Verwaltungsrecht

Asylantrag in Deutschland nach Einstellung des Asylverfahrens in Ungarn

Aktenzeichen  M 30 S 17.44981

Datum:
24.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 43094
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 36 Abs. 4 S. 1, § 71a

 

Leitsatz

1. Voraussetzung für das Vorliegen eines Zweitantrags gemäß § 71a AsylG ist der erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, mit negativer rechtskräftiger Entscheidung in der Sache (Rn. 19). (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Einstellung des Asylverfahrens in dem Drittstaat ist nicht ausreichend in diesem Sinne, wenn das Erstverfahren bei Rückkehr noch wiedereröffnet werden kann (Rn. 19). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 23. Juni 2017 gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 13. Juni 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller, der keinerlei Legitimationspapiere vorlegt, ist seinen Angaben zufolge Staatsangehöriger von Sierra Leone. Am 24. Mai 2016 stellte er in Deutschland einen Asylantrag. In seiner Erstbefragung gab er an, sein Heimatland im April 2015 über Guinea, Mali, Elfenbeinküste und die Türkei verlassen zu haben und dann über die Balkanroute nach Deutschland gelangt zu sein. Auf einem weiteren Formular ließ er über den Sachbearbeiter festhalten, er sei am 15. Juni 2015 in Deutschland eingereist. In einem anderen Land habe er kein Asyl beantragt. Er habe die Grundschule besucht und sei Hilfsarbeiter. Geboren sei er im Jahr 1982.
Eine EURODAC-Abfrage ergab einen Treffer der Kategorie 1 in Bezug auf Ungarn sowie der Kategorie 2 in Bezug auf Griechenland und einen weiteren Treffer der Kategorie 2 in Bezug auf Ungarn.
Mit Vermerk vom 1. August 2016 stellte das Bundesamt fest, wegen Fristablaufs sei die Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens auf Deutschland übergegangen.
In der Anhörung nach § 27 AsylG am 19. August 2016 gab der Antragsteller im Wesentlichen an, in Sierra Leona eine Wähler-ID-Card und eine National-ID-Card sowie einen Reisepass gehabt zu haben. Er habe dies jedoch aufgrund der Probleme in seinem Land nicht mitnehmen können. Er denke, er sei im Juli 2015 in Deutschland eingereist. In Ungarn habe er keinen Asylantrag gestellt. Ein Großteil seiner Familie sei wegen Ebola verstorben.
Mit Schreiben vom 28. März 2017 teilten die ungarischen Asylbehörden dem Bundesamt mit, der Antragsteller habe am 30. Juni 2015 einen Asylantrag gestellt. Am 24. Juli 2015 sei der Antragsteller verschwunden. Daher sei sein Asylverfahren ohne inhaltliche Prüfung („without an in-merit-decision“) beendet („ceased“) worden. Es sei ihm kein internationaler Schutz oder eine Aufenthaltserlaubnis für Ungarn gewährt worden.
Unter dem 12. Juni 2017 erstellte das Bundesamt einen Vermerk, wonach das Verfahren in Ungarn erfolglos im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG abgeschlossen sei, da die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung geforderte Frist von neun Monaten nach der Einstellung verstrichen und das Wiederaufgreifen des Verfahrens im Mitgliedstaat nicht mehr möglich sei. Demzufolge liege ein Zweitantrag vor.
Dementsprechend lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 13. Juni 2017 den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Nr. 2). Dem Antragsteller wurde die Abschiebung nach Sierra Leone angedroht, falls er nicht innerhalb einer Woche die Bundesrepublik Deutschland verlasse (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass es sich bei dem in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrag um einen Zweitantrag i.S.v. § 71a AsylG handle, nachdem der Antragsteller bereits in einem sicheren Drittstaat gemäß § 26a AsylG erfolglos ein Asylverfahren betrieben habe. Erfolglos abgeschlossen sei ein Asylverfahren, wenn nach einer negativen Entscheidung über den Asylantrag, einer Rücknahme oder einer sonstigen Erledigung weder der Flüchtlingsstatus noch subsidiärer Schutz gewährt worden sei. Ein weiteres Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland sei demnach nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) mit dem Vorliegen von Wiederaufgreifensgründen vorlägen. Dies wurde in den Bescheidsgründen verneint. An den Gründen für den Asylantrag habe sich gegenüber dem Vorbringen im ungarischen Asylverfahren den eigenen Angaben des Antragstellers nach nichts geändert. Der Asylantrag sei daher gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG unzulässig. Im Übrigen wird auf den Inhalt des Bescheides verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylG.
Der Bescheid wurde dem Antragsteller am 16. Juni 2017 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 23. Juni 2017, am selben Tag beim Verwaltungsgericht München eingegangen, lies der Antragsteller über seinen Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid vom 13. Juni 2017 erheben mit dem Begehren, diesen aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dass Asylanerkennungsverfahren des Antragstellers fortzusetzen und den Antrag inhaltlich zu verbescheiden, hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt.
Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Der Antragsteller könne sich nicht erinnern, in Ungarn einen Asylantrag gestellt zu haben. Er habe allerdings ein ihn vorgehaltenes Schriftstück, wohl in ungarischer Sprache, einfach unterschrieben. Er hätte seitens der ungarischen Behörden keinerlei Aufklärung erhalten.
Mit Schriftsatz vom 1. März 2019 trug die weitere Bevollmächtigte des Antragstellers in rechtlicher Hinsicht umfangreich vor und vertrat insbesondere die Auffassung, ein Zweitantrag nach § 71a AsylG liege hier nicht vor, weil das Asylverfahren des Antragstellers in Ungarn nicht erfolglos abgeschlossen sei. Auf die Begründung im Einzelnen wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Gerichtsakte und die elektronisch übermittelte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage gegen die kraft Gesetzes (§§ 75, 71a Abs. 4 i.V.m. §§ 34, 36 AsylG) sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des ablehnenden Asylbescheids der Antragsgegnerin anzuordnen, ist zulässig, insbesondere statthaft und fristgerecht.
Der Antrag ist auch begründet.
An der Rechtmäßigkeit des Bescheids der Antragsgegnerin vom 13. Juni 2017 bestehen ernstliche Zweifel i.S.v. § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG, da erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (vgl. BVerfG, U. v. 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn 99 zur Ablehnung als offensichtlich unbegründet).
Ernstliche Zweifel bestehen vorliegend insofern, als die Antragsgegnerin den Asylantrag des Antragstellers als unzulässigen Zweitantrag i.S.v. § 71a Abs. 1 AsylG i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG eingestuft hat. Voraussetzung für das Vorliegen eines Zweitantrags gemäß § 71a AsylG jedoch der erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat (vgl. BayVGH, U. v. 3. Dezember 2015 – 13a B 15.50069 u.a. – juris Rn 24 ff.; BVerwG, U. v. 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 – juris Rn 27 ff; VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn 36). Erfolglos abgeschlossen ist ein Asylverfahren in diesem Sinne erst mit der rechtskräftigen negativen Entscheidung – in der Sache -, nicht aber bereits bei Abschluss eines Asylverfahrens durch Einstellung oder Rücknahmefiktion für den Fall der Ausreise oder bei Nichtbetreibens des Verfahrens durch den Antragsteller. So ist eine Einstellung des Asylverfahrens nicht ausreichend, wenn das (Erst-)Verfahren noch wiedereröffnet werden kann. Ob eine solche Wiedereröffnung bzw. Wiederaufnahme möglich ist, ist nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (BVerwG, aaO, Rn 29). Zum ungarischen Asylrecht hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof festgestellt, dass ein Asylantragsteller bei Rückkehr nach Ungarn ein eingeleitetes Asylverfahren ohne zeitliche und ohne inhaltliche Beschränkung seines Vortrags wie ein Erstverfahren fortführen bzw. wiederaufnehmen kann (BayVGH, a.a.O. / Rn 25; vgl. auch BVerwG, a.a.O. / Rn 38).
Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässigen Zweitantrag ist somit ernstlich zweifelhaft und die aufschiebende Wirkung der Klage trotz §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG anzuordnen.
Dem Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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