Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Homosexualität, Schlechte sozioökonomische Lage, Abschiebungsverbot (bejaht)

Aktenzeichen  M 2 K 20.32623

Datum:
8.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2302
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3a, § 3b, § 3c, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. September 2020 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. 
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zwei Drittel und die Beklagte ein Drittel.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten waren. Denn in den ordnungsgemäßen Ladungen ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
I.
Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen, ihm die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Er hat allerdings einen Anspruch darauf, zu seinen Gunsten das Vorliegen der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
1. Ein Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz besteht nicht.
a) Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AslyG zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a) AsylG) und keiner der Ausschlussgründe der § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG vorliegt.
b) Weitere Einzelheiten regeln die §§ 3a – d AsylG in Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 20. Dezember 2011 (sog. Qualifikationsrichtlinie). Erforderlich ist demnach eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1, 2 AsylG, die an einen Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG anknüpft und von einem Akteur i.S.v. § 3c AsylG ausgeht. Weiter muss es an einem effektiven Schutz vor Verfolgung im Herkunftsstaat fehlen (§§ 3d, 3e AsylG). Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
c) Zur Beurteilung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen ist, muss das Gericht eine Verfolgungsprognose unter zusammenfassender Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts anstellen. Maßgeblich ist hierbei der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32). Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32; VGH BW, U.v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17 – juris Rn. 31 ff; BayVGH, U.v. 14.2.2017 – 21 B 16.31001 – juris Rn. 21).
Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden (vgl. OVG Bremen, U.v. 26.5.2020 – 1 LB 56/20 – juris Rn. 38; VGH BW, U.v. 24.1.2018 – A 11 S 1265/17 – juris Rn. 370).
d) Gemessen an den vorstehend geschilderten Anforderungen rechtfertigen die vom Kläger im Verwaltungsverfahren vorgetragenen Gründe, die er im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 7. Februar 2022 ergänzt hat, nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist und es droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt. Denn das Gericht ist nicht davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist; es kann daher offenbleiben, ob im Falle der Rückkehr nach Afghanistan Menschen mit homosexueller Orientierung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund einer gruppenspezifische Verfolgung ausgesetzt sind.
Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört und zu seiner sexuellen Orientierung befragt; dabei hat es dem Kläger gegenüber betont, dass eine möglichst offene Schilderung seiner Erlebnisse, aber auch seiner Gefühle und Gedanken zum Thema Homosexualität für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit seines Vortags von ausschlaggebender Bedeutung sind.
Das Gericht ist von der Homosexualität des Klägers nicht überzeugt. Der Kläger hat trotz zahlreicher Fragen nur äußerst knapp die Selbstwahrnehmung seiner sexuellen Orientierung geschildert. Er habe im Alter von 17 Jahren gemerkt, dass er sich nicht für Frauen, sondern nur für Männer interessiere; bereits einen Monat später habe er mit dem ihm aus Kindheit und Jugend gut bekannten Nachbarn ein Verhältnis begonnen. Die Annahme, dass ein Mensch, der wie der Kläger in einer ausgeprägt heteronormativen Gesellschaftsordnung aufgewachsen ist und dort lebt(e), unmittelbar nach der Entdeckung seiner sexuellen Orientierung diese auch auslebt, erscheint wenig überzeugend. Zu erwarten wäre zumindest ein Mindestmaß an innerer Auseinandersetzung um die eigene Einordung in die Gesellschaft und das Erleben von (inneren) Konflikten sowie ein Zögern bei der Offenbarung der eigenen Homosexualität gegenüber Dritten. Jedoch gab der Kläger sich nicht ansatzweise Mühe, über seine Innenwelt zu berichten. Eine auch nur oberflächliche innere Auseinandersetzung mit seiner – auf Basis der strikten Ansichten der afghanischen Mehrheitsgesellschaft – als unislamisch angesehenen sexuellen Orientierung wurde nicht erkennbar; mehr als den Umstand, dass er sich nun einmal für Männer interessiere, konnte der Kläger nicht kommunizieren.
Das Gericht ist sich dabei bewusst, dass dem Kläger gerade vor seinem sozialen Erfahrungshintergrund als Mitglied einer eher traditionellen Gesellschaft die offene verbale Kommunikation über das Thema der sexuellen Orientierung schwerfallen kann und daher die Erwartungen an eine Darlegung sehr persönlicher „innere“ Werte, Vorstellungen und Orientierungen nicht überspannt werden dürfen. Der Kläger wirkte allerdings nicht gehemmt, verlegen oder beschämt, sich zu solchen Themen äußern zu sollen. Er wirkte offen, rang nicht um Antworten. Das, was er erzählte, erzählte er frei und bereitwillig, gerade der Umstand, Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, betonte er wiederholt. Damit kann der Kläger dem Gericht jedoch gerade nicht den Eindruck von Authentizität vermitteln. Die – schon im Bescheid des Bundesamtes thematisierte – starke Fokussierung des Klägers auf die aktiv-sexuelle Komponente seiner homosexuellen Orientierung erweckt den Eindruck, der Kläger wolle mit der Betonung des – aus Sicht der afghanischen Mehrheitsgesellschaft – besonders Anstößigen des Verhaltens unter Männern, die Wahrscheinlichkeit für eine Flüchtlingszuerkennung erhöhen.
Auch die Bemühungen des Gerichts, zu dieser ersten kurzen Beziehung zum Nachbarn mehr zu erfahren, über sie einen Eindruck über das Innenleben des Klägers zu erhalten, waren nicht erfolgreich. Es blieb sehr unscharf, wie der Kläger von der Homosexualität seines Nachbarn erfahren und wie sich der hierfür notwendige Vertrauensbildungsprozess entwickelt haben soll.
Die Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags leidet auch, wenn der Kläger während der mündlichen Verhandlung überraschend mitteilt, dass er seinen Nachbar für sexuelle Handlungen bezahlt habe. Selbst wenn man den sexuellen Kontakt als wahr unterstellt, lässt sich hieraus keine homosexuelle Orientierung ableiten, sondern erweckt der Kläger eher den Eindruck juveniler Experimentierfreude. Hinzukommt, dass der Kläger den Umstand der Entlohnung beim Bundesamt nicht berichtet hat und insoweit der klägerische Vortrag nicht konsistent, sondern taktisch motiviert erscheint.
Der Kläger hat auch die Frage des Gerichts, ob er in Deutschland gezielt – etwa über einschlägige Plattformen im Internet – Kontakt zu homosexuellen Menschen suche, mit der Begründung verneint, er habe nicht gewusst, dass es solche Optionen gäbe; er kenne sich mit dem Internet nicht so aus. Das ist nicht glaubwürdig, zumal er gleichzeitig – vom Gericht erneut nach homosexuellen Kontakten in Deutschland befragt – berichtete, Geschlechtsverkehr mit einer „Transfrau“ gehabt zu haben, die er über eine Google-Suche zufällig gefunden habe. Auch mit diesen sehr beiläufigen Berichten kann der Kläger das Gericht von einer homosexuellen Orientierung nicht überzeugen.
Vor diesem Hintergrund scheidet ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus.
2. Die Voraussetzungen für eine Zuerkennung des subsidiären Schutzes liegen nicht vor.
a) Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Es darf auch keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen. Voraussetzung ist nach § 4 Abs. 3 AsylG zudem, dass der Schaden von einem Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 und § 3c AsylG auszugehen droht. Hinsichtlich Wahrscheinlichkeitsmaßstab und Beweiserleichterung im Falle einer Vorverfolgung gelten die Ausführungen zu § 3 AsylG entsprechend (vgl. Nds.OVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136.19 – juris Rn. 53).
b) Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus erfüllt der Kläger nicht.
aa) Er hat keinen Sachverhalt vorgetragen, wonach ihm im Heimatland die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) droht.
bb) Ebenso fehlen konkrete Anhaltspunkte für das Drohen eines ernsthaften Schadens nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Die Formulierung „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wird weder im Asylgesetz noch in der dadurch umgesetzten RL 2011/95/EU definiert. Bei der Auslegung der Norm, die die Vorgaben des – an Art. 3 EMRK orientierten – Art. 15 Buchst. b der RL 2011/95/EU in das nationale Recht umsetzt, ist die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 59 f.; OVG NW, U.v. 28.8.2019 – 9 A 4590/18.A – juris Rn. 137 ff.). Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die vorsätzliche Zufügung entweder körperlicher Verletzungen oder intensiven physischen oder psychischen Leids zu verstehen. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie geeignet ist, das Opfer zu demütigen, zu erniedrigen oder zu entwürdigen (vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen OVG NW, U.v. 28.8.2019 – 9 A 4590/18.A – juris Rn. 142).
(a) Im Fall des Klägers ist nicht ersichtlich, dass und weshalb ihm bei Rückkehr gerade Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Da der Kläger nicht homosexuell ist, droht ihm insoweit auch keine entsprechende Behandlung.
(b) Auch die schlechte humanitäre Lage in Afghanistan rechtfertigt nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Denn diese ist nicht auf einen Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG zurückzuführen (vgl. BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 21; VGH BW U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 54).
(c) Dem Kläger droht auch wegen der derzeitigen allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.
Eine solche Gefahr kann sich grundsätzlich auch aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem. Allerdings begründet nicht schon jede allgemeine Situation der Gewalt eine solche Gefahr. Ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist nur in äußerst extremen Fällen anzunehmen; es setzt voraus, dass die Situation allgemeiner Gewalt so intensiv ist, dass die betreffende Person dieser Gewalt bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich ausgesetzt ist. Erforderlich ist danach eine Gefahrverdichtung, die zu einer individuellen Betroffenheit des Ausländers führt (vgl. OVG NW, U.v. 28.8.2019 – 9 A 4590/18.A – juris Rn. 146 ff.). Dabei ist § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dahingehend auszulegen, dass er nur solche Situationen erfasst, in denen der den subsidiären Schutz Beantragende spezifisch der Gefahr ausgesetzt ist, einen Schaden ganz bestimmter Art zu erleiden. Demgegenüber umfasst der in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG definierte Schaden infolge willkürlicher Gewalt eine Schadensgefahr allgemeinerer Art (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – C-465/07 – juris Rn. 32 f.; NdsOVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 74).
Eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erforderliche spezifische Gefahr ist für den Kläger indes nicht erkennbar.
cc) Ferner ist der Kläger auch nicht subsidiär schutzberechtigt i.S.v. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Es fehlt schon am Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (vgl. VG München, U. v. 12.11.2021 – M 2 K 21.30954 – juris Rn. 27). Außerdem wäre der Kläger nach Überzeugung des Gerichts keiner ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt (§ 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG). Denn eine ernsthafte individuelle Bedrohung ist nicht schon dann anzunehmen, wenn der (etwaige) innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Notwendig ist, dass sich eine von einem (etwaigen) bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell verdichtet (vgl. Nds.OVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 80). Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. zum örtlichen Bezugspunkt der Gefahrenprognose BVerwG, B.v. 14.11.2012 – 10 B 22/12 – juris).
Die hiernach notwendige Individualisierung kann sich für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen, nach denen er spezifisch betroffen wäre, ergeben (vgl. OVG NW, U.v. 28.8.2019 – 9 A 4590/18.A – Rn. 133). Insoweit würde ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt genügen (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4/09 – juris Rn. 33; VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 – 15 A 748/19 – juris Rn. 46). Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Kläger als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist (vgl. Nds.OVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 80; OVG NW, U.v. 28.8.2019 – 9 A 4590/18.A – juris Rn. 133).
Hiervon kann gerade wegen der nur behaupteten, aber nicht zur Überzeugung des Gerichts vorliegenden Homosexualität nicht ausgegangen werden.
Fehlen – wie hier – derartige individuelle gefahrerhöhende Umstände, so kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr nur bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. Nds.OVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 80).
Für die Feststellung der hiernach erforderlichen Gefahrendichte können die Kriterien, die im Bereich des Flüchtlingsrechts für den Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung gelten, entsprechend herangezogen werden. Zur Ermittlung einer für die Annahme einer erheblichen Gefahr ausreichenden Gefahrendichte ist neben einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung der Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt sowie der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Relation zur Gesamteinwohnerzahl auch eine wertende Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen – Todesfälle und Verletzungen – bei der Zivilbevölkerung erforderlich; daneben ist abschließend entscheidend eine umfassende Beurteilung auf Grundlage aller Umstände des Einzelfalls. Zu beachten ist im Rahmen der quantitativen Betrachtung, dass – wenn die Betrachtung von Anzahlen festgestellter Opfer bezogen auf die Gesamtbevölkerung in einer bestimmten Region eine bestimmte Schwelle erreicht – dies zwar als für die Feststellung einer entsprechenden Bedrohung relevant angesehen werden kann, eine solche Feststellung jedoch nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium für die Feststellung einer „ernsthaften individuellen Bedrohung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der RL 2011/95 bzw. im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG sein kann (vgl. EuGH, U.v. 10.6.2021 – C 901/19 – juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454 Rn. 22 f.) ist die Annahme einer individuellen Gefährdung auch bei einer Gefahrendichte von 1:800 noch fernliegend (vgl. zusammenfassend BayVGH, B.v. 16.10.2019 – 5 ZB 19.33656 – juris Rn. 7).
Das Gericht geht aufgrund der aktuellen Lage davon aus, dass der Kläger derzeit aufgrund dieses Konflikts in der Provinz Kabul als Zivilperson keiner ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge „willkürlicher Gewalt“ mit der erforderlichen hinreichenden Gefahrendichte unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls ausgesetzt ist. Kampfhandlungen zwischen den Streitkräften der ehemaligen Regierung der Islamischen Republik Afghanistan und den Taliban, die die nunmehrige Regierung des Islamischen Emirats Afghanistan bilden, finden nicht bzw. kaum mehr statt. Mit zunehmender Machtkonsolidierung der Taliban und abnehmenden Kampfhandlungen hat die Zahl ziviler Opfer in Afghanistan nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) seit Anfang August 2021 deutlich abgenommen.
3. Der Kläger hat allerdings einen Anspruch darauf, zu seinen Gunsten das Vorliegen der Voraussetzungen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Aufgrund der gegenwärtigen Lage in Afghanistan ist im vorliegenden Fall anzunehmen, dass der Kläger dort sein Existenzminimum nicht erzielen können wird. Die (hohen) Anforderungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK sind damit erfüllt.
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 11.11.1997 – 9 C 13.96 – BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die Konvention lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse).
In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts ist Art. 3 EMRK nicht nur auf eine von staatlichen Behörden ausgehende Gefahr, sondern auch dann anwendbar, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen herrührt, die keine staatlichen Organe sind, jedenfalls dann, wenn die Behörden des Empfangsstaates nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch die Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (NdsOVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136.19 – juris Rn. 66, 105).
Für die Beurteilung, ob eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht kommt, ist auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob entsprechende Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136.19 – juris Rn. 118; OVG NW, U.v. 28.8.2019 – 9 A 4590/18.A – juris Rn. 175).
b) Schlechte sozio-ökonomische und humanitäre Verhältnisse im Bestimmungsland können dabei nur in ganz außergewöhnlichen Fällen Art. 3 EMRK verletzten; dies ist dann der Fall, wenn die gegen die Abschiebung sprechenden humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – Rn. 21, 32; VGH BW, U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18 – juris Rn. 28).
Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Es kommt dabei darauf an, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Von einem „ganz außergewöhnlicher Fall“ ist nur dann auszugehen, wenn von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist (vgl. BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10).
Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist dabei der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22).
c) aa) Gemessen daran ist vorliegend unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall im oben genannten Sinn zu bejahen. Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Grund für diese Einschätzung bilden die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die der Machtübernahme der Taliban sowie die in Afghanistan herrschende schlimmste Dürre seit etwa drei Jahrzehnten (vgl. z.B. Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan v. 22.10.2021 (Lagebericht); BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, 10.1.2022, 17.1.2022, 24.1.2022; EASO, Afghanistan country focus, country of origin information report, Januar 2022; UNHCR, Positions on return to Afghanistan, August 2021; Afghanistan Analysts Network, Report v. 6.9.2021 – https://www…org/en/reports/economy-development-environment/afghanistans-looming-economic-catastrophe-what-next-for-the-taleban-and-the-donors/).
bb) Die ohnehin seit langen bestehende schlechte wirtschaftliche Situation in Afghanistan hat sich zunächst aufgrund der Corona-Pandemie erheblich verschärft und sich sodann mit der Machtübernahme durch die Taliban weiter verschlimmert. Mit dem Ende der Islamischen Republik Afghanistan und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan haben sich die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan in kürzester Zeit grundlegend geändert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021) und ist in besorgniserregendem Maß schlecht (Lagebericht, S. 4 f., 11, 14; vgl. https://www…com/news/2021/12/19/oic-nations-pledge-fund-to-prevent-afghanistan-economic-collapse).
(1) Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) befürchtet mittlerweile einen völligen Zusammenbruch des afghanischen Finanzsystems (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 22.11.2021, S. 2). Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und wurde von den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie schwer getroffen. In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen, die im Verlauf des letzten Jahres weiter angestiegen sein dürfte (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 16.7.2020 i.d.F.v. 14.1.2021, S. 22). Es wird befürchtet, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in naher Zukunft um ca. 30% einbrechen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25.10.2021, S. 2) und die steigenden Preise für importierte Grundnahrungsmittel (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175178; https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021) sowie der Verfall der Landeswährung die Wirtschaftskrise verstärken werden (BAMF, Briefing Notes v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021 – https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021). Der Wert der Landeswährung Afghani ist gegenüber dem US-Dollar weiter stark gefallen und gleichzeitig sind die Lebensmittelpreise gestiegen (vgl. https://www…com/economy/2021/12/17/afghanistans-tumbling-currency-adds-to-severe-economic-woes). Laut OCHA benötigen 24,4 Millionen Menschen in Afghanistan humanitäre Hilfe und es besteht die schlimmste Dürre seit 27 Jahren.
(2) Insbesondere existiert in Afghanistan eine um 35% dramatisch verschlechterte Ernährungsunsicherheit (Afghanistan humanitarian response plan 2022, abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-humanitarian-response-plan-2022-january-2022). Für den Winter sind 50% der afghanischen Bevölkerung von akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedroht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3; WFP Afghanistan, Situation Report v. 3.11.2021, S. 1), drei Millionen Menschen hungern bereits akut und 23 Millionen Menschen stehen kurz davor (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 15.11.2021, S. 2; 22.11.2021, S. 2). WFP meldete, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung, 22,8 Mio. Menschen, unter akutem Hunger litten, während Minustemperaturen eingesetzt hätten (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.21, S. 2). Bestand das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 22.11.2021, S. 2). Aussagen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) zufolge habe die Hungersnot damit ein noch nie da gewesenes Niveau erreicht. Mit jeder humanitären Hilfeleistung kämen neue Personen hinzu, die humanitärer Hilfe bedürften. Die Situation in Afghanistan sei ein Wettlauf gegen die Zeit (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175737). Die International Crisis Group (IGC) warnte, dass im Zuge der aktuellen humanitären Katastrophe mehr Zivilisten an Hunger sterben könnten als in den letzten 20 Jahren des Krieges (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 13.12.21, S. 2). Die Preise für Lebensmittel, Benzin und Holz haben sich seit Mitte August verdoppelt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 4.10.2021 und 18.10.2021) und steigen infolge des weiteren Währungsverfalls (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175089; BAMF, Briefing Notes v. 20.12.2021 u. 22.11.2021) sowie mit dem Winter (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175240; BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3) stetig an, während das Einkommen der „einfachen Arbeiterhaushalte“ schon coronabedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten um rund 19% gesunken war (vgl. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 92, 11.3.2021, S. 3). Schwer getroffen wurden insbesondere der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte und die Armutsquote dort nunmehr 45,5% beträgt (vgl. World Bank Group, Afghanistan Development Update April 2021, S. 9). Gelder aus dem Westen – von welchen die afghanische Regierung zu 75% finanziert wurde (vgl. https://www…org/asia/south-asia/afghanistan/taliban-rule-begins-afghanistan) – wurden größtenteils eingestellt (vgl. https://www…de/wirtschaft-politik/die-wirtschaft-der-taliban-woher-kommt-das-viele-geld) bzw. ausländische Reserven in Höhe von 9 Mrd. US-$ von den USA eingefroren (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.9.21).
Laut eines aktuellen Aufrufs der UN besteht im Jahr 2022 ein Bedarf an humanitären Hilfen in Höhe von nahezu 5 Mrd. US-$ (vgl. https://www…com/news/2022/1/11/un-wants-5-bn-aid-for-afghanistan-in-2022). Afghanische Wirtschaftsanalysten glauben zudem, dass die internationalen Hilfen die wirtschaftliche Krise nicht verhindern können, solange die westlichen Gelder eingefroren bleiben (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175366). Selbst wenn alle Hilfsgelder ankommen würden – bislang hätten Berichten der UN zufolge 60 Mio. US-$ ihr Ziel erreicht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 28.11.21, S. 3; https://tolonews.com/afghanistan-175656) – würde die Summe von 8,5 Mrd. US-$ nicht erreicht, die Afghanistan zuvor aus dem Ausland erhalten hat (vgl. Afghanistan Analysts Network, Report v. 11.11.2021, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund vermögen auch z.B. die 36 Tonnen an Hilfslieferungen aus Russland (u.a. Weizen, Zucker und Tee) sowie die einmalige Ausgabe von etwa 265 US-$ an Hilfsgeldern für 1.000 bedürftige Familien in Kabul (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 6.12.2021, S. 2) die katastrophale humanitäre Lage nicht nennenswert verbessern. Zudem ist äußerst zweifelhaft, ob internationale Hilfsorganisationen und NGOs, deren Mitarbeiter in der Vergangenheit bevorzugt Ziel von Gewalt gerade der Taliban waren, auf absehbare Zeit in der humanitären Krise tatsächlich Unterstützung leisten können (vgl. VG München, U.v. 12.1.2022 – M 24 K 21.30474 – UA Rn. 30 m.w.N.).
(3) Schließlich haben seit der Machtübernahme der Taliban rund eine halbe Millionen Menschen ihre Arbeit verloren (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 24.1.2022, S.2). Das von der Taliban-Regierung am 24. Oktober 2021 angekündigte Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose, die mit Weizen entlohnt werden sollen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25. Oktober 2021, S. 1), ist lediglich für 40.000 Männer gedacht und wird den extrem angespannten Arbeitsmarkt (vgl. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 101 v. 15.7.2021, S. 2; Lagebericht, S. 4 ff.) nicht nennenswert entlasten können.
cc) Außerdem bestehen auch im Fall der freiwilligen Ausreise keine Möglichkeit mehr, die bislang verfügbaren nicht unerheblichen Rückkehr- und Starthilfen im Rahmen des REAG/GARP- und des ERRIN-Programms sowie weitere Unterstützungsleistungen für Rückkehrer in Anspruch zu nehmen. Seit dem 17. August 2021 ist die geförderte freiwillige Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf Weiteres ausgesetzt. (Quelle: https://www…de/de/countries/afghanistan).
d) Diese schlechten Bedingungen herrschen landesweit, so dass für den Kläger keine interne Fluchtalternative besteht.
e) Eine andere, optimistischere Beurteilung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die individuellen Umstände des Klägers. Ungeachtet der Frage, ob der behauptete Kontaktabbruch zu seiner Familie stimmt, ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass im Hinblick auf die geschilderte wirtschaftliche Lage in Afghanistan die Familie in der Lage wäre, den Kläger bei sich aufzunehmen und seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Von einem erwachsenen Mann wird in Afghanistan vielmehr erwartet, dass er maßgeblich zur Versorgung der Familie beiträgt und nicht auf deren Kosten lebt (vgl. VG München, U.v. 20.9.2021 – M 16 K 17.41335 – UA Rn. 46). Hinzutritt, dass der Kläger ausweislich der vorgelegten Atteste nicht gesund ist und damit seine Durchsetzungsfähigkeit jedenfalls geschmälert ist, ohne dass es darauf ankommt, ob die gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Rahmen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen wären.
Insgesamt ist daher nicht davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum in Afghanistan erwirtschaften kann.
II.
Im Hinblick auf den einheitlichen Streitgegenstand des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedurfte es – trotz der vorgelegten Atteste – keiner Entscheidung mehr über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
III.
Soweit die Abschiebung nach Afghanistan angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verfügt wurde, ist der Bescheid ebenfalls aufzuheben. Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Afghanistan als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, was nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG der Bezeichnung des Staates Afghanistan in der Abschiebungsandrohung entgegensteht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
IV.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und trägt dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten Rechnung. (vgl. zur Quotelung der Anträge vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 83b AsylG Rn. 9 f.). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).


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