Verwaltungsrecht

Asylverfahren, Unzulässiger Antrag auf Zulassung der Berufung, Einwurf in den Nachtbriefkasten des Gerichts, Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument, Vorübergehende technische Störung, Server- und Internetausfall in der Kanzlei, Voraussetzungen einer wirksamen Ersatzeinreichung, Unverzügliche Glaubhaftmachung (fehlende) anwaltliche Versicherung, Keine Wiedereinsetzung, fehlerhafte Behandlung durch den Klägerbevollmächtigten

Aktenzeichen  6 ZB 22.30401

Datum:
2.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 10658
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 4 S. 1
VwGO § 55d
VwGO § 60 Abs. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

RO 8 K 17.33826 2022-03-03 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 3. März 2022 – RO 8 K 17.33826 – wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts ist unzulässig, weil er innerhalb der Antragsfrist nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form gestellt wurde. Die vorgenommene Ersatzeinreichung ist unwirksam (1.). Die hilfsweise beantragte Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden (2.).
1. Gemäß § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG ist die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils zu beantragen. Der Antrag ist beim Verwaltungsgericht, das die erstinstanzliche Entscheidung getroffen hat, zu stellen (§ 78 Abs. 4 Satz 2 AsylG). In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Nach dem seit dem 1. Januar 2022 geltenden § 55d VwGO (eingefügt durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013, BGBl. I S. 3786 ff.) sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die u.a. durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Eine herkömmliche Einreichung – etwa auf dem Postweg oder per Fax – ist prozessual grundsätzlich unwirksam. Nur dann, wenn eine Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig (§ 55d Satz 3 VwGO). Die vorübergehende Unmöglichkeit ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen. Die Einhaltung der Vorschrift ist eine Frage der Zulässigkeit und daher von Amts wegen zu beachten; sie steht nicht zur Disposition der Beteiligten (zum Ganzen: OVG LSA, B.v. 18.1.2022 – 1 L 98/21.Z – juris Rn. 4; OVG SH, B.v. 25.1.2022 – 4 MB 78/21 – juris Rn. 4; OVG Berlin-Bbg, B.v. 7.2.2022 – 6 N 19/22 – juris Rn. 2; VG Frankfurt/Oder, B.v. 19.1.2022 – 10 L 10/22.A – juris Rn. 6 ff.; Braun Binder in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 55d Rn. 7; Schmitz in Posse/Wolff, BeckOK VwGO, 60. Ed. 1.1.2022, § 55d Rn. 2; zu § 130d ZPO vgl. auch BT-Drs. 17/12634 S. 27).
Nachdem das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 3. März 2022 dem Bevollmächtigten des Klägers laut Empfangsbekenntnis am 10. März 2022 zugestellt wurde, hätte der Antrag auf Zulassung der Berufung gemäß § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG, § 55d VwGO innerhalb eines Monats ab Bekanntgabe – mithin bis Montag, 11. April 2022 (24:00 Uhr) – beim Verwaltungsgericht in elektronischer Form eingehen müssen. Dies ist nach Aktenlage nicht geschehen. Nach den Akten, die dem Verwaltungsgerichtshof vom Verwaltungsgericht übermittelt worden sind, hat der Bevollmächtigte des Klägers den Antragsschriftsatz am 11. April 2022 stattdessen in den Nachtbriefkasten des Verwaltungsgerichts eingeworfen und darauf handschriftlich vermerkt, es habe seit 17.00 Uhr einen Komplettausfall des Servers und der Internetnutzung in der Kanzlei gegeben. Die für den folgenden Tag angekündigte Vorlage von Bestätigungen von C.-IT und Telekom erfolgte erst am 24. April 2022.
Die Einreichung des Antrags auf Zulassung der Berufung wahrt die Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG nicht, da sie bis zum Fristablauf entgegen § 55d Satz 1 VwGO nur per Einwurf in den Nachtbriefkasten und damit nicht formgerecht erfolgt ist. Es liegt auch keine die Antragsfrist wahrende Ersatzeinreichung nach § 55d Satz 3 VwGO vor, da die Voraussetzungen einer wirksamen Ersatzeinreichung nicht erfüllt sind.
Zwar könnte eine vorübergehende, aus technischen Gründen bestehende Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung, die eine (fristwahrende) Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften ausnahmsweise zulässt (§ 55d Satz 3 VwGO), in den am 11. März 2022 auf dem Antragsschriftsatz handschriftlich vorgetragenen Problemen liegen, da es nach dem Willen des Gesetzgebers keine Rolle spielen soll, ob die Ursache für eine vorübergehende technische Unmöglichkeit in der Sphäre des Gerichts oder in der Sphäre des Einreichenden zu suchen ist. Auch ein vorübergehender Ausfall der technischen Einrichtungen des Rechtsanwalts soll dem Rechtsuchenden nicht zum Nachteil gereichen (BT-Drs. 17/12634 S. 27 zur Parallelvorschrift des § 130d ZPO; Schmitz in: BeckOK, VwGO, 60. Ed. 1.1.2022, § 55d Rn. 5). Angesichts der Vielzahl denkbarer Störungsfälle handelt es sich um eine einheitliche Heilungsregelung. Die Beteiligten sollen nicht damit belastet werden, den Ursprung der technischen Störung zu eruieren. Aus diesem Grund ist die Möglichkeit der Ersatzeinreichung verschuldensunabhängig ausgestaltet und erfordert nur die (unverzügliche) Glaubhaftmachung der technischen Störung als solcher (ArbG Lübeck, U.v. 1.10.2020 – 1 Ca 572/20 -, juris Rn. 85 zur Parallelvorschrift des § 46g ArbGG).
Die Glaubhaftmachung muss gemäß § 55d Satz 4 VwGO „bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach“ erfolgen. Im Interesse des dahinterstehenden Beschleunigungsgedankens versteht der Senat diese Formulierung so, dass die Glaubhaftmachung mit der Ersatzeinreichung grundsätzlich vorrangig zu erfolgen hat („soll möglichst“: BT-Drs. 17/12634 S. 28 zur Parallelvorschrift des § 130d ZPO; „idealerweise“: Siegmund, NJW 2021, 3617, Rn. 13). Lediglich dann, wenn der Rechtsanwalt erst kurz vor Fristablauf feststellt, dass eine elektronische Einreichung nicht möglich ist und bis zum Fristablauf keine Zeit mehr verbleibt, die vorübergehende technische Störung darzutun und glaubhaft zu machen, genügt es, die Glaubhaftmachung unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern nachzuholen. Daran fehlt es hier.
a) Die Glaubhaftmachung der technischen Störung erfolgte nicht zusammen mit der Ersatzeinreichung. Zwar hat der Klägerbevollmächtigte in dem handschriftlichen Vermerk auf der in den Nachtbriefkasten des Verwaltungsgerichts eingeworfenen Antragsschrift auf die Unmöglichkeit eines Versands von einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) am Nachmittag des 11. April 2022 verwiesen. Die Schilderung von Vorgängen durch einen Rechtsanwalt kann die mitgeteilten Tatsachen aber nur dann glaubhaft machen, wenn der Anwalt die Richtigkeit seiner Angaben unter Bezugnahme auf seine Standespflichten anwaltlich versichert (vgl. BGH, B.v. 5.7.2017 – XII ZB 463/16 – juris; B.v. 22.10.2014 – XII ZB 257/14 – juris Rn. 16; B.v. 18.5.2011 – IV ZB 6/10 – juris Rn. 11). Eine derartige besondere Versicherung enthält der Vermerk vom 11. April 2022 jedoch nicht.
b) Die Glaubhaftmachung wurde auch nicht unverzüglich nachgeholt. Entgegen der entsprechenden Ankündigung des Klägerbevollmächtigten wurden geeignete Mittel zur Glaubhaftmachung der vorübergehenden technischen Unmöglichkeit, wie beispielsweise Bestätigungen des Netzadministrators und der Telekom nicht unverzüglich nach der Ersatzeinreichung, sondern erst am Sonntag, den 24. April 2022 beigebracht. Nach Ablauf einer Zeitspanne von mehr als einer Woche ist ohne das Vorliegen besonderer Umstände – für die es hier keinerlei Anhaltspunkte gibt – grundsätzlich keine Unverzüglichkeit mehr gegeben (vgl. LAG Schleswig-Holstein, U.v. 13.10.2021 – 6 Sa 337/20 – juris Rn. 128 m.w.N.). Fehlt die (unverzügliche) Glaubhaftmachung, so ist auch die Ersatzeinreichung unwirksam (vgl. Siegmund, NJW 2021, 3617/3618 Rn. 13).
2. Als der Zulassungsantrag am 12. April 2022 als elektronisches Dokument aus einem besonderen Anwaltspostfach beim Verwaltungsgericht einging, war die Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG bereits verstrichen. Dem hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsgesuch in diese Frist kann nicht entsprochen werden. Denn die Unzulässigkeit des Zulassungsantrags ist durch eine fehlerhafte Behandlung durch den Klägerbevollmächtigten begründet (§ 60 Abs. 1 VwGO). Dieser hätte den Antrag nach § 124a Abs. 4 VwGO durch den noch innerhalb der Antragsfrist erfolgten Einwurf des Antragsschriftsatzes in den Nachtbriefkasten des Verwaltungsgerichts in zulässiger Weise gestellt, wenn er entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zumindest unverzüglich nach Vornahme der Ersatzeinreichung die vorübergehende Unmöglichkeit der elektronischen technischen Unmöglichkeit glaubhaft gemacht hätte (§ 55d Satz 4 VwGO). Die gesetzlichen Anforderungen an eine wirksame Ersatzeinreichung mussten dem Prozessbevollmächtigten des Klägers bekannt sein, so dass ihn ein Verschulden an der Fristversäumung auch dann träfe, wenn er die Rechtslage insoweit möglicherweise verkannt haben sollte (vgl. OVG SH, B.v. 25.1.2022 – 4 MB 78/21 – juris Rn. 8 u. 9). Das Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten wird dem Kläger gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet (vgl. BVerfG, B.v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/81 – juris).
3. Der unzulässige Zulassungsantrag ist mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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