Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland Irak, nachgeborenes Kind kurdischer Eltern yezidischer Glaubenszugehörigkeit, Eltern aus der Provinz, Ninive, Distrikt Tel Kef, Fristversäumnis bei Einreichung der Klage bei anderem Gericht wegen versehentlich fehlerhafter Telefaxnummer, Keine Wiedereinsetzung in den vorigen bei fehlenden Ausführungen hinsichtlich des Wegfalls des Hindernisses, Asylverfahren der Eltern noch nicht bestandskräftig abgeschlossen, Keine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive

Aktenzeichen  M 4 K 20.31327

Datum:
13.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40281
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 84
AsylG § 74 Abs. 1
VwGO § 60
AsylG § 3
GG Art. 16a
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7
AsylG §§ 34, 38
§ 11 Abs. 1 AufenthG.

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört (§ 84 Abs. 1 VwGO).
I. Die Klage ist abzuweisen. Sie ist sowohl unzulässig als auch unbegründet.
1. Die Klage ist unzulässig. Sie wurde nicht innerhalb der gesetzlichen Klagefrist des § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG erhoben, und dem Kläger ist keine Wiedereinsetzung in die gesetzliche Klagefrist gemäß § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren.
Mit der Zustellung des Bescheids an die Eltern des Klägers am 7. April 2020 wurde die zweiwöchige Klagefrist in Lauf gesetzt, §§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 1 ZPO, 187 Abs. 1 BGB, die folglich am 21. April 2020 endete, §§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB.
1.1. Die Telefax-Übermittlung des an das Verwaltungsgericht gerichteten Klageschriftsatzes vom 20. April 2020 an das Amtsgericht München am 21. April 2020 hat die Klagefrist nicht gewahrt. Eine – wie vorliegend – an das zuständige Gericht adressierte, jedoch bei einem unzuständigen Gericht eingereichte Klage wahrt die Frist nicht.
Es ist nicht Sinn der Verweisungsvorschrift des § 83 VwGO i.V.m. §§ 17-17 b GVG, Unachtsamkeiten des Klägers auszugleichen. Die wirksame, Frist wahrende Klageerhebung setzt mithin voraus, dass die Klage auch bei dem Gericht erhoben wird, an das sie adressiert ist, weil der Kläger dieses für zuständig erachtet. Letztlich ergibt sich dies aus der Überlegung, dass ein Gericht nicht die Funktion hat, lediglich als Zustellungsempfänger für das selbst vom Kläger nicht für zuständig erachtete Gericht und damit letztlich als dessen Bote zu fungieren; insbesondere ist es nicht Aufgabe von Gerichten, Unachtsamkeiten des Klägers zu bereinigen. Für diese Sicht der Dinge ist von Bedeutung, dass die Einreichung eines fristgebundenen Schriftstücks bei Gericht eine einseitige Prozesshandlung der jeweiligen Partei darstellt, die keiner Mitwirkung eines Bediensteten des betreffenden Gerichts, etwa in Form einer Inempfangnahme, bedarf. Für die Fristwahrung in diesen Konstellationen kommt es mithin darauf an, dass die Klage beim zuständigen Gericht noch innerhalb der Klagefrist eingeht (NK-VwGO/Michael Brenner, 5. Aufl. 2018, VwGO § 74 Rn. 33), was vorliegend nicht der Fall ist.
Die Frist wäre im Übrigen auch dann nicht gewahrt worden, wenn das unzuständige Gericht das Schreiben im normalen Geschäftsgang an das zuständige Verwaltungsgericht weitergeleitet hätte, weil die Klage am Tag des Fristablaufs nach Ende der Geschäftszeiten beim Amtsgericht eingegangen ist und der Kläger somit nicht erwarten konnte, dass seine Klage noch fristgerecht an das adressierte Gericht weitergeleitet wird. Wie lange ein ordnungsgemäßer Geschäftsgang dauern darf, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Regelmäßig wird man wegen der notwendigen Arbeitsschritte von fünf Tagen ausgehen können (vgl. Koehl, Die Klageerhebung und -zustellung im Verwaltungsprozess, NVwZ 2017, 1089, beck-online). Nachdem die Klage beim unzuständigen Gericht am letzten Tag der Frist nach Ende der üblichen Geschäftszeiten per Telefax eingegangen ist, hätte selbst eine unverzügliche Weiterleitung am nächsten Arbeitstag an das Verwaltungsgericht, zu der das Amtsgericht schon nicht verpflichtet war, die Klagefrist nicht mehr gewahrt.
1.2. Dem Kläger ist auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren. Der Kläger hat keine Tatsachen zur Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand glaubhaft gemacht, geschweige denn vorgetragen. Damit kann schon nicht beurteilt werden, ob der Antrag binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses gestellt wurde. Dies geht zu Lasten des Klägers.
Wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden, § 60 Abs. 1 und 2 VwGO.
Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausgeht, dass er, weil ihm das Verschulden des Mitarbeiters des Sozialreferats München nicht zugerechnet wird, ohne Verschulden gehindert war, die gesetzliche Klagefrist des § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG einzuhalten und bereits in dem Anschreiben zur Klage vom 13. Mai 2020 den Antrag auf Wiedereinsetzung sieht, fehlt es für einen erfolgreichen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand an Tatsachenangaben des Klägers, insbesondere dazu, wann das Hindernis für die Einhaltung der Klagefrist weggefallen ist.
Zur Darlegung gehört nämlich auch der Vortrag derjenigen Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass der Antragsteller nach Behebung des Hindernisses die Wiedereinsetzung rechtzeitig beantragt hat (BGH, B.v. 13.12.1999 – II ZR 225/98 – NJW 2000, 592 m.w.N.). Der Rechtsuchende ist verpflichtet, anzugeben, wann das zur Versäumung der Rechtsbehelfsfrist führende Hindernis weggefallen ist, um dem Gericht die Möglichkeit zu eröffnen, zu überprüfen, ob der Wiedereinsetzungsantrag fristgerecht gestellt worden ist (NK-VwGO/Detlef Czybulka/Sebastian Kluckert, 5. Aufl. 2018, VwGO § 60 Rn. 119). Dies hat der Kläger vorliegend trotz eines gerichtlichen Hinweises nicht getan.
Der Kläger hat sich auf Ausführungen zu seinem fehlenden Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist beschränkt, aber jeglichen Vortrag, insbesondere wann er Kenntnis davon erlangt hat, dass er die Klage an das falsche Gericht übermittelt und er somit die Klagefrist versäumt hat, vermissen lassen. Es ist nicht Sache des Gerichts, über mögliche Geschehensabläufe zu spekulieren, sondern Sache des Klägers entsprechende Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen. Dies ist vorliegend nicht geschehen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dem Kläger deshalb nicht zu gewähren.
Die Klage ist verfristet und damit unzulässig und aus diesem Grund abzuweisen.
2. Die Klage ist darüber hinaus aber auch unbegründet und auch aus diesem Grund abzuweisen. Die Klage ist vorliegend also auch dann abzuweisen, wenn man – anders als das Gericht – der Entscheidung zu Grunde legen würde, dass dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Klagefrist zu gewähren ist und die Klage somit nicht als unzulässig abgewiesen werden müsste.
Der angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 24. März 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5, Abs. 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. hilfsweise auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und auch nicht auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots. Auch die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begegnen keinen rechtlichen Bedenken.
2.1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach der Vorschrift des § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II, S. 559, 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Buchst. a)) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Buchst. b)). Die von dieser Vorschrift vorausgesetzte Verfolgung wegen eines der in ihr benannten Merkmale kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unterbleibt gemäß § 3e AsylG, wenn die Möglichkeit internen Schutzes besteht.
Dabei ist für die Feststellung, ob eine Verfolgung im Verständnis von §§ 3 ff. AsylG vorliegt, die RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, insbesondere deren Art. 4 Abs. 4 ergänzend heranzuziehen (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2 und § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG). Nach Art. 4 Abs. 4 der vorgenannten Richtlinie ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
Dies zugrunde legend steht dem Kläger kein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zu. Der Kläger befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes. Zur Begründung wird zunächst gemäß § 77 Abs. 2 AsylG vollinhaltlich auf die entsprechenden Ausführungen der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid vom 24. März 2020 verwiesen. Im Ergebnis zu Recht ist die Beklagte davon ausgegangen, dass sich auf der Grundlage des Vorbringens des Klägers eine begründete Verfolgungsfurcht im Verständnis von § 3 Abs. 1 AsylG nicht feststellen lässt. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im gerichtlichen Verfahren.
Nach diesen Maßgaben ist eine flüchtlingsrelevante Verfolgung des Klägers bei einer Rückkehr in den Irak nicht beachtlich wahrscheinlich.
2.1.1. Ein individuelles Verfolgungsschicksal hat der Kläger nicht geschildert.
2.1.2. Allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden muss der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak keine Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten.
Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in eine nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Eine solche Gefahr kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Erforderlich ist eine alle Gruppenmitglieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung, die – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraussetzt, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris; OVG Münster, U.v. 10.5.2021 – 9 A 570/20.A – juris).
Zwar hat die Kammer keinen Zweifel daran, dass Yeziden in ihren traditionellen Siedlungsgebieten des Nordirak seit Sommer 2014 durch den Vormarsch der Terrororganisation Islamischer Staat systematischer Verfolgung allein wegen ihres Glaubens ausgesetzt waren, vor der sie weder hinreichenden Schutz von Seiten des irakischen Staates noch seitens schutzbereiter Organisationen erhalten konnten. Im Rahmen der gezielten Verfolgung von yezidischen Glaubenszugehörigen durch den Islamischen Staat wurden zwischen 30.000 und 40.000 Yeziden aus ihrem Stammland um Sindjar vertrieben. Tausende Yeziden wurden im Rahmen des Vormarsches des Islamischen Staates in ihren Dörfern in der Provinz Ninive getötet oder gefangengenommen. Es kam zu Zwangskonversion, Massenvertreibungen und -hinrichtungen sowie Verschleppungen und sexueller Gewalt, insbesondere gegen Frauen und Kinder (vgl. zu Vorstehendem, Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12.2.2018).
Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Yeziden seit Übernahme der territorialen Herrschaft des Islamischen Staates in weiten Teilen der Provinz Ninive im Sommer 2014 maßgeblichen Umstände haben sich indes seitdem grundlegend geändert. Der Islamische Staat hat sein Herrschaftsgebiet zwischenzeitlich im gesamten Irak nahezu vollständig eingebüßt. Die von ihm kontrollierten Gebiete wurden nach und nach durch irakische Sicherheitskräfte und kurdische Peschmerga befreit. Ende 2017 hat der Islamische Staat das letzte Stück irakischen Territoriums verloren. Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat. Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak v. 2.3.2020, 12.1.2019, v. 18.2.2016, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak v. 17.3.2020, sowie Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Irak, Jesiden in der Provinz Ninawa, vom 11.2.2019).
Auch wenn nicht zu verkennen ist, dass mit dem territorialen Sieg über den Islamischen Staat nicht sämtliche Anhänger aus dessen ehemaligem Herrschaftsgebiet verschwunden sind und der Islamische Staat im Irak trotz seiner territorialen Zurückdrängung auch weiterhin aktiv ist, fehlt diesem doch mit der Rückeroberung der von ihm besetzten Gebiete eine quasi-staatliche Macht im Sinne des § 3c Nr. 2 AsylG, die Grundlage der von ihm ausgehenden systematischen Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Andersgläubigen und -denkenden war (im Ergebnis ebenso OVG Münster, U. v. 12.10.2021 – 9 A 549/18.A – juris; U.v. 10.5.2021 – 9 A 570/20.A – juris; OVG Lüneburg, B.v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19 – juris).
Seit dem Verlust seiner territorialen Herrschaftsmacht ist der Islamische Staat zu einer asymmetrischen Kampfführung übergegangen und verübt aus dem Untergrund heraus landesweit Anschläge, die zu Toten und Verletzten führen. Den der Kammer vorliegenden Erkenntnisquellen lassen sich indes keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass diese Anschläge gezielt die yezidischen Glaubensangehörigen treffen sollen. Die terroristischen Angriffe des Islamischen Staates richten sich vielmehr vor allem gegen Regierungsziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, v. 17.3.2020 und v. 3.3.2021; ebenso OVG Münster, U.v. 10.5.2021 – 9 A 570/20.A – juris, wonach sich der Kampf des Islamischen Staates derzeit schwerpunktmäßig gegen Sicherheitskräfte richte und weniger gegen Zivilpersonen, und dass die Provinz Ninive aktuell kein Hauptziel von Anschlägen sei, sondern vom Islamischen Staat vielmehr als „Nachschubroute“ genutzt werde).
Es ist für die Kammer im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht zu erkennen, dass der Islamische Staat in absehbarer Zeit zu einer (erneuten) Gruppenverfolgung der Yeziden in der Lage wäre. Zwar gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der inzwischen strukturell veränderte Islamische Staat wieder an Stärke gewinnt und seinen Machtbereich ausweitet (vgl. dazu etwa EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Sicherheitslage, Oktober 2020).
Um dem zu begegnen und ein Wiedererstarken des Islamischen Staates zu verhindern, führen indes die irakischen Sicherheitskräfte, zum Teil mit Unterstützung durch die internationale Koalition, nach wie vor Militäroperationen gegen den Islamischen Staat durch. Zudem kämpfen auch andere bewaffnete Gruppen, insbesondere die Volksmobilisierungseinheiten, in der Provinz Ninive gegen den Islamischen Staat. Um die Lage weiterhin zu stabilisieren, sind in Umsetzung des Abkommens zwischen der kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung zur Normalisierung der Lage im Distrikt … in der Provinz Ninive außerdem bereits im November 2020 mindestens drei Brigaden der irakischen Sicherheitskräfte in diesem Distrikt stationiert worden (vgl. zu Vorstehendem EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Sicherheitslage, v. Oktober 2020).
Angesichts dieser erkennbaren Bemühungen, die Sicherheitslage in der Region zu verbessern, ist nicht davon auszugehen, dass der Islamische Staat zeitnah in der Lage wäre, in der Provinz Ninive als der Herkunftsregion des Klägers erneut eine Machtstruktur zu errichten, die es ihm ermöglichen würde, yezidische Glaubenszugehörige mit systematischen Verfolgungsmaßnahmen zu überziehen (vgl. ebenso OVG Lüneburg, B.v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19 – juris; OVG Münster, U.v. 1.05.2021 – 9 A 570/20.A -, wonach selbst bei Annahme einer Vorverfolgung stichhaltige Gründe gegen eine (erneute) Gruppenverfolgungssituation der Yeziden sprächen).
Dies gilt auch unter Beachtung der von den Eltern des Klägers für diesen in ihrer Klagebegründung in Bezug genommenen Erkenntnismittel.
2.1.3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf abgeleiteten Familienflüchtlingsschutz gemäß § 26 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 AsylG.
2.1.3.1. Eine Ableitung von den Eltern bzw. den Geschwistern, deren Asylantrag mit Bescheid des Bundesamts vom 1. April 2019 abgelehnt wurde, kommt nicht in Betracht, weil sie nicht unanfechtbar als international Schutzberechtigte anerkannt worden sind, § 26 Abs. 2, Abs. 5, Abs. 3 Satz 2, Satz 1, Abs. 5 AsylG.
Eine Verpflichtung des Bundesamts, den bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens der Eltern des Klägers bzw. seiner fünf Geschwister abzuwarten, ergibt sich nicht aus dem Gesetz. Die Beklagte weist in diesem Zusammenhang vielmehr zutreffend darauf hin, dass der Kläger einen weiteren Asylantrag stellen kann, sofern das Verfahren zu einem für die Eltern und Geschwister positiven Ergebnis führt.
2.3.1.2. Eine Ableitung von Familienflüchtlingsschutz vom Bruder …, dem mit Bescheid vom 16. Februar 2016 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, kommt auch nicht Betracht, weil der am … geborene Bruder des Klägers im Zeitpunkt der Antragstellung des Klägers am … 2019 nicht mehr minderjährig war, § 26 Abs. 3 Satz 2, Satz 1, Abs. 5 AsylG.
2.2. Der Kläger hat ersichtlich auch keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a GG, weil schon die insoweit weiteren Voraussetzungen des § 3 AsylG nicht vorliegen.
2.3. Auch der Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG bleibt ohne Erfolg.
Ein Ausländer ist nach der Vorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG als subsidiär Schutzberechtigter anzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
2.3.1. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak als ernsthafter Schaden die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG drohen würde, bestehen nicht.
2.3.2. Ebenso wenig hat die Kammer einen greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Die beachtliche Furcht vor einem ernsthaften Schaden wegen der beachtlichen Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ergibt sich weder aus der yezidischen Glaubenszugehörigkeit des Klägers noch aus der schlechten humanitären Bedingungen in seiner Herkunftsregion, der Provinz Ninive.
2.3.2.1. Insbesondere muss der Kläger nicht allein aufgrund seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung befürchten, da, wie dargelegt, nicht (mehr) von einer Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive auszugehen ist.
2.3.2.2. Ein ernsthafter Schaden im Sinne der Vorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht dem Kläger aber auch nicht wegen der schlechten humanitären Bedingungen in seiner Herkunftsregion, weil es an einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG fehlt, von dem zielgerichtet eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgehen würde. Schlechte humanitäre Bedingungen, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, können nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, sondern allenfalls zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 juris; OVG Münster, U.v. 10.5.2021 – 9 A 570/20.A – juris; OVG Lüneburg, B.v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19 – juris).
Dass die schlechte humanitäre Lage in Ninive auf Handlungen oder Unterlassungen des irakischen Staates zurückzuführen wäre, ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen indes nicht anzunehmen. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass der irakische Staat den Wiederaufbau in der Provinz Ninive bewusst verhindern oder verzögern würde, um die dortigen prekären Lebensbedingungen aufrechtzuerhalten. Vielmehr ist der schleppende Wiederaufbau in dieser Provinz maßgeblich auf die allgemein schwierige wirtschaftliche Lage im Irak, fehlende finanzielle Mittel sowie die instabilen politischen Verhältnisse in der Region zurückzuführen (ebenso OVG Münster, U.v. 10.5.2021 – 9 A 570/20.A. – juris; OVG Lüneburg, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris).
Es bestehen nach den Erkenntnissen des Gerichts auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass die gegenwärtige schlechte humanitäre Lage in der Provinz Ninive maßgeblich vom Islamischen Staat als quasi-staatlicher Akteur im Sinne von § 3 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 2 AsylG zu verantworten wäre und diese Lage von ihm auch zielgerichtet weiter aufrechterhalten würde (ebenso OVG Münster, U.v. 10.5.2021 – 9 A 570/20.A. – juris; OVG Lüneburg, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris).
2.3.3. Darüber hinaus liegen auch die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht vor.
Dabei kann die Frage, ob im Irak oder zumindest in der Herkunftsprovinz der Kläger Ninive, ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, dahinstehen. Denn selbst für diesen Fall käme subsidiärer Schutz für die Kläger insoweit nur in Betracht, wenn der den bestehenden Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hätte, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr in den Irak oder in die von dem bewaffneten Konflikt betroffene Region allein durch ihre dortige Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit ausgesetzt zu sein (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris, v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris; ferner EuGH, U.v. 17.2.2009, C-465/07, InfAuslR 2009, 138). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Ein solch hoher Gefahrengrad lässt sich ungeachtet dessen, dass die Sicherheitslage im gesamten Irak volatil bleibt und es insbesondere auch in der Provinz Ninive als der Herkunftsregion des Klägers weiterhin zu schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Islamischen Staat und irakischen Sicherheitskräften kommt, von denen auch Zivilisten betroffen sind, vorliegend nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit feststellen (vgl. für die gesamte Provinz Ninive: EASO, Country Guidance: Iraq – Common analysis and guidance note, Januar 2021, S. 149; im Ergebnis für den Distrikt Tel Kef, aus dem der Kläger stammt, ebenso: OVG Münster, U.v. 12.10.2021 – 9 A 549/18.A – juris Rn. 132; OVG Lüneburg, B.v. 11.3.2021 – 9 LB – juris Rn. 123 ff.).
Zur Bestimmung der erforderlichen Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung bedarf es zunächst einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos, auf deren Grundlage eine wertende Gesamtbetrachtung zur individuellen Betroffenheit des schutzsuchenden Ausländers zu erfolgen hat. Der „quantitative“ Ansatz für die Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos zielt dabei nicht auf einen auf alle Konfliktlagen anzuwendenden „Gefahrenwert“ im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen Mindestschwelle, sondern lässt durch das Erfordernis einer abschließenden Gesamtbetrachtung ausreichend Raum für qualitative Wertungen (BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris; ferner EuGH, U.v. 10.6.2021, C-901/19 – juris, wonach die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts nicht voraussetze, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreiche, vielmehr eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des Schutzsuchenden kennzeichnen, erforderlich sei).
Ausgehend von diesem Maßstab ist zunächst festzustellen, dass nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen über die Jahre 2016 bis 2020 ein Rückgang der zivilen Opferzahlen aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen in der Provinz Ninive zu verzeichnen ist. Den UNAMI-Daten über zivile Opfer im Zeitraum von 2014 bis 2018 zufolge waren dort 2016 insgesamt 2.791, 2017 insgesamt 2.611, 2018 hingegen lediglich noch 182 zivile Opfer zu verzeichnen. Im Jahr 2019 wurden von UNAMI insgesamt 174 und im Zeitraum von Januar bis Juli 2020 47 zivile Opfer im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten erfasst (vgl. zu den entsprechenden Zahlen der zivilen Opfer in der Provinz Ninive, EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak: Sicherheitslage, Oktober 2020 und März 2019).
Ungeachtet dieses doch deutlichen Rückgangs an zivilen Opfern in der Provinz Ninive in den Jahren 2018 bis 2020 ist die Zahl der zivilen Opfer in den zurückliegenden Jahren insgesamt zu gering, um die Annahme als gerechtfertigt erscheinen zu lassen, dass der Grad willkürlicher Gewalt in der Provinz Ninive ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung für Leib oder Leben ausgesetzt wäre (vgl. dazu u.a. VG Gelsenkirchen, U.v. 4.3.2020 – 15a K 5013/18.A – juris, BayVGH, B.v. 16.10.2019 – 5 ZB 19.33239 – juris).
Dass aufgrund der jüngsten Entwicklungen in der Provinz Ninive eine andere Beurteilung veranlasst wäre, ist weder dargetan, auch nicht durch den Verweis der Kläger auf Erkenntnismittel in ihrer Klagebegründung, noch ansonsten erkennbar.
Auch liegen im Fall des Klägers keine besonderen individuellen Umstände vor, die bei ihm auf eine größere persönliche Gefährdung schließen lassen würden als in der Provinz Ninive allgemein üblich.
Ersichtlich gehört der Kläger nicht zu einer der im Irak besonders gefährdeten gesellschaftlichen Gruppe wie etwa Journalisten, Blogger, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Staatsanwälte oder Mitarbeiter des Sicherheitsapparates.
Zudem ist der Kläger auch nicht allein wegen seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit von willkürlicher Gewalt stärker betroffen als die sonstige Zivilbevölkerung in der Provinz Ninive. Nach der Verdrängung des Islamischen Staates aus der Region Ninive bestehen keine Anhaltspunkte mehr für die Annahme, dass Yeziden gegenwärtig über die allgemein konfliktbedingte Gewalt hinaus zusätzlichen gezielten Gewaltakten durch den Islamischen Staat ausgesetzt wären (s.o.).
2.4. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines vom Kläger weiter geltend gemachten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht erfüllt.
2.4.1. Es ergibt sich für den Kläger kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, weil ihm im Irak keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben würden, sind in Bezug auf den Kläger indes nicht feststellbar. Insbesondere droht dem Kläger im Falle seiner Abschiebung in den Irak keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.
2.4.1.1. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die Unzulässigkeit einer Abschiebung wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründet, geht dessen sachlicher Regelungsbereich nicht über denjenigen von § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hinaus. Daher scheidet bei der Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – wie vorliegend – regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch die Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris).
2.4.1.2. Allerdings können auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung, die nicht auf einen verantwortlichen Akteur im Sinne von § 3c AsylG zurückzuführen sind, in ganz außergewöhnlichen Fällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.
Dies ist dann der Fall, wenn die humanitären Gründe „zwingend“ gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür ein Mindestmaß an Schwere aufweisen. Das insoweit für eine Verletzung von Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere kann erreicht sein, wenn der Ausländer im Falle seiner Rückkehr seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Der Ausländer muss sich in einer Situation extremer materieller Not befinden, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. dazu BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4.20 – juris unter Hinweis auf EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 und C-163/17 juris; OVG Münster, U.v. 10.5.2021 – 9 A 570/20.A – juris).
Diese hohen Anforderungen sieht das Gericht im Fall der Kläger nicht als erfüllt an. Bei der gebotenen individuellen Betrachtung, für die davon auszugehen ist, dass der minderjährige Kläger im Familienverbund mit seinen Eltern abgeschoben wird (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris), steht vielmehr zu erwarten, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung seine elementarsten Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft wird befriedigen können.
Nach den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bevölkerung zwar nicht durchgehend und auch nicht in allen Landesteilen gewährleisten. Dabei ist die Versorgungslage in den angestammten Siedlungsgebieten der Yeziden, insbesondere auch in der Provinz Ninive als der Herkunftsregion des Klägers, besonders prekär. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist unzureichend. Staatliche Lebensmittelgutscheine sind in den befreiten Gebieten nur eingeschränkt verfügbar. Es gibt kein fließendes Trinkwasser und keine geregelte Stromversorgung (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Jesiden in der Provinz Ninawa, v. 11.2.2019; ACCORD, Lage in Mosul bzw. Provinz Ninawa: Sicherheitslage, v. 6.2.2019; ferner Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, v. 12.1.2019).
Die schwierige wirtschaftliche Situation und angespannte Versorgungslage insbesondere in der Region Ninive begründen im Fall des Klägers dennoch nicht die Annahme eines ganz außergewöhnlichen Falles mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts, der im Falle seiner Abschiebung eine Verletzung von Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde. Insoweit ist nämlich zum einen maßgeblich zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Kläger und seiner Familie nicht um Binnenflüchtlinge handelt, denen eine Rückkehr in ihren Heimatort nicht oder nur unter erheblichen Erschwernissen möglich wäre.
Vielmehr war es der Familie des Klägers trotz der allgemein schwierigen Lebensumstände im Irak möglich, bis zu ihrer Ausreise im November 2017 in ihrem von dem Vormarsch des Islamischen Staates in der Provinz Ninive ersichtlich verschont gebliebenen Heimatdorf gemeinsam mit der Großmutter des Klägers väterlicherseits in deren Haus zu leben und den Lebensunterhalt für die Familie einschließlich der damals acht Kinder zu sichern. Dass sich der Kläger und seine Familie bei einer heutigen Rückkehr in einer existenzbedrohenden Situation wiederfinden würden, ist nicht anzunehmen. Zunächst ist davon auszugehen, dass er nur im Familienverband mit seinen Eltern abgeschoben werden würde, die auch bisher nicht nur in der Lage waren, den Lebensunterhalt für die vielköpfige Familie, zuletzt als Obstverkäufer, zu sichern, sondern es auch bewerkstelligen konnten, bislang sechs ihrer mittlerweile neun Kinder und sich selbst die Ausreise nach Deutschland teilweise auf dem Luftweg, zu finanzieren. Der Vater, der fünf Jahre lang die Schule besucht hat, besitzt nach seinen Angaben auch noch ein Grundstück im Irak. Abgesehen davon befinden sich noch zwei weitere Geschwister des Klägers, zwei Brüder seines Vaters und eine Schwester des Vaters, drei Schwestern seiner Mutter, zwei Brüder seiner Mutter und die väterliche und mütterliche Großfamilie noch im Irak und können die Kläger ggf. unterstützen. Außerdem leben auch drei Schwestern des Vaters des Klägers mit Aufenthaltstitel im Bundesgebiet, die die Familie des Klägers ebenfalls unterstützen können. Darüber hinaus kann die Familie für die Übergangszeit im Falle einer freiwilligen Rückkehr in den Irak bei Vorliegen der Voraussetzungen die Rückkehrhilfen des REAG/GARP-Programms sowie des Starthilfe-Plus-Programms in Anspruch nehmen, die ihnen eine Rückkehr erheblich vereinfachen dürften (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, v. 22.1.2021). Soweit der Vater des Klägers in seiner ergänzenden Anhörung vorgetragen hat, seine Verwandten im Irak arbeiteten nicht und lebten in Armut ist dies auch vor dem Hintergrund der vorgetragenen Traumatisierung als Begründung nicht nachvollziehbar. Der Vater des Klägers hat bereits im Irak an Diabetes gelitten und trotzdem den Lebensunterhalt der Familie sichern können.
Dass es der Familie des Klägers bei diesen Gegebenheiten nicht gelingen sollte, sich eine Lebensgrundlage zu schaffen und zumindest ihr Existenzminimum zu sichern, steht daher nicht zu erwarten.
2.4.2. Ein Abschiebungsverbot folgt auch nicht aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, grundsätzlich nur nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine solche allgemeine Gefahrenlage, der die Kläger bei einer Rückkehr in den Irak ebenso wie die Bevölkerung ihres Heimatlandes insgesamt oder zumindest einzelne Bevölkerungsteile ausgesetzt wären, kann nur dann ein zwingendes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, wenn es den Klägern mit Blick auf den verfassungsrechtlich unabdingbaren Schutz insbesondere des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht zuzumuten wäre, in den Irak abgeschoben zu werden. Dies wäre der Fall, wenn die Kläger im Irak aufgrund der dortigen Existenzbedingungen einer Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wären, dass sie bei einer Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würden (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris, U.v. 8.9.2012 – 10 C 14.10 – juris).
Dass dem Kläger für den Fall seiner Abschiebung im Familienverban in den Irak aufgrund der dortigen Sicherheits- oder Versorgungslage keine derart extreme Gefährdungslage droht, ergibt sich indes bereits aus den obigen Darlegungen. Im Übrigen wird auf die zutreffenden Ausführungen des Bundesamts im Bescheid Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
3. Die Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung unter Fristsetzung von 30 Tagen ist rechtmäßig. Sie beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG, dessen Voraussetzungen im Fall des Klägers nach den obigen Ausführungen vorliegen, und § 38 Abs. 1 AsylG.
4. Auch das auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nicht zu beanstanden, § 11 Abs. 1 AufenthG. Ermessensfehler bezüglich der Länge der Frist sind weder geltend gemacht noch erkennbar.
Die Klage war somit abzuweisen und zwar sowohl als unzulässig als auch als unbegründet.
II. Der Kläger trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
III. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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