Verwaltungsrecht

Aufenthaltstitel nach § 25a I AufenthG setzt für jugendlichen Ausländer nach § 1 II JGG mindestens die Vollendung des 14. Lebensjahrs voraus

Aktenzeichen  B 4 E 16.255

Datum:
14.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO §§ 80 V, 123
AufenthG AufenthG §§ 25a, 60a, 81 III, IV, 84 I
GG GG Art. 6
EMRK EMRK Art. 8
JGG JGG § 1 II

 

Leitsatz

Lediglich in Fällen des § 81 III und IV AufenthG, in denen ein Aufenthaltstitel als fortbestehend bzw. die Abschiebung als ausgesetzt gilt, entfällt mit der ablehnenden Entscheidung der Ausländerbehörde die Fiktionswirkung der Antragstellung trotz Klageerhebung. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage erweist sich dann als statthaft, weil damit die Fiktionswirkung verlängert und die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht aufgeschoben werden kann. (red. LS Clemens Kurzidem)
Ist die Abschiebung eines Ausländers aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil andernfalls die effektive Verfolgung eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vereitelt oder wesentlich erschwert würde, ist ihm im Wege der Sicherungsanordnung eine Duldung zu erteilen und die Abschiebung einstweilen auszusetzen. (red. LS Clemens Kurzidem)
Soweit § 25a I 1 AufenthG einem “jugendlichen” Ausländer unter den dort normierten Voraussetzungen einen Aufenthaltstitel zubilligt, ist “jugendlich” nach der Legaldefinition des § 1 II JGG auszulegen. Danach ist Jugendlicher, wer mindestens das 14.Lebensjahr, jedoch noch  nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat. (red. LS Clemens Kurzidem)
Fehlt es an einer Aufenthaltserlaubnis eines jugendlichen Ausländers nach § 25a I AufenthG, kann seinen Eltern und seinen Geschwistern auch keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a II AufenthG erteilt und deren Abschiebung nicht nach § 60a IIb AufenthG ausgesetzt werden. (red. LS Clemens Kurzidem)
Eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, muss der betroffene Ausländer nach § 60a IIc 2 AufenthG durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

1. Die Anträge werden abgelehnt.
2. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
3. Der Streitwert wird auf 12.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller zu 1 bis 4 sind ukrainische Staatsangehörige. Sie reisten am 07.02.2012 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten Asylanträge, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 18.12.2012 unter Bestimmung einer Frist von 30 Tagen für die freiwillige Ausreise und Abschiebungsandrohung in die Ukraine oder einen anderen aufnahmebereiten Staat ablehnte. Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 23.10.2013 ab. Die Antragstellerin zu 5, ebenfalls ukrainische Staatsangehörige, wurde in Deutschland geboren. Ihren Asylantrag lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 07.11.2013, bestätigt vom Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 14.02.2014, unter Bestimmung einer Ausreisefrist von einer Woche und Abschiebungsandrohung in die Ukraine oder einen anderen aufnahmebereiten Staat als offensichtlich unbegründet ab.
Bezüglich der Folgeanträge der Antragsteller zu 1 bis 4 vom 18.03.2014 teilte das Bundesamt der Ausländerbehörde mit Schreiben vom 12.02.2016 mit, dass ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt werde.
Da die Antragstellerin zu 5 keinen Pass oder Passersatz besaß, erhielten die Antragsteller am 01.07.2014 Duldungen, die zunächst bis 30.09.2014 gültig waren und mehrfach verlängert wurden, zuletzt bis 30.12.2015.
Mit Bescheid vom 04.01.2016 lehnte die Ausländerbehörde die Anträge der Antragsteller auf Erneuerung der Duldung vom 29.12.2015 ab und kündigte für den Fall, dass innerhalb eines Monats ab Zustellung des Bescheides keine Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland erfolge, die Abschiebung an. Die dagegen erhobene Klage nahmen die Antragsteller am 24.03.2016 zurück, nachdem das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Beschluss vom 18.02.2016 den entsprechenden Eilantrag abgelehnt hatte (B 4 E 16.66).
Mit Schreiben vom 25.02.2016 übermittelte die Regierung von Oberbayern der Ausländerbehörde einen bis zum 26.03.2016 gültigen Heimreiseschein für die Antragstellerin zu 5.
Flugtickets für einen Flug von München nach Kiew am 21.03.2016, aufgrund deren Vorlage die Ausländerbehörde eine geplante Abschiebung abgesetzt hatte, ließen die Antragsteller verfallen.
Mit Schreiben ihres damaligen Prozessbevollmächtigten vom 21.03.2016 beantragten die Antragsteller die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen, für die Antragstellerin zu 3 gemäß § 25a Abs. 1 AufenthG und für die übrigen Antragsteller gemäß § 25a Abs. 2 AufenthG. Dasselbe beantragten die Antragsteller nochmals mit Schreiben ihres jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 24.03.2016, außerdem die Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG. Schließlich wurde für die Antragstellerin zu 2 hilfsweise eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG wegen Reiseunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen beantragt.
Mit Bescheid vom 29.03.2016 lehnte die Ausländerbehörde die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Antragstellerin zu 3 (Ziffer 1) sowie an die Antragsteller zu 1, 2, 4 und 5 (Ziffer 2) ab. Die Antragstellerin zu 3 erfülle nicht die Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 AufenthG, weil sie mit 11 Jahren noch keine Jugendliche im Sinne dieser Vorschrift sei. Demzufolge könne den übrigen Antragstellern auch keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 2 AufenthG erteilt werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG scheide aus. Die Ausreise aller Familienmitglieder sei seit der Ausstellung eines Passersatzdokumentes für die jüngste Tochter möglich gewesen und habe am 21.03.2016 stattfinden sollen. Warum sie nun aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich sein solle, sei nicht nachvollziehbar. Die Erteilung einer Duldung gemäß § 60a AufenthG scheide aus denselben Gründen aus.
Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 04.04.2016, beim Verwaltungsgericht Bayreuth an diesem Tag auch eingegangen, haben die Antragsteller gegen den Bescheid vom 29.03.2016 Klage erhoben und die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen, für die Antragstellerin zu 3 gemäß § 25a Abs. 1 AufenthG und für die übrigen Antragsteller gemäß § 25a Abs. 2 AufenthG, sowie zur Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG und zur Erteilung von Duldungen gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse, hilfsweise zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG, beantragt (B 4 K 16.256). Gleichzeitig haben sie beantragt,
im einstweiligen Rechtsschutzverfahren den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens Duldungen zu erteilen.
Zur Begründung wird vorgetragen, die Antragstellerin zu 2 befinde sich wegen ihres schlechten gesundheitlichen Zustandes seit 24.03.2016 im Bezirksklinikum ********. Obwohl dies dem Antragsgegner mittels Telefax am 29.03.2016 mitgeteilt worden sei, berücksichtige der Bescheid die krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 2 nicht. Die Antragstellerin zu 3 erfülle die Voraussetzung „jugendlicher“ Ausländer im Sinne des § 25a Abs. 1 AufenthG, weil die Vorschrift ausdrücklich nicht auf § 1 Abs. 2 JGG Bezug nehme und bewusst keine Altersgrenze nenne. Ein gewisses Mindestalter sei lediglich dadurch von Gesetzes wegen normiert, als dieses indirekt aus dem erforderlichen vierjährigen Schulbesuch resultiere. Die anderweitigen Antragsteller leiteten ihr Recht auf Aufenthaltserlaubnisse als Eltern bzw. minderjährige Geschwister aus § 25a Abs. 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 6 GG, Art. 8 EMRK ab. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die diesbezüglich gestellten Hauptanträge hätten die Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG. Hilfsweise seien wegen der schweren Erkrankung der Antragstellerin zu 2 Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG beantragt worden. Lediglich vollständigkeitshalber sei noch auszuführen, dass auch weitere tatsächliche Abschiebungshindernisse im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG aufgrund der Konfliktsituation in der Ostukraine gegeben seien. Bei einer Rückkehr in die Heimat bestehe Gefahr für Leib und Leben. Schließlich müsse die Antragstellerin zu 2 aufgrund einer fortgeschrittenen schweren Hüftdysplasie unbedingt medizinisch versorgt werden. Eine zweite OP sei dringend indiziert. Im Moment habe sie starke Schmerzen. Verwiesen werde auf den beigefügten Bericht des Klinikums … vom 03.03.2016. Eine entsprechende Behandlung sei in der Ukraine aufgrund des nicht funktionierenden Gesundheitswesens und aufgrund der desolaten Gesundheitsvorsorge in den Konfliktgebieten derzeit nicht möglich.
Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 08.04.2016 beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er hält einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO für statthaft. In der Sache bleibt er dabei, dass „jugendlich“ im Sinne des § 25a AufenthG die Vollendung des 14. Lebensjahres voraussetze. Dass keine Unmöglichkeit der Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen vorliege, sei im Bescheid unter Hinweis auf die für den 21.03.2016 geplante freiwillige Ausreise festgestellt worden. Die für die Antragstellerin zu 2 geltend gemachte Reiseunfähigkeit aufgrund einer nervlichen Erkrankung sei bis heute nicht durch ein ärztliches Attest belegt worden. Aus der ärztlichen Stellungnahme vom 03.03.2016 ergebe sich keine Reiseunfähigkeit. Die darin beschriebenen körperlichen Beeinträchtigungen hätten die Antragstellerin nicht daran gehindert, über ihren Bevollmächtigten die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise erklären zu lassen und Flugtickets zu buchen. Eine zwischenzeitliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin zu 2 sei nicht mit einem aktuellen, jedenfalls nach dem 21.03.2016 ausgestellten ärztlichen Attest bescheinigt worden. Im Übrigen handele es sich nach einer kurzfristig eingeholten Stellungnahme des Amtsarztes bei dem Leiden der Antragstellerin zu 2 um eine angeborene Fehlbildung, nicht um eine akute Erkrankung.
Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 12.04.2016 legten die Antragsteller ergänzend einen FOKUS-ONLINE-Bericht vom 10.04.2016 („Schwere Gefechte nach Donezk – OSZE-Beobachter beschossen“) vor.
Der Antragsgegner legte mit Schriftsatz vom 12.04.2016 ein Schreiben der Regierung von Oberbayern (Zentrale Passbeschaffung Bayern) vom 12.04.2016 vor, wonach im Falle der Antragstellerin zu 5 einer Ausstellung eines Heimreisescheines von Seiten des Generalkonsulates der Ukraine in München nichts im Wege stehe. Bei einer gestrigen Vorsprache am Konsulat habe der zuständige Vizekonsul persönlich versichert, dass für die Ausreise der Antragstellerin zu 5 ein neues Passersatzpapier ausgestellt werde.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten des Landratsamtes Bayreuth Bezug genommen.
II.
1. Der zulässige Antrag ist unbegründet.
1.1 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist gemäß § 123 Abs. 5 VwGO statthaft, weil kein Fall des § 80 VwGO vorliegt.
Aufschiebende Wirkung haben in der Regel nur Anfechtungsklagen (vgl. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO). § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, wonach Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung eines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels keine aufschiebende Wirkung haben, ergibt nur in den Fällen des § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG einen Sinn, in denen bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde der Aufenthalt als erlaubt bzw. die Abschiebung als ausgesetzt (§ 81 Abs. 3 AufenthG) oder der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend (§ 81 Abs. 4 AufenthG) gilt. In diesen Fällen entfällt gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG mit der ablehnenden Entscheidung der Ausländerbehörde die Fiktionswirkung der Antragstellung trotz Klageerhebung, d. h. der Ausländer wird gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ergibt dann einen Sinn, weil dadurch die Fiktionswirkung verlängert und die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht aufgeschoben werden kann.
Die Anträge der Antragsteller auf erstmalige Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen vom 21. und 24.03.2016 hatten nicht die Wirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG, weil sich die Antragsteller ohne Besitz eines Aufenthaltstitels nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Ist demzufolge die Vollziehbarkeit ihrer Ausreisepflicht gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht erst mit der Ablehnung ihrer Anträge vom 21./24.03.2016 mit Bescheid vom 29.03.2016 eingetreten, sondern waren die Antragsteller schon vorher vollziehbar ausreisepflichtig, vermag die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 29.03.2016 daran nichts zu ändern, ebenso wenig an der Vollziehbarkeit der rechtskräftigen Abschiebungsandrohungen in den Bescheiden des Bundesamtes vom 18.12.2012 und 07.11.2013. Die Bestimmung des § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geht in diesem Fall ins Leere, weil die Antragstellung vom 21./24.03.2016 den Antragstellern keine Rechtsposition vermittelt hat, welche durch die aufschiebende Wirkung der gegen die ablehnende Entscheidung der Ausländerbehörde erhobenen Klage vorläufig gesichert werden könnte.
Das Ziel, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Anträge auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nicht abgeschoben zu werden, können die Antragsteller daher nur mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erreichen.
1.2 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 123 Abs. 1 VwGO unbegründet, weil die Antragsteller den erforderlichen Anordnungsanspruch auf vorläufige vorübergehende Aussetzung ihrer Abschiebung (Duldung) gemäß § 60a AufenthG nicht glaubhaft gemacht haben (§ 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO).
Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Aus rechtlichen Gründen unmöglich ist die Abschiebung unter anderem dann, wenn die effektive Verfolgung und Geltendmachung eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dadurch vereitelt oder wesentlich erschwert würde. In diesem Fall kommt eine einstweilige Anordnung zur Sicherung der effektiven Rechtsverfolgung in Betracht (BayVGH, Beschluss vom 17.12.2014 – 10 CE 14.2751, juris Rn. 3). Gemäß § 60a Abs. 2b AufenthG soll, solange ein Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG besitzt, minderjährig ist, die Abschiebung seiner Eltern sowie der minderjährigen Kinder, die mit den Eltern in familiärer Lebensgemeinschaft leben, ausgesetzt werden. Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern.
1.2.1 Durch die Abschiebung der Antragsteller wird die effektive Verfolgung und Geltendmachung eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG nicht vereitelt oder wesentlich erschwert, weil ein solcher Anspruch nicht besteht.
Die elfjährige Antragstellerin zu 3 erfüllt nicht den Tatbestand des 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wonach einem jugendlichen oder heranwachsenden geduldeten Ausländer unter bestimmten Voraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll.
Das Attribut „jugendlich“ – zumal im Zusammenhang mit dem Attribut „heranwachsend“ – ist im Sinne der Legaldefinition des § 1 Abs. 2 JGG zu verstehen. Danach ist Jugendlicher, wer vierzehn, aber noch nicht achtzehn, und Heranwachsender, wer achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist. Die Anlehnung an diese Legaldefinition geht eindeutig aus der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 18/4097 (Seite 42) hervor. Auch das Aufenthaltsgesetz selbst unterscheidet ganz offensichtlich zwischen Minderjährigen und Jugendlichen. Die Verwendung des Attributes „jugendlich“ anstelle des in anderen Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes anzutreffenden Begriffes „minderjährig“ wäre nicht nachvollziehbar, wenn ein Mindestalter für den begünstigten Personenkreis des § 25a Abs. 1 AufenthG nur mittelbar durch die Regelvoraussetzung eines vierjährigen erfolgreichen Schulbesuchs (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) festgelegt werden sollte (für den Rückgriff auf § 1 Abs. 2 JGG auch OVG Saarland, Beschluss vom 06. Oktober 2015 – 2 B 166/15, juris Rn. 8).
Erhält demgemäß die Antragstellerin zu 3 keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG, kann den Antragstellern zu 1, 2, 4 und 5 als Eltern und Geschwistern weder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 2 AufenthG erteilt noch ihre Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2b AufenthG ausgesetzt werden.
1.2.2 Die Antragsteller haben nicht glaubhaft gemacht, dass die Abschiebung der Antragstellerin zu 2 wegen krankheitsbedingter Reiseunfähigkeit aus tatsächlichen und demzufolge die Abschiebung der Antragsteller zu 1, 3, 4 und 5 aus rechtlichen Gründen unmöglich ist.
Gemäß § 60a Abs. 2c Sätze 1 und 2 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen; eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, muss der Ausländer durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen.
Soweit die Antragstellerin zu 2 im Antrag vom 24.03.2016 diesbezüglich geltend gemacht hat, in den letzten Tagen nervlich so angegriffen zu sein, dass sie unbedingt ärztliche Hilfe benötige und nicht reisefähig sei, weil sie das Gefühl habe, nicht einmal für sich selbst sorgen zu können, geschweige denn für die restlichen Familienmitglieder bei einer Ausreise oder gar Abschiebung, wurde das angekündigte ärztliche Attest bis heute weder der Ausländerbehörde noch dem Gericht vorgelegt. Auch über den Aufenthalt im „Bezirksklinikum“ Bayreuth seit 24.03.2016, von dem die Antragstellerin zu 2 die Ausländerbehörde mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 29.03.2016 in Kenntnis setzte, liegt bislang keine ärztliche Bescheinigung vor.
Daher bleibt es bei der Vermutung, dass einer Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen.
1.2.3 Die im Arztbericht vom 03.03.2016 dargelegte Therapiebedürftigkeit der linken Hüfte der Antragstellerin zu 2 wegen fortgeschrittener Dysplasie-Coxarthrose begründet weder die Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen noch stellt sie einen dringenden humanitären oder persönlichen Grund für eine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG dar. Nach dem Arztbericht ist entgegen dem Antragsvorbringen eine zweite Operation nicht „dringend indiziert“, im Gegenteil werden, um bei dem jungen Alter der Patientin eine weitere Hüfttotalendoprothese zu vermeiden, verschiedene konservative Maßnahmen angedacht, wie z. B. die Versorgung mit Schuheinlagen, die krankengymnastische Mobilisierung des Gelenkes, ggf. Hüftinfiltrationen oder der Versuch einer multimodalen Schmerztherapie über drei Wochen. Eine lebensnotwendige Behandlungsbedürftigkeit der Antragstellerin zu 2, die im Sinne eines rechtlichen Abschiebungshindernisses oder eines dringenden humanitären oder persönlichen Grundes ihre vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern würde, lässt sich diesem Therapievorschlag nicht entnehmen.
1.2.4 Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse wie die politische Lage im Herkunftsland und eine unzureichende medizinische Versorgung sind nicht Gegenstand des ausländerrechtlichen Verfahrens.
1.2.5 Der Ablauf der Gültigkeitsdauer des Heimreisescheines für die Antragstellerin zu 5 am 26.03.2016 begründet für sie kein tatsächliches und demzufolge für die Antragsteller zu 1, 2, 3 und 4 kein rechtliches Abschiebungshindernis, nachdem laut Mitteilung der Regierung von Oberbayern (Zentrale Passbeschaffung Bayern) die Ausstellung eines neuen Passersatzpapieres vom Generalkonsulat der Ukraine in München bereits zugesichert wurde.
2. Nach alledem ist der Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO, wonach die Antragsteller als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner tragen, abzulehnen.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG (die Hälfte des Auffangstreitwerts je Antragsteller, da es in der Hauptsache nicht nur um die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung, sondern um die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen geht).


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