläger schlüssig darzulegen, wie die Treffen abgelaufen sind. Über die reine Örtlichkeit hinaus (Treffen bei ihr, wenn die Familie aus dem Haus war), dem Tausch der Handynummern und dem pauschalen Vortrag, dass sie Geschlechtsverkehr hatten, konnte der Kläger trotz mehrfachem Nachfragens in der mündlichen Verhandlung keine Angaben machen.
Aufgrund erheblicher zeitlicher Ungenauigkeiten und inhaltlichen Widersprüchen geht das Gericht weiter nicht davon aus, dass die Ausreise des Klägers erfolgte, weil er aufgrund einer aufgedeckten Beziehung zu … von seiner eigenen oder deren Familie bedroht wurde.
Der Sachvortrag des Klägers zu den Bedrohungen blieb nur in den oberflächlichen Kernelementen stetig; im Übrigen sind zahlreiche Widersprüche zwischen den Angaben des Klägers in der Anhörung beim Bundesamt vom … … 2017, den Begründungsschriftsätzen des Bevollmächtigten vom 22. Januar 2018 und vom 21. April 2021 sowie der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung erkennbar.
Die Bedrohungshandlungen durch den Cousin fingen nach den Angaben des Klägers in der Anhörung beim Bundesamt ab Mai/Juni 2015 an, wobei der Kläger zunächst von einem Anruf eines Unbekannten, den er ignorierte, dann einer SMS sprach und anschließend angab, mit einer Antwort-SMS einen Treffpunkt für das Treffen im Park vereinbarte. Laut der Klagebegründung mit Schriftsatz vom 22. Januar 2018 habe der Kläger zunächst einen Anruf eines Unbekannten erhalten, dann eine DrohSMS. Bei einem erneuten Anruf sei der Cousin der Freundin am Telefon gewesen und habe ihn zu einem Treffen aufgefordert. Der Kläger trug dahingegen in der Anhörung bei der mündlichen Verhandlung vor, dass er ab dem 15. August 2015 einige Anrufe von unbekannten Nummern hatte, die er ignoriert habe, dann habe er per SMS Drohungen und weitere Drohanrufe bekommen. Er sei auf Anruf des Cousins ans Telefon gegangen und dann sei ein Treffen vereinbart worden. Das letzte Telefonat habe circa am 20. August 2015 stattgefunden. Eine erhebliche zeitliche Differenz sowie die leicht divergierende Anzahl und Art der benutzten Kommunikationsmedien ist ersichtlich.
Die zeitliche Einordnung des Treffens im Park bleibt widersprüchlich. Hier widersprach sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung selbst, da er zunächst angab, das Treffen sei circa am 25. August 2015 gewesen (S. 6 der Niederschrift) und später angab und trotz Vorhalts des Widerspruchs dabeiblieb, dass das Treffen eine Woche vor seiner Ausreise (S. 7 der Niederschrift) gewesen sei. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung gab der Kläger an, dass er am … oder … … 2015 den Irak verlassen habe, während er in den Anhörungen Bundesamt angab, den Irak am … … 2015 verlassen zu haben. Selbst bei klägergünstiger Betrachtung, dass er tatsächlich bereits am … … 2015 ausreiste – wovon das Gericht jedoch wegen der Übereinstimmung der Daten in den zeitlich noch näher gelegenen Anhörungen beim Bundesamt zu AusreiseEinreisezeitpunkt und Reisedauer nicht ausgeht – liegt mehr als eine Woche Differenz zwischen den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung.
Hinzu kommt, dass der Kläger in der Anhörung beim Bundesamt im weiteren zeitlichen Ablauf schilderte, dass sieben bis zehn Tage nach dem Treffen im Park die Schüsse auf das Haus der klägerischen Familie abgegeben wurden und noch einmal sieben bis zehn Tage später der Gegenangriff der klägerischen Familie auf den verfeindeten Stamm stattfand. Er selbst sei bei diesem Angriff zwar nicht beteiligt, allerdings noch im Irak anwesend gewesen. Unter Berücksichtigung des Vorbringens in der mündlichen Verhandlung, das Treffen im Park habe nur eine Woche vor seiner Ausreise stattgefunden, ergeben sich erhebliche zeitliche Widersprüche, die der Kläger im Fortgang nicht aufklären konnte, sondern noch vertiefte.
Der Kläger erklärte Fortgang der mündlichen Verhandlung, dass die Schüsse auf das klägerische Haus drei bis vier Tage vor seiner Ausreise stattgefunden hätten; was im deutlichen Widerspruch zu dem geschilderten Zeitablauf in der Anhörung beim Bundesamt steht. Der Gegenangriff sei nach Angaben des Klägers in der Anhörung beim Bundesamt sieben bis zehn Tage nach den Schüssen auf das klägerische Haus gewesen. Ein Onkel des Klägers sowie eine Person der verfeindeten Familie seien dabei gestorben. Im Rahmen der Anhörung in der mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger, dass noch am selben Abend der Schüsse auf das klägerische Haus ein Gegenangriff gestartet wurde. Ein Schusswechsel habe dort zwar stattgefunden, aber man habe dann irgendwie herausgefunden, dass der Angriff auf das Haus nicht von der verfeindeten Familie geschehen sei. Auf Nachfrage des Gerichts gab der Kläger dann an, dass niemand bei dem Schusswechsel mit dem verfeindeten Clan gestorben oder verletzt worden sei. Auf diesen deutlichen Widerspruch angesprochen erklärte der Kläger, es sei tatsächlich sein Onkel und jemand von der gegnerischen Familie gestorben, er habe sich nur nicht in Widerspruch zu seinen Angaben beim Bundesamt setzen wollen. Diese Angabe ist unglaubhaft und wird als Schutzbehauptung angesehen, da die Anhörung beim Bundesamt ausweislich der Akte dem Kläger rückübersetzt wurde. Auch ist auffällig, dass der Kläger in der Anhörung beim Bundesamt angab, dass er nur glaube, dass jemand von der verfeindeten Familie gestorben sei. In der mündlichen Verhandlung nannte er dahingegen spontan, dass eine Person namens Khalil getötet worden sei. Angesichts dieser Abweichungen drängt sich auf, dass ein Problem mit einer verfeindeten Familie vor der Ausreise nicht bestand.
Weitere Widersprüche ergeben sich, da der Klägerbevollmächtigte in seinem Schriftsatz vom 22. Januar 2018 angab, dass der Kläger vor seiner Flucht weder seinen Freunden noch seiner Familie von den Geschehnissen erzählt habe, während der Kläger in der mündlichen Verhandlung angab, dass er einem Freund nach einem Ausweg aus seiner Situation gefragt und dieser ihm geraten habe, den Irak zu verlassen.
Der Klägerbevollmächtigte erklärte mit Schriftsatz vom 21. April 2021, dass er nur spärlichen Kontakt mit seiner Familie habe und ihm nicht erzählt werde, wie es der Familie gehe. Die wenigen Informationen, die der Kläger seit seiner Ausreise erhalten habe, habe er über einen Freund erhalten, der keinen direkten Kontakt zu seiner Familie habe. Dann wird jedoch inhaltlich genau über die Schlichtung des angeblich zwischen den Familien bestehenden Streits aufgrund der unehelichen Beziehung des Klägers mit … durch einen namentlich benannten, hochrangigen Funktionär berichtet. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger zu diesem Komplex zunächst an, dass er nicht wisse, ob es zu einer Einigung gekommen sei oder nicht, um dann dennoch den kompletten Inhalt der Schlichtung wiederzugeben. Anschließend konnte der Kläger genau die Person des Schlichters benennen. Der Kläger gab an, von der Schlichtung bereits ein bis eineinhalb Jahre vor dem Tag der mündlichen Verhandlung erfahren zu haben. Seine Familie sei nach eigenen Angaben circa ein Jahr vor der mündlichen Verhandlung wegen der Gefahren durch … Familie nach … umgezogen. Die trotz Kenntnis dieses Sachverhalts erst einige Tage nach der mündlichen Verhandlung vorgelegte Schlichtungsurkunde führt den namentlich benannten Funktionär, der geschlichtet haben soll, nicht auf und datiert vom 5. November 2019. Auf der Urkunde ist bereits eingetragen, dass die klägerische Familie in … lebt. Die Angaben des Klägers mäandern bezüglich der Schlichtungsvereinbarung und des Umzugs der Familie des Klägers erheblich. Angesichts der Tatsache, dass es dem Kläger überhaupt möglich war, die Schlichtungsvereinbarung zu beschaffen und über seinen Freund auch zeitnahe Informationen darüber zu bekommen, ist die Bedrohungslage durch die klägerische Familie für den Kläger sowie der spärliche Kontakt äußerst fraglich. Da im Irak gegen Geldzahlungen sogar Fälschungen von staatlichen Urkunden erhältlich sind und die vorgelegte Schlichtungsvereinbarung nicht in einem detaillierten, schlüssigen Vortrag eingebettet ist, sind die Angaben zur Schlichtung unglaubhaft.
Weitere übergreifende Elemente führen weiter dazu, dass die Glaubhaftigkeit des Sachvortrags anzuzweifeln ist. Der Kläger ist im Februar 1992 geboren und will den Irak am Ende der 9. Klasse verlassen haben. Bei einer Regeleinschulung mit sechs bzw. zu Gunsten des Klägers sieben Jahren, wäre er im Schuljahr 1999/2000 eingeschult worden und hätte daher die 9. Klasse im Schuljahr 2008/2009 beenden müssen. Selbst unter Berücksichtigung der Möglichkeit, dass der Kläger einige Schuljahre durchgefallen wäre bzw. – wie von ihm bereits in der Anhörung beim Bundesamt angegeben – nicht durchgängig die Schule besucht hätte, ist festzustellen, dass der Kläger bei einer Ausreise am Ende der 9. Klasse zum 1. September 2015 fünf ganze Schuljahre verpasst haben müsste. Dies erscheint unwahrscheinlich. Ebenso sind die vielfach angeeigneten Berufskenntnisse des Klägers neben einem bestehenden Schulbesuch unglaubhaft. Als weiterer Aspekt kommt hinzu, dass die Bedrohungshandlung angeblich im Sommer 2015 stattfand, zufällig kurz vor der sog. Öffnung der Balkanroute im Herbst/Winter 2015, was zwar nicht unmöglich ist, angesichts der starken Widersprüche im Sachvortrag jedoch durchaus Berücksichtigung finden kann.
In einer Gesamtschau schätzt das Gericht nach Vorgehendem den Vortrag des Klägers zu einer ernsthaft drohenden Gefahr durch die Familie der Freundin, seine eigene Familie sowie der verfeindeten Familie als unglaubhaft ein. Auch wenn einzelne Datumsfehler oder Einordnungsschwierigkeiten nicht zwingend zur fehlenden Glaubhaftigkeit eines Sachvortrags führen müssen, sind die Anzahl und Art der Widersprüche, Ungenauigkeiten und Auffälligkeiten im Sachvortrag des Klägers so gewichtig, dass nicht mehr von einem schlüssigen Sachvortrag auszugehen ist.
3. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz aus § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG wegen willkürlicher Gewalt gegen Zivilisten im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts ist nicht gegeben. Nach Überzeugung des Gerichts ist unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls – insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnenden Umstände („qualitativen Merkmale“), der volatilen Sicherheitslage in Sulaimaniyya und der im Irak herrschenden, sich überlagernden Konflikte (EUGH, U.v. 10.06.2021 – C-901/19 – Leitsatz 2) – nicht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im Sinne eines „real risk“ auszugehen, dass jede anwesende Person in Sulaimaniyya aufgrund der innerstaatlichen Konflikte einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist (EASO, Country Guidance Iraq, Januar 2021, S. 35 ff., 125 ff., 131, 151 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Januar 2021, S. 16 ff.; EASO, Irak Sicherheitslage; Oktober 2020, S. 15 ff., 31 ff., 41, 198 ff.).
4. Ein Abschiebungsverbot ist für die Kläger nach den aktuellen Erkenntnismittel nicht festzustellen.
4.1 Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist unter Berücksichtigung der individuellen Lage des Klägers nicht festzustellen. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2013 (Az. 10 C 15/12; NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 3 m.w.N. des EGMR) können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch die grundlegenden humanitären Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzten. Nach Auffassung des EGMR wird die Schwelle des Art. 3 EMRK bei schlechten humanitären Lebensbedingungen nur in sehr seltenen Fällen erreicht werden (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013, Az. 10 C 15/12, Rz. 25). Diese Rechtsprechung basiert auf den Einzelfall eines Ausländers, der sich im Endstadium seiner tödlichen Aidserkrankung befand, und in sein Herkunftsland, einem Entwicklungsland, in dem er aufgrund fehlender sozialer Bindungen mit großer Sicherheit obdachlos geworden wäre, abgeschoben werden sollte (EGMR, Urteil vom 2.5.1997, Az. 146/1996/767/964; NVwZ 1998,161). Ein derart spezieller Ausnahmefall liegt bei den Klägern trotz prekärer humanitärer Verhältnisse im Irak nicht vor.
Die allgemeine Versorgungslage stellt sich im Irak aktuell als schwierig dar. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig, was durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt wird. Eine erhebliche Schwächung der irakischen Wirtschaft ist durch den Verfall des Ölpreises und der angeordneten Gegenmaßnahmen im Rahmen der COVID-19 Pandemie (EASO, COI Report Iraq: Key socio-economic indicators, September 2020 (im Folgenden: EASO COI KSE indicators) S. 33 f.) festzustellen, da die irakische Wirtschaft in hohem Maße von der Ölförderung und damit dem Ölpreis abhängig ist (EASO Informationsbericht Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren, Februar 2019, S. 34.; EASO COI KSE indicators S. 36 f.). Eine dadurch befürchtete Erhöhung der Armut vor allem von vulnerablen Bevölkerungsgruppen (Tagelöhner, binnenvertriebene Familien mit vielen Kindern) ist bereits messbar (EASO COI KSE indicators, S. 14, 33 ff., 43 f.). Zwar leiden unter Berücksichtigung der bestehenden Hilfsprogramme aktuell nur wenige Personen unter akuter Lebensmittelunsicherheit (zwischen 1 und 5% der Männer und 1,5 bis 7,8% der Frauen im Irak), allerdings sind zwischen 50 und 60% der Iraker von Lebensmittelunsicherheiten bedroht. Trotz der COVID-19-Pandemie ist die Lebensmittelsicherheit aktuell aufgrund von Gegenmaßnahmen der Regierung sichergestellt, auch wenn angesichts der Staatsfinanzenabhängigkeit vom Ölpreis die dauerhafte Finanzierung der Ernährungssicherungs-Programme und – Maßnahmen nicht langfristig sichergestellt ist (EASO COI KSE indicators S. 46 ff.). Die Strom- und Wasserversorgung ist nur auf sehr niedrigem Niveau gewährleistet; tägliche Stromausfälle sind üblich, wobei große regionale Unterschiede bestehen (EASO COI KSE indicators, S. 48, 57 f.; UNHCR Erwägungen, S. 66 ff). Trotz starker Rückkehrbewegungen von Binnenvertriebenen nach dem Ende des militärischen Großeinsatzes gegen den IS Ende 2017 verbleiben weiterhin 1,4 Millionen Binnenvertriebene im Irak. Von den in ihre Ursprungsgebiete zurückgekehrten Binnenvertriebenen (circa 4,8 Millionen) benötigen im Mai 2020 aktuell 4,1 Millionen humanitäre Hilfe (EASO COI KSE indicators, S. 14 ff.). Aufgrund von Naturkatastrophen kam es im Jahr 2019 zu zusätzlichen Binnenvertriebenen im oberen fünfstelligen Bereich (EASO COI KSE indicators, S. 13). Die hohe Arbeitslosigkeit und der demografische Faktor (37% der Bevölkerung ist im Alter zwischen 0 und 14 Jahren; vgl. EASO COI KSE indicators S. 12, 21) führt vor allem im Süden Iraks und den ehemals vom IS besetzten Gebieten zu hoher relativer Armut (30 – 40%) und der Zugang zum Arbeitsmarkt ist aufgrund des verbreiteten Nepotismus und Korruption weiterhin schwierig (EASO COI KSE indicators S. 28 f., 36 f., 40 f., 43 f.). Die Regierung reagiert darauf mit angebotenen (Um) schulungsprogramme und Einstellungsoffensiven als staatliche Sicherheitskräfte (EASO COI KSE indicators S. 21 f.). Bereits ein Großteil der Beschäftigten arbeitet im staatlichen Sektor, was vor dem Hintergrund der nicht nachhaltigen Staatsfinanzierung über Erdölexport zu häufigen Aussetzungen und Verspätungen von Lohnzahlungen, wegen innenpolitischen Konflikten insbesondere in der Kurdischen Autonomieregion, führt (EASO COI KSE indicators S. 36 f., 40 f., 43 f.). Nationale und internationale Hilfsprogramme und Sicherheitssysteme (z.B. Food Ration Programm) sind in niedrigen Umfang für alle Bürger Iraks inklusive Rückkehrern, die in besonderen Schwierigkeiten sind und Papiere vorweisen können, verfügbar. Hierbei ist festzustellen, dass eine durchgängige Verfügbarkeit der Teilnahme nicht in allen Landesteilen sichergestellt ist. Die irakische Regierung plant die Einführung eines Programms zur finanziellen Unterstützung von Arbeitslosen und Personen, die weniger als ein US-Dollar pro Tag verdienen (EASO COI KSE indicators S. 29 f., 41 f., 43 f.). 2.375 Wiederaufbauprogramme in den ehemals vom IS besetzten Gebieten wurden erfolgreich abgeschlossen und ermöglichten die Rückkehr von einer erheblichen Anzahl an Binnenflüchtlingen (EASO COI KSE indicators S. 15). Aufgrund der Wiederaufbauprogramme leben fast alle Rückkehrer in angemessenen Behausungen. Die Wohnungssituation für verbliebene Binnenvertriebene stellt sich jedoch als weiterhin schwierig dar (EASO COI KSE indicators S. 17 ff., 57 f.). Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung ist allen Bürgern Iraks mit ID-Karte gewährleistet, wobei die Grundversorgung aufgrund von zusätzlichen Kosten für nicht von der Basisversorgung umfassten Behandlungen, Personalknappheit und Lieferengpässen von Medikamenten trotz deutlicher Wiederaufbauanstrengungen in den letzten Jahren vor allem in ländlichen Gebieten, im Süden Iraks und in den Rückkehrgebieten nicht immer in ausreichendem Maß vorhanden ist. Eine große Lücke ist aufgrund des kriegsbedingt starken Anstiegs des Bedarfs vor allem bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen festzustellen (EASO COI KSE indicators S. 20 f., 50 ff.). Die COVID-19 Pandemie bringt wegen der hohen Ansteckungsrate von medizinischem Fachpersonal das intensivmedizinische System mit Auswirkungen für die Basisversorgung aktuell an seine Grenzen (EASO COI KSE indicators 33 f.). Im Rahmen des humanitären Kontexts ist festzustellen, dass über alle Bereiche insbesondere vulnerable Personen (alleinstehende Frauen, Haushalte mit Frauen als Haushaltsvorstände, Familien mit vielen Kindern ohne familiäre Unterstützung, behinderte Personen, etc.) überdurchschnittlich stark von den benannten Schwierigkeiten betroffen sind.
Ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverbote steht dem Kläger nicht zu, da sein Existenzminimum zum aktuellen Zeitpunkt und unter Berücksichtigung der humanitären Lage erwirtschaftet werden kann. Er gehört nicht zu einer besonders vulnerablen Gruppe, die wegen der Sars-CoV2-Pandemieinduzierten Wirtschaftskrise in Gefahr einer raschen und vollständigen Verelendung steht. Der Kläger kann sich nach seiner Rückkehr wieder unter den Schutz seiner zahlreichen Familienmitglieder begeben. Wegen Unglaubhaft des Vortrags der Verfolgung und der dadurch entstandenen Bedrohungslage kann der Kläger auf seine Verwandten zurückgreifen. Doch selbst wenn nicht ist der Kläger ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann, dem es auch ohne seine Familie trotz der schwierigen humanitären Lage gelingen wird, das Existenzminimum im Irak sicherzustellen. Die Angabe des Klägerbevollmächtigten, dass ein alleinstehender Mann im Irak auffällt, ist für irakische Großstädte, die mehr und mehr von einem individualisierten (westlichen) Lebensstil durchdrungen werden, nicht derart pauschal anzunehmen. Außerdem besteht für den Kläger – insbesondere im Fall der freiwilligen Ausreise – die Möglichkeit, in nicht unerheblichem Umfang Rückkehr- und Starthilfen im Rahmen des REAG/GARP- und des ERRIN-Programms sowie weitere Unterstützungsleistungen für Rückkehrer in Anspruch zu nehmen, die ihr die Rückkehr erheblich vereinfachen (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin; s. a. VG Hamburg, U.v. 23.7.2019 – UA S. 25 f.; VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 – juris Rn. 65).
4.2 Ein Abschiebungsverbot nach Maßgabe des § 60 Abs. 7 AufenthG (auch in verfassungskonformer Anwendung) ist nicht festzustellen. Eine dem Kläger landesweit drohende erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ist nicht ersichtlich. Bezüglich der vorgetragenen Gefahr durch die Familie des Mädchens und der Sicherheitslage wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die geltend gemachten gesundheitlichen Beschwerden des Klägers sind nicht ausreichend substantiiert worden, um eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen im Fall einer Abschiebung in den Irak anzunehmen, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 2c Sätze 1 und 2 AufenthG. Eine solche liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Selbst unter Beachtung der vorgetragenen, nur mit veralteten Attesten belegten Beschwerden (gutartige Wucherung am rechten Bein, die operativ entfernt wurde, akutes Gallensteinleiden, V.a. Migräne) erreichen die Erkrankungen des Klägers nicht die notwendige Intensität.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
IV.
Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 S. 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.


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