Verwaltungsrecht

Asyl, Nigeria: Interne Fluchtalternative für Opfer von Zwangsprostitution vorhanden

Aktenzeichen  W 10 K 18.31682

Datum:
21.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 38258
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 3, § 3c, § 4

 

Leitsatz

1 Durch Art. 4 Abs. 4 Qualifikations-RL wird ein Vorverfolgter bzw. Geschädigter davon befreit, stichhaltige Gründe dafür vorzubringen, dass sich die Bedrohungen erneut realisieren, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt. Die Vorschrift privilegiert den betroffenen Ausländer durch eine widerlegliche Vermutung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Eine Widerlegung der Vermutung ist möglich, wenn stichhaltige Gründe gegen eine Wiederholung sprechen. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Klägerin als Opfer von Zwangsprostitution und Menschenhandel ist es möglich und zumutbar, sich in einem anderen Teil Nigerias aufzuhalten. Sie kann sich beispielsweise in eine der zahlreichen Großstädte, insbesondere Abuja oder in den liberaleren Südwesten des Landes, nach Lagos oder Ibadan, begeben. Wenn sie nicht von sich aus zu ihrer Zuhälterin Kontakt aufnimmt, ist es unwahrscheinlich, dass sie in einer anonymen Großstadt nach vielen Jahren der Abwesenheit außerhalb ihrer Heimatregion aufgefunden wird. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine drohende Beschneidung in Nigeria stellt grundsätzlich eine an das Geschlecht anknüpfende politische Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, weil die zwangsweise Verstümmelung der Genitalien gerade darauf gerichtet ist, die sich weigernde Frau in ihrer politischen Überzeugung zu treffen, indem sie den Traditionen unterworfen wird und unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts zu einem verstümmelten Objekt gemacht wird (vgl. VG Gelsenkirchen BeckRS 2017, 134415). (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts vom 24. Juli 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Denn die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 bis 3 AsylG oder auf die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Auch die weiteren Entscheidungen in den Ziffern 5 und 6 des Bescheides sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG (BT-Drs. 16/5065, S. 213; vgl. auch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).
a) Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen.
Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Dem Ausländer muss eine Verfolgungshandlung drohen, die mit einem anerkannten Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) eine Verknüpfung bildet, § 3a Abs. 3 AsylG. Als Verfolgungshandlungen gelten gemäß § 3a AsylG solche Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 685, 953 – Europäische Menschenrechtskonvention) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Eine Verfolgung in diesem Sinne kann nach § 3c AsylG sowohl von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2) (interner Schutz bzw. innerstaatliche Fluchtalternative).
Maßgeblich für die Beurteilung, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der dem Maßstab des „real risk“, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei der Prüfung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) anwendet (vgl. EGMR, U.v. 28.2.2008 – 37201/06, NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.; U.v. 23.2.2012 – 27765/09, NVwZ 2012, 809 Rn. 114), entspricht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ist die Furcht des Ausländers begründet, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine “qualifizierende” Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32; U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14; VGH Baden-Württemberg, U.v. 3.11.2016 – A 9 S 303/15 -, juris Rn. 32 ff.; Niedersächsisches OVG, U.v. 21.9.2015 – 9 LB 20/14 -, juris Rn. 30).
Wurde der betroffene Ausländer bereits verfolgt oder hat er einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten bzw. war er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht und weisen diese Handlungen und Bedrohungen eine Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund auf, greift zu dessen Gunsten die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie – QRL, Amtsblatt-Nr. L 337, S.9), wonach die Vorverfolgung bzw. Vorschädigung einen ernsthaften Hinweis darstellt, dass sich die Handlungen und Bedrohungen im Falle einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15). Die Vorschrift privilegiert den betroffenen Ausländer durch eine widerlegliche Vermutung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Eine Widerlegung der Vermutung ist möglich, wenn stichhaltige Gründe gegen eine Wiederholung sprechen. Durch Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte davon befreit, stichhaltige Gründe dafür vorzubringen, dass sich die Bedrohungen erneut realisieren, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.
Dem Ausländer obliegt gleichwohl die Pflicht, seine Gründe für die Verfolgung schlüssig vorzutragen. Das bedeutet, dass ein in sich stimmiger Sachverhalt geschildert werden muss, aus dem sich bei Wahrunterstellung und verständiger Würdigung ergibt, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht. Dies beinhaltet auch, dass der Ausländer die in seine Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse, die geeignet sind, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen, wiedergeben muss (vgl. OVG Nordrhein – Westfalen, U.v. 2.7.2013 – A 9 S 303/15 -, juris Rn. 59 f. mit Verweis auf BVerwG, B.v. vom 21.7.1989 – 9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349 (juris Rn. 3 f.); B.v. 26.10.1989 – 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38 (juris Rn. 8); B.v. 3.8.1990 – 9 B 45.90 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 225 (juris Rn. 2)).
b) Unter Berücksichtigung vorgenannter Voraussetzungen und Maßstäbe sind die Voraussetzungen des § 3 AsylG nicht erfüllt, weil die Klägerin zumutbaren internen Schutz im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG in Anspruch nehmen kann.
Soweit die Klägerin vorbringt, von ihrem Stiefvater in Nigeria über Jahre hinweg vergewaltigt worden zu sein, fehlt es diesbezüglich bereits an einem anerkannten Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG. Grundsätzlich kann sowohl die von der Klägerin vorgetragene drohende Genitalverstümmelung in Nigeria, als auch die Anwerbung und Ausbeutung zum Zwecke der Zwangsprostitution eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG darstellen, die an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpft. Der Klägerin droht aber nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.
aa) Der Handel von nigerianischen Frauen und Kindern zu sexuellen Zwecken ist in Nigeria ein weit verbreitetes Phänomen und ein Problem großen, jedoch schwer bezifferbaren Ausmaßes. Die meisten Opfer des Menschenhandels stammen aus Benin City, der Hauptstadt des Bundesstaats Edo, sowie nahegelegenen Dörfern (vgl. Bericht des European Asylum Support Office – EASO – über Herkunftsländer – Informationen – Nigeria: Sexhandel mit Frauen, S. 14 ff m.w.N.). Üblicherweise werden die Opfer in der Rekrutierungsphase durch Täuschung oder falsche Versprechungen dazu bewegt, nach Europa (überwiegend nach Italien und Spanien) zu gehen, um dort als Prostituierte zu arbeiten. Häufig wird den Frauen, die meist aus ärmlichen Verhältnissen stammen, in Aussicht gestellt, in Europa einen gut bezahlten Arbeitsplatz oder Bildungschancen zu erhalten, um dort ein besseres Leben führen zu können bzw. der in Nigeria zurückbleibenden Familie aus der Armut heraushelfen zu können. Zentrale Figuren und Anführer der Menschenhandelsnetzwerke sind in der Regel die sogenannten „Madams“, die oft selbst frühere Opfer der Zwangsprostitution sind. Die Madams rekrutieren die Opfer und überwachen den gesamten Prozess des Menschenhandels. Sie sind häufig auch die Personen, welche die Reise nach Europa finanzieren. Eine Aufklärung über die tatsächliche Schuldenhöhe erfolgt erst nach der Ankunft in Europa. Den zur Prostitution gezwungenen Frauen wird in der Regel ein Schuldenbetrag in Höhe von 35.000,00 EUR bis 50.000,00 EUR in Rechnung gestellt, den sie bei der Madame abbezahlen müssen (vgl. Bericht des European Asylum Support Office – EASO – über Herkunftsländerinformationen – Nigeria: Sexhandel mit Frauen, S. 26 m.w.N.). Um die Zwangslage der zur Prostitution gezwungenen Frauen zu verstärken, kommt Voodoo – Ritualen eine besondere Bedeutung zu. Der Glaube an Voodoo ist in Nigeria, insbesondere im Bundesstaat Edo, weit verbreitet. Bei Voodoo, zuweilen auch als „Juju“ bezeichnet, handelt es sich um eine traditionelle westafrikanische Glaubensrichtung, die durch schwarze Magie und rituelle Schwüre geprägt ist. Dies machen sich die Menschenhändler zunutze, um die Opfer aufgrund ihres Glaubens an die Madam und die Schleuser zu binden und psychischen Druck auf die Opfer auszuüben. Die betroffenen Frauen müssen in einer rituellen Zeremonie einen sogenannten Juju – Schwur ablegen, durch welchen sie sich dazu verpflichten, das geschuldete Geld zurückzuzahlen, die Identität der Menschenhändler nicht preiszugeben und sich diesen bedingungslos zu untergeben. Es wird daran geglaubt, dass der Bruch des Schwurs Krankheit, Wahnsinn oder den Tod der Frauen und deren Familien zur Folge habe (vgl. dazu auch ACCORD, Nigeria – Traditionelle Religion, Okkultismus, Hexerei und Geheimgesellschaften, Bericht vom 17.6.2011, S. 7 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Zwangsheirat, Innerstaatliche Fluchtalternative für alleinstehende Frau, Einfluss von Voodoo – Praktiken, 16.3.2016).
Die Klägerin hat gegenüber dem Gericht in der mündlichen Verhandlung glaubhaft gemacht, dass sie zu dem Personenkreis zur Prostitution gezwungener Frauen gehört, auch wenn die Klägerin nicht gemeinsam mit ihrer Zuhälterin nach Europa gereist ist. Die Klägerin gab diesbezüglich sowohl bei der Bundesamtsanhörung als auch in der mündlichen Verhandlung an, von einer Frau zum Zwecke der Prostitution nach Libyen gebracht worden zu sein. Die Klägerin schilderte im Rahmen der informatorischen Anhörung nachvollziehbar und schlüssig, Opfer einer Menschenhändlerin geworden zu sein. Sie habe aufgrund ihrer Obdachlosigkeit keine andere Wahl gehabt, als mit der Frau mitzukommen. Sie habe sich vorgestellt, dass sie der Frau im Haushalt helfen würde. Erst in Libyen sei ihr offenbart worden, dass sie sich zum Zwecke der Abarbeitung angeblicher Schulden prostituieren müsse. In dieses Bild passt es auch, dass offenbar eine rituelle Zeremonie stattgefunden hat, bei der die Klägerin Haare, eine Unterhose und Blut abgeben musste. Das Gericht ist insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks, den es von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, davon überzeugt, dass der Vortrag der Klägerin der Wahrheit entspricht. Die Klägerin zeigte in der mündlichen Verhandlung eine Narbe am rechten Unterarm und erklärte, dass die Frau sie dort geritzt habe, um Blut zu nehmen. Die Angaben der Klägerin decken sich im Wesentlichen mit dem üblichen Vorgehen der Menschenhändlernetzwerke, auch wenn der klägerische Vortrag an einzelnen Stellen, wie beispielsweise der Angabe konkreter Zeitabschnitte, Detailreichtum vermissen ließ. Die Klägerin stammt aus dem am meisten von Menschenhandel betroffenen Bundesstaat Nigerias. Entgegen der Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids konnte sich in der mündlichen Verhandlung auch nicht bestätigen, dass es im Falle der Klägerin an einer vorgenommenen Täuschungshandlung zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung fehlt. Das Gericht ist vielmehr davon überzeugt worden, dass der Klägerin erst in Libyen der eigentliche Zweck der Reise offenbart wurde. Die fehlende Detailtiefe führt das Gericht auf die Introvertiertheit und den niedrigen Bildungsstand der Klägerin zurück, welcher auch aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks deutlich wurde. Zudem schilderte die Klägerin die Geschehnisse widerspruchsfrei und begleitet von entsprechenden Emotionen, was erfahrungsgemäß bedeutet, dass die Erlebnisse einprägsam waren und tatsächlich stattgefunden haben.
Das Gericht folgt grundsätzlich in Übereinstimmung mit dem Bundesamt der Auffassung, dass nach Nigeria zurückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und sich hiervon befreit haben, eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen (vgl. VG Würzburg, U.v. 17.11.2015 – W 2 K 14.30213 – juris Rn. 29 f. m.w.N.). Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Zur Prostitution gezwungene Frauen stellen aufgrund ihres gemeinsamen und nicht veränderbaren Hintergrunds, Opfer von Menschenhandel geworden zu sein, eine bestimmte soziale Gruppe dar. Es fehlt auch nicht an einer Wahrnehmung der betroffenen Frauen als abgrenzbare Gruppe durch die sie umgebende Gesellschaft (externes Erfordernis). Entscheidend ist hierbei die Betrachtung der Gruppe als gesellschaftlicher Fremdkörper. Dies ist im Falle der zur Zwangsprostitution und nach Nigeria zurückkehrenden Frauen anzunehmen, da rückgeführte Opfer Diskriminierungen durch die Familie und das soziale Umfeld sowie Vergeltungsmaßnahmen durch die Menschenhändlerorganisationen ausgesetzt sind (vgl. VG Wiesbaden, U.v. 14.3.2011 – 3 K 1465/09.WI.A – juris).
Gleichwohl genügt alleine die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nicht, um einen Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG zu begründen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin durch ihre Familie und die Gesellschaft eine Stigmatisierung aufgrund der Tätigkeit als Prostituierte drohen würde. Nach den Angaben der Klägerin weiß niemand, dass sie sich in Libyen prostituieren musste, so dass ihr auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gesellschaftliche Verfolgungshandlung von asylrechtlicher Relevanz droht.
Soweit die Klägerin befürchtet, dass sie von der Menschenhandelsorganisation in Nigeria aufgefunden werden könne, teilt das Gericht diese Befürchtung nicht. Die Klägerin muss sich auf die bestehende Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes (innerstaatliche Fluchtalternative) verweisen lassen, § 3e AsylG. Nach § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Der Klägerin ist es möglich und zumutbar, sich in einem anderen Teil Nigerias aufzuhalten. Sie kann sich beispielsweise in eine der zahlreichen Großstädte, insbesondere Abuja oder in den liberaleren Südwesten des Landes, nach Lagos oder Ibadan, begeben. Wenn sie nicht von sich aus zu ihrer Zuhälterin Kontakt aufnimmt, ist es unwahrscheinlich, dass sie in einer anonymen Großstadt nach vielen Jahren der Abwesenheit außerhalb ihrer Heimatregion aufgefunden wird, zumal Nigeria etwa 190 Millionen Einwohner hat, eine Fläche von 925.000 Quadratkilometer aufweist und dabei nicht über ein funktionsfähiges Meldesystem verfügt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Nigeria, Stand: 7.8.2017, S. 49, 61). Dies gilt umso mehr, als es nach den Angaben der Klägerin nach ihrer Flucht zu keinen Kontaktaufnahme- oder Bedrohungsversuchen durch die Zuhälterin gekommen ist.
Das Gericht verkennt nicht, dass alleinstehende Frauen insbesondere im konservativen Norden, aber auch in anderen Landesteilen diskriminiert werden. Zudem kommt familiären Bindungen in der nigerianischen Gesellschaft eine gesteigerte Bedeutung zu. Ein Umzug in eine der südwestlichen Großstädte trifft alleinstehende (und kinderlose) Frauen in der Regel gleichwohl nicht übermäßig hart, zumal sie dort eher Akzeptanz erfahren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, S 15; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Nigeria, Stand: 7.8.2017, S. 51). Nach den Angaben der Klägerin, die durch das Gericht nicht weiter nachprüfbar sind, hat diese außerhalb ihres Heimatdorfes keine Verwandten in Nigeria. Das Gericht geht allerdings davon aus, dass die Klägerin als junge, gesunde Frau ohne Unterhaltsverpflichtungen in Nigeria in einer der zahlreichen Großstädte jedenfalls eine existenzsichernde Arbeit finden und ihre elementaren Grundbedürfnisse befriedigen kann, auch wenn sie nicht auf die Hilfe von Familienangehörigen hoffen kann. Diese Einschätzung wird dadurch bestätigt, dass die Klägerin alleine nach Europa gereist ist, zeitweise sogar auf der Straße gelebt hat und dadurch letztlich bewiesen hat, dass sie sich auch in einer ihr unbekannten Umgebung mit wenigen Mitteln behaupten kann.
bb) Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich auch nicht aus der von der Klägerin geltend gemachten Gefahr der Genitalverstümmelung.
Eine drohende Beschneidung in Nigeria stellt grundsätzlich eine an das Geschlecht anknüpfende politische Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, weil die zwangsweise Verstümmelung der Genitalien gerade darauf gerichtet ist, die sich weigernde Frau in ihrer politischen Überzeugung zu treffen, indem sie den Traditionen unterworfen wird und unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts zu einem verstümmelten Objekt gemacht wird (vgl. VG Aachen, U.v. 16.9.2014 – 2 K 2262/13.A – juris Rn. 31; VG Gelsenkirchen, B.v. 22.11.2017 – 9a K 5898/17.A – juris Rn. 17). Der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann entsprechend dem Wortlaut des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG a.E. auch dann vorliegen, wenn die Verfolgungshandlung alleine an das Geschlecht anknüpft.
Das Gericht geht davon aus, dass weibliche Genitalverstümmelung in vielen Regionen Nigerias verbreitet ist. Auch wenn die Beschneidungspraxis rückläufig ist und inzwischen in einigen Bundesstaaten unter Strafe gestellt ist, so handelt es sich dabei gleichwohl um eine Tradition der nigerianischen Gesellschaft, die nach wie vor insbesondere in ländlichen Regionen im Südwesten und in der Region Süd -Süd praktiziert wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, S 15). Die Beschneidung dient unter anderem der Kontrolle der weiblichen Sexualität sowie der Sicherstellung der wirtschaftlichen Zukunft der Frau und erfolgt zuweilen auch aus hygienischen, gesundheitlichen oder religiösen Gründen. Zur Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung gibt es unterschiedliche Zahlen, die von 19% bis zu 60% reichen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Frauen in Nigeria, November 2006, S. 15; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 11; ACCORD, Nigeria, Frauen, Kinder, sexuelle Orientierung, Gesundheitsversorgung, 21. Juni 2011, S. 6 ff.). Auch das Alter, in dem die Beschneidung erfolgt, reicht vom frühen Säuglings- und Kindesalter bis zum Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Herkunftsregion und Volksgruppe.
Allerdings sind die Angaben der Klägerin bezüglich der befürchteten Genitalverstümmelung in sich widersprüchlich und daher nicht glaubhaft.
So führte die Klägerin in der Anhörung beim Bundesamt aus, sie sei Angehörige der Volksgruppe Edo. In der mündlichen Verhandlung gab sie dagegen an, lediglich aus dem Bundesstaat Edo zu stammen. Welcher ethnischen Volksgruppe sie angehöre, wisse sie aber nicht. In ihrem Heimatdorf lebe ein bestimmter Volksstamm, an deren Namen sie sich allerdings nicht erinnern könne.
Darüber hinaus widersprechen sich auch die Angaben der Klägerin zu dem üblichen Beschneidungsalter der Mädchen bzw. Frauen in ihrer Volksgruppe. Dem Bundesamt gegenüber äußerte die Klägerin, dass Mädchen als Neugeborene beschnitten würden. Eine Beschneidung könne aber auch bei Erwachsenen durchgeführt werden, wenn festgestellt würde, dass sie noch nicht beschnitten wurden. In der mündlichen Verhandlung erklärte sie dagegen, dass es von der Mutter abhänge, wann die Beschneidung stattfinde. Sie selbst habe nur von Freundinnen mitbekommen, dass es bei jungen Frauen kurz vor der Eheschließung oder im Übergang in das Erwachsenenalter geschehe. Wann der Übergang in das Erwachsenenalter bei jungen Frauen anzunehmen sei, könne sie aber nicht genau sagen.
Der Klägerin war es auch auf Nachfrage durch das Gericht nicht möglich, die bestehenden Widersprüche nachvollziehbar aufzulösen. Vielmehr lässt die spätere Äußerung der Klägerin, den Termin für die Beschneidung habe ihr Stiefvater gemeinsam mit einigen Dorfältesten festgelegt, noch mehr an der Glaubhaftigkeit des gesamten Beschneidungsvortrags zweifeln, da diese Aussage gänzlich unvereinbar mit der ursprünglichen Angabe ist, dass es von der Mutter abhänge, wann die Beschneidung stattfinde.
Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aber selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens der Klägerin bezüglich der befürchteten Genitalverstümmelung bereits deshalb nicht erfüllt, weil sie sich entsprechend den obigen Ausführungen auch insoweit auf den internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG verweisen lassen muss.
2.
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Subsidiären Schutz kann nur beanspruchen, wem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Absatz 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr.1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr.3). Die Art der Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG muss eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG).
Für das Gericht bestehen nach den Angaben der Klägerin und dem persönlichen Eindruck, den es von ihr in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, zwar keine Zweifel daran, dass sich die geschilderten Vergewaltigungen durch den Stiefvater so zugetragen haben, wie von der Klägerin geschildert. Allerdings muss sie sich entsprechend obiger Ausführungen auf die bestehende Möglichkeit und Zumutbarkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes (innerstaatliche Fluchtalternative) verweisen lassen, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG. Ergänzend wird auf die bisherigen Ausführungen und die zutreffende Begründung im Bescheid des Bundesamtes, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG), verwiesen.
3.
Der Klägerin steht letztlich auch kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu.
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Diese Vorschrift verweist auf die EMRK, soweit sich aus dieser zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse ergeben. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung unterworfen werden. Insbesondere genügt nach der Rechtsprechung des EGMR der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Art. 3 EMRK verpflichtet die Staaten nicht, Fortschritte in der Medizin sowie Unterschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht auszugleichen (EGMR, U.v. 27.5.2008 – Nr. 26565/05, N./Vereinigtes Königreich – NVwZ 2008, 1334 Rn. 44). Etwas anderes gilt nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen. Ein Ausnahmefall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, liegt beispielsweise dann vor, wenn die Versorgungslage im Herkunftsland völlig unzureichend ist (vgl. EGMR, a.a.O. Rn. 42; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952).
Zwar ist dem Gericht bekannt, dass das Leben der Menschen in Nigeria von problematischen wirtschaftlichen Verhältnissen, einer schwierigen Versorgungslage und hoher Arbeitslosigkeit geprägt ist. Etwa zwei Drittel der nigerianischen Bevölkerung lebt in extremer Armut (vgl. EASO Country of Origin Information Report; Nigeria Country Focus, Juni 2017, S. 16). Der größte Teil der Bevölkerung ist von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist ungleichmäßig zwischen einer kleinen Elite, die von dem Ölreichtum des Landes profitiert, und der Masse der Bevölkerung verteilt. Viele Menschen haben keinen oder nur erschwerten Zugang zu Wasser und Strom. Ein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Mittellose existiert ebenso wenig wie kostenlose medizinische Versorgung, die allen nigerianischen Staatsangehörigen zugänglich ist. Mittellose Personen sind regelmäßig auf die Unterstützung der Familie angewiesen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, S. 8, 21 f.). Gleichwohl liegt keine derart unzureichende Versorgungslage vor, die einen besonderen Ausnahmefall im genannten Sinne begründet, zumal die allgemeine Versorgungslage zwar deutlich hinter europäischen Standards zurückbleibt, sich insbesondere in den Großstädten aber tendenziell verbessert.
b) Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei ist unerheblich, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird, die Regelung stellt alleine auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab, unabhängig davon, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – BVerwGE 99, 324). Es gilt der Gefahrenmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit („real risk“).
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG setzt das Vorliegen einer zielstaatsbezogenen Gefahr voraus, die den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betrifft. Eine unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheidet allerdings dann aus, wenn die Gefahr eine Vielzahl von Personen im Herkunftsland in gleicher Weise betrifft, so z. B. allgemeine Gefahren im Zusammenhang mit Hungersnöten oder Naturkatastrophen, § 60 Absatz 7 Satz 5 AufenthG. Diese allgemeinen Gefahren sind stattdessen bei Aussetzungsanordnungen durch die obersten Landesbehörden nach § 60 Abs. 7 Satz 5 i.V.m. § 60a Absatz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Gleichwohl kann ein Ausländer nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Hinblick aus die im Herkunftsland herrschenden Existenzbedingungen trotz Fehlen einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz beanspruchen, wenn er im Falle der Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Extremgefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt wäre. Dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG dem betroffenen Ausländer im Wege verfassungskonformer Auslegung Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09, NVwZ 2011, 48 Rn. 14 f.). Wann sich allgemeine Gefahren zu einem Abschiebungsverbot verdichten, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Es muss sich aber jedenfalls um Gefahren handeln, die nach Art, Ausmaß und Intensität von erheblichem Gewicht sind. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – BVerwGE 115, 1 ff. m.w.N.; BayVGH. U.v. 17.2.2009 – 9 B 08.30225 – juris m.w.N.; für den Fall einer schlechten Lebensmittelversorgung, die den Betroffenen im Falle der Rückkehr nach seiner speziellen Lebenssituation in die konkrete Gefahr des Hungertods bringen würde: vgl. etwa BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 -; BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 -; BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 -; BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 -; BayVGH, U.v. 16.1.2014 – 13a B 13.30025 -, alle juris). Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen.
Im vorliegenden Fall ist nach Ansicht der Kammer allerdings nicht von einer derartigen extremen Gefahrenlage auszugehen.
Wie bereits dargestellt wurde, ist die Versorgungslage in Nigeria problematisch. Die allgemeine schlechte wirtschaftliche Lage in Nigeria kann aber kein generelles Abschiebungsverbot im Sinne § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, da es sich hierbei um eine allgemeine Gefahr handelt, die einen Großteil der nigerianischen Bevölkerung betrifft, mit der Folge, dass grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG eingreift. Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben kann auch für schutzbedürftige Personen nicht generell eine mit hoher Wahrscheinlichkeit bestehende Extremgefahr für Leib, Leben oder Freiheit angenommen werden.
Dies gilt auch in Bezug auf alleinstehende Frauen. Obwohl die nigerianische Verfassung die Gleichberechtigung von Frau und Mann garantiert, leiden viele Frauen in Nigeria unter geschlechtsspezifischer Diskriminierung. Insbesondere alleinstehende Frauen sind in besonderem Maße von dieser problematischen Lage in Nigeria und Diskriminierungen betroffen. Sie finden meist nur schwer eine Unterkunft und eine berufliche Tätigkeit in Nigeria, dies umso weniger, je geringer die Schul- bzw. Berufsausbildung ist. Mangels finanzieller oder sozialer Unterstützung durch den Staat sind häufig insbesondere junge Menschen und alleinstehende Frauen von der Unterstützung durch Familienangehörige oder Freunde abhängig.
Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich allerdings, dass es auch für den Personenkreis der alleinstehenden Frauen nicht gänzlich unmöglich bzw. ausgeschlossen ist, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen, so etwa in größeren Städten im Südwesten des Landes, in denen alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, S. 15). Mancherorts existieren auch Hilfseinrichtungen bei verschiedenen Kirchengemeinden oder Nichtregierungs-Organisationen, die verschiedene Hilfestellungen anbieten, deren Inanspruchnahme jedoch von dem persönlichen Wissen und Engagement der betroffenen Frau bzw. ihrer Zugehörigkeit zur jeweiligen Gemeinschaft abhängig ist. Ansonsten droht dieser Personengruppe nicht selten Prostitution und Menschenhandel. Dennoch ist davon auszugehen, dass auch in Nigeria die Möglichkeit, wirtschaftlich eigenständig alleine zu leben und auch mit oder ohne Hilfe Dritter zu überleben, gegeben ist. Allein in wenigen besonders gelagerten Einzelfällen kann sich deshalb die allgemeine Gefahr zu einem Abschiebungsverbot verdichten (vgl. dazu auch VG Augsburg, U.v. 3.9.2018 – Au 7 K 17.34983 -; VG Aachen, U.v. 3.7.2018 – 2 K 209/17.A -; U.v. 28.12.2017 – 2 K 2224/15.A -; VG München, U.v. 28.4.2014 – M 21 K 11.30680 -, jeweils juris).
Im Falle der Klägerin kann eine derartige Extremgefahr nicht prognostiziert werden.
Auch wenn die Klägerin nicht von einem Familienverband sozial aufgefangen wird und auch staatliche Unterstützungsleistungen nicht gewährt werden, ist das Gericht davon überzeugt, dass es der Klägerin möglich ist, ihre Lebensgrundlage durch eigene Erwerbstätigkeit in einer der bereits genannten Großstädte zu sichern. Die Klägerin hat zwar angegeben, keinen Beruf erlernt zu haben und nur wenig Bildung genossen zu haben. Allerdings ist nicht ersichtlich, dass sich die Klägerin in einer solch speziellen Lebenssituation befindet, dass sie im Falle einer Rückkehr nach Nigeria sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Dies gilt umso mehr, als dem Gericht Erkenntnisse über internationale Bemühungen vorliegen, in Nigeria Zentren für Rückkehrer und Migrationsberatungszentren weiter auszubauen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, S. 24). Es ist mangels Anhaltspunkten für eine gesundheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit davon auszugehen, dass die Klägerin als junge, gesunde Frau in Nigeria in einer Großstadt jedenfalls eine existenzsichernde Arbeit finden kann. Die Klägerin hat vor ihrer Ausreise aus Nigeria mit ihrer Mutter Obst auf dem Markt verkauft. Ihr ist es daher jedenfalls zumutbar und auch in Anbetracht ihres Bildungsstandes möglich, eine einfache Tätigkeit im landwirtschaftlichen Bereich aufzunehmen. Dass sich die Klägerin alleine auch in einer ihr unbekannten Umgebung behaupten kann, hat sie nicht zuletzt durch ihre alleinige Reise nach Europa bewiesen (vgl. VG München, U.v. 9.11.2018 – M 21 K 17.42545 – juris Rn. 30).
4.
Letztlich bestehen auch an der Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und der auf § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG beruhenden Abschiebungsandrohung nach Nigeria keine Bedenken. Dies gilt auch im Hinblick auf die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Ermessensfehler sind weder ersichtlich, noch vorgetragen.
5.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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