Verwaltungsrecht

Asylbegehren einer russischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 29 K 16.34927

Datum:
16.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 53344
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4,  § 77 Abs. 2
VwGO § 67 Abs. 4 S. 4, S.7, § 102 Abs. 2, § 113 Abs. 1, Abs.5
EMRK Art. 3
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs.7 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 16. September 2019 konnte der Rechtsstreit verhandelt werden, da in der Ladung zur mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen worden war, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beteiligten sind ausweislich der aus der Niederschrift ersichtlichen Feststellungen in der mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladen worden.
2. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 16. September 2019 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) und den zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschiften nach dem Asylgesetz keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung ist ebenso wenig zu beanstanden wie die Dauer der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG.
Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und sieht diesbezüglich von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Es ergänzt lediglich wie folgt:
“a. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.“
Gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Gemäß § 3a AsylG gelten dabei Handlungen als Verfolgung, die gemäß Nr. 1 auf Grund ihrer Art oder Wiederholungsgefahr so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) keine Abweichungen zulässig sind, oder die gemäß Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Nach dem Vortrag der Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt nach § 25 AsylG ist keiner der Anknüpfungstatbestände des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erkennbar. Die Klägerin schildert vielmehr, dass ihr selbst in ihrem Heimatland nichts zugestoßen sei.
b. Im Übrigen – und die Entscheidung selbständig tragend – muss sich die Klägerin auf die Möglichkeit verweisen lassen, sich gegebenenfalls an einem anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens niederzulassen.
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Eine zumutbare inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass die voraussichtlichen Lebensbedingungen dort nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen. In wirtschaftlicher Hinsicht scheidet die Zumutbarkeit grundsätzlich nur und erst dann aus, wenn das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum auf einfachem Niveau nicht mehr erreichbar ist, d.h. wenn die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen am Ort der inländischen Fluchtalternative weder durch eine ihm zumutbare Beschäftigung noch auf sonstige Weise gewährleistet ist (BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 u.a. – juris Rn. 114 ff.).
Gemessen an diesen Voraussetzungen ist davon auszugehen, dass es der Klägerin – wie zahlreichen anderen tschetschenischen Volkszugehörigen auch – trotz etwaiger Anfangsschwierigkeiten möglich und zumutbar wäre, außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation Zuflucht zu suchen und dort den Lebensunterhalt zu sichern (so ausführlich BayVGH, U.v. 16.7.2019 – 11 B 18.32129 – juris Rn. 45 ff.).
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 13. Februar 2019 (Stand: Dezember 2018) können Personen aus dem Nordkaukasus grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Tschetschenen stehe wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zur Verfügung. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten sei stark angewachsen. Allein in Moskau sollen ca. 200.000 Tschetschenen leben. Sie träfen allerdings immer noch auf antikaukasische Stimmungen (so auch EASO-Informationsbericht‚ Die Situation der Tschetschenen in Russland‘ vom August 2018 und das Länderinformationsblatt‚ Russische Föderation‘ des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (Gesamtaktualisierung 31.8.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 28.2.2019)).
In Tschetschenien gesuchte Personen sind zwar auch außerhalb der Teilrepublik nicht vor Nachstellungen durch die Sicherheitskräfte des Präsidenten und „Oberhaupts“ der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, sicher. Auch wenn die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter seiner unmittelbaren Kontrolle steht, können kriminelle Akte gegen explizite Regimegegner nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sollen etwa auch in Moskau präsent sein. Außerdem können die regionalen Strafverfolgungsbehörden Menschen auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Derartige Maßnahmen setzen allerdings voraus, dass die Betreffenden ins Visier der tschetschenischen Machthaber geraten sind (vgl. EASO-Informationsbericht ‚Die Situation der Tschetschenen in Russland‘, S. 49 ff.; Länderinformationsblatt ‚Russische Föderation‘ des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, S. 81 ff.).
Hiervon ausgehend ist es der Klägerin zuzumuten, sich gegebenenfalls an einem anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens niederzulassen, vor allem da die Klägerin nicht darlegen konnte, besonders verfolgt zu sein, sondern vielmehr angegeben hat, weder bedroht worden zu sein noch sonstige Probleme in ihrem Heimatland gehabt zu haben.
Es sind daher keine Anhaltspunkte ersichtlich, warum die Klägerin außerhalb Tschetscheniens nicht unbescholten leben könnte. Die Klägerin stand auch nach ihrem Vorbringen zu keinem Zeitpunkt in Verdacht, selbst gegen die russische oder tschetschenische Regierung politisch aktiv gewesen zu sein. Sie hat auch sonst nichts berichtet, woraus sich ergeben würde, dass die tschetschenischen Machthaber Anlass hätten, ihrer habhaft zu werden. Weiter bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der von ihr geschilderte Vorfall im Falle einer Niederlassung an einem anderen Ort zehn Jahre nach der Ausreise wiederholen würde.
c. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes in Deutschland.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Auch insoweit gilt, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens sowohl von staatlichen wie auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU kommt dem Schutzsuchenden ebenfalls zugute.
Insoweit hat die Klägerin einen ernsthaften Schaden in diesem Sinne nicht dargelegt. Es wird aus den geschilderten Vorkommnissen nicht deutlich, warum die Klägerin eine Verfolgung oder einen Schaden befürchtet.
Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gilt insoweit das zu § 3e AsylG Gesagte entsprechend.
d. Schließlich sind auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG nicht erfüllt.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 9).
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine wesentliche Verschlechterung ist dabei nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustands anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen, kurz bei existentiellen Gesundheitsgefahren (vgl. OVG Münster, B.v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris Rn. 56).
Ein derartiger außergewöhnlich schwerer Schaden ist hier im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation für die Klägerin nicht ersichtlich und auch nicht dargetan. Die Klägerin hat bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt zwar angegeben, einen Überweisungsschein zu einem Psychologen erhalten zu haben. Ein entsprechendes ärztliches Attest hat sie aber nicht vorgelegt.
Im Übrigen ist, wie oben bereits ausgeführt, davon auszugehen, dass die Klägerin sich in ihrem Heimatland eine Existenzgrundlage schaffen kann.
e. Vor diesem Hintergrund ist auch die nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung nicht zu beanstanden. Die Ausreisefrist wurde mit 30 Tagen an der oberen Grenze des § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG angesetzt. Ebenfalls rechtmäßig ist das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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