Verwaltungsrecht

Ausreisepflicht mangels erforderlichen Aufenthaltstitels

Aktenzeichen  M 9 E 17.320

Datum:
8.2.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 14 Abs. 1 Nr. 2, § 50 Abs. 1, Abs. 3, § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 59 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, § 71 Abs. 3
VwGO VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, Abs. 3, Abs. 5

 

Leitsatz

1 Die Bundespolizei ist für Abschiebungen als Ausländerbehörde zuständig, sofern der unerlaubt eingereiste Ausländer im grenznahen Raum aufgegriffen wird.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Antragsteller ist ausreisepflichtig, da er einen erforderlichen Ausreisetitel nicht besitzt, insbesondere gerade nicht im Besitz eines italienischen Aufenthaltstitels ist.  (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Einreise nach Italien ist nur unter den Voraussetzungen des § 50 Abs. 3 S. 1 AufenthG eine taugliche Erfüllung der Ausreisepflicht.  (redaktioneller Leitsatz)
4 Verlängerungs- oder Erteilungsbemühungen, die der Antragsteller in Bezug auf einen italienischen Aufenthaltstitel geltend macht, sind nach der Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt zu beantworten.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,– EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller, ein am … Juni 1988 geborener algerischer Staatsangehöriger, reiste am … Januar 2017 gegen 6.45 Uhr im Zug … … R – M … über S … kommend in das Bundesgebiet ein und wurde nach der Einreise auf Höhe des Bahnhofs G … durch Beamte der Polizeiinspektion Fahndung R … einer polizeilichen Kontrolle unterzogen. Dabei habe er sich nach den Mitteilungen der Antragsgegnerin mit einem gültigen algerischen Reisepass und einer italienischen „Carta D´Identita“ – non valida -„ausgewiesen. Die anschließende EURODAC-Recherche verlief negativ.
Mit E-Mail der Bundespolizeiinspektion R …Leitstelle vom 4. Januar 2017 (16.35 Uhr) an das Bundespolizeipräsidium – Referat … – Polizeikooperationszentrum T …-M … wurde um die Überprüfung des Antragstellers in Italien gebeten, insbesondere ob der Antragsteller im Besitz eines Aufenthaltstitels ist.
Mit E-Mail vom 4. Januar 2017 (18.25 Uhr) teilte das Referat … des Bundespolizeipräsidiums – Referat … – Polizeikooperationszentrum T …-M … mit: Die italienische Polizei teile nach Überprüfung mit, dass der Antragsteller nicht im Besitz eines gültigen italienischen Aufenthaltstitels sei. Der zuletzt auf den Antragsteller ausgestellte Titel, eine „Permesso“, sei am 4. Januar 2016 abgelaufen. Der Antragsteller sei in Italien polizeilich unbekannt.
In der Vernehmung zum Vorwurf der unerlaubten Einreise sowie des Erschleichens von Leistungen gab der Antragsteller unter anderem an: Er habe seinen italienischen Ausweis in W … an Silvester 2016/2017 verloren. Seine Freundin habe ihn wiedergefunden. Er habe einen „PERMESSO DI SOGGIORNO“ und lebe schon 3 Jahre in Italien – seit 2013. Er habe jetzt nach W … fahren wollen, um seinen Ausweis zu holen. Er habe für 24 Stunden bleiben, den „Permesso“ holen und dann zurück nach Italien fahren wollen. Er sei das erste Mal 2011 in Deutschland eingereist und habe Asyl beantragt; 2013 sei er nach Italien gegangen. Über den Stand seines Asylverfahrens in Deutschland wisse er nichts. Er habe einem Rechtsanwalt 250,– EUR gegeben; der habe dann „alles mit der Ausländerbehörde geklärt“ und das Asylverfahren „gestoppt“.
Auf die Frage, warum er in Deutschland Asyl beantragt und es dann wieder gestoppt habe, gab der Antragsteller an: Er habe in Deutschland so viele Freundinnen und das sei ihm zu viel; deswegen habe er aus Deutschland weggewollt.
Auf die Frage, woher er den italienischen „Permesso“ habe, gab der Antragsteller an, er habe bei einer alten Frau gearbeitet, eingekauft und sauber gemacht; er sei so eine Art „Pflegehelfer“ gewesen. Diese Frau habe ihm geholfen, den „Permesso“ zu beantragen.
Auf die Frage, wie lange der „Permesso“ noch gültig sei, gab der Antragsteller an: Ungefähr 1 Jahr und 8 Monate; er habe den „Permesso“ am 1. Mai 2013 bekommen.
Auf die Frage nach seinen vielen Alias-Personalien in Deutschland gab der Antragsteller an: Er habe bei der Asylantragstellung gesagt wie er heiße, aber er könne schlecht schreiben.
Auf die weitere Frage, was passieren würde, wenn er wieder in sein Heimatland zurückmüsse, gab der Antragsteller an: Er besuche jedes Jahr Mama und Papa dort.
Auf Nachfrage, was denn nun passieren würde, wenn er nach Algerien zurück müsse, gab der Antragsteller an: In Algerien sei alles gut. Er komme aus Algier und „Mama“ und „Papa“ lebten auch dort.
Auf die Frage, ob er in Algerien bleiben würde, wenn er dorthin abgeschoben werden würde, gab der Antragsteller an: Nein. Er würde zurück nach Italien kommen; er arbeite ja manchmal dort.
Auf die Frage, ob er sich für Abschiebungsmaßnahmen zur Verfügung halten würde, gab der Antragsteller weiter an: Nein.
Auf die nochmalige Nachfrage, ob sich der Antragsteller zur Verfügung halten würde, wenn er in sein Heimatland oder nach Italien abgeschoben werden würde, gab der Antragsteller an: Er würde nach Italien zurückgehen. Aber nicht nach Algerien.
Im Übrigen wird auf die Niederschrift über die Vernehmung Bezug genommen.
Im Anschluss an das Anhalten und die Befragung wurde der Antragsteller vorläufig festgenommen und zur Dienststelle der Bundespolizeiinspektion R* … verbracht.
Die Recherche in den polizeilichen Fahndungssystemen ergab, dass der Antragsteller bereits 13-mal erkennnungsdienstlich behandelt wurde, 6 Kriminalakten-Nachweise hat und unter 16 Alias-Personalien in „INPOL“ bekannt ist.
Nach Abschluss der polizeilichen Sachbearbeitung wurde für den Antragsteller die Abschiebehaft beantragt.
Mit Bescheid über die Feststellung der Ausreisepflicht, die Festsetzung der Ausreisefrist und die Androhung der Abschiebung vom 4. Januar 2017 wurde dem Antragsteller gegenüber festgestellt, dass er verpflichtet ist, sich nach Algerien zu begeben (§ 50 Abs. 3 AufenthG). Von einer Fristgewährung zur freiwilligen Ausreise wird ausnahmsweise abgesehen, da dies unter Betrachtung der Gesamtumstände zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange zwingend erforderlich ist. Für die Festsetzung der Ausreisefrist und die Androhung der Abschiebung wurde die sofortige Vollziehung angeordnet.
Zur Begründung ist im Wesentlichen angegeben, dass der begründete Verdacht bestehe, dass der Antragsteller nicht freiwillig aus Deutschland ausreisen werde.
Im Übrigen wird auf den Bescheid der Bundespolizeiinspektion R* … vom 4. Januar 2017 Bezug genommen.
Mit Bescheid – ebenfalls vom 4. Januar 2017 – wurde dem Antragsteller gegenüber die Abschiebung nach Algerien gemäß § 58 Abs. 1 AufenthG verfügt. Eine Ausreisefrist wurde nicht gewährt. Die freiwillige Ausreise sei nach Würdigung der Gesamtumstände nicht gesichert. Die Überwachung erscheine aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erforderlich.
Im Übrigen wird auf diesen Bescheid ebenfalls Bezug genommen.
Der Antragsteller hat jeweils eine Mehrausfertigung der beiden Bescheide erhalten. Die Unterschrift zum Nachweis hierfür hat er jedoch mit der Begründung verweigert, dass er nicht nach Algerien zurückgehe; die Verweigerung ist auf den Bescheiden jeweils vermerkt.
Mit Schreiben vom 5. Januar 2017 an das Amtsgericht R … beantragte die Bundespolizeiinspektion R* … die Anordnung der Freiheitsentziehung.
Mit Beschluss des Amtsgerichts R … vom 5. Januar 2017 wurde gegen den Antragsteller Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet (Ziff. I.). Die Haft beginnt mit der Festnahme des Betroffenen und endet spätestens mit Ablauf des 2. Februar 2017 (Ziff. II.).
Auf die Gründe dieses Beschlusses wird Bezug genommen.
In der Folge wurde die Abschiebungshaft weiter verlängert: sie dauert aktuell noch an.
Mit Schreiben vom 24. Januar 2017 ließ der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten Widerspruch gegen die Verfügung der Bundespolizeiinspektion R … vom 4. Januar 2017 erheben.
Auf die Begründung dieses Widerspruchs wird Bezug genommen.
Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 24. Januar 2017 ließ der Antragsteller einen „Antrag auf einstweiligen Rechtschutz (Abschiebungsschutzantrag)“ stellen (Eingang beim Verwaltungsgericht München per Telefax am 24.1.2017) und beantragen,
dem Antragsgegner zu gebieten, von Abschiebemaßnahmen gegen den Antragsteller bis zur Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde über die Zulässigkeit der beabsichtigten Abschiebung abzusehen.
Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Verfügung der Polizeiinspektion R* … sei mit heutigem Schreiben des Bevollmächtigten des Antragstellers entgegengetreten worden, letztlich mit dem Antrag, von einer Abschiebung des Antragstellers abzusehen. Da ausweislich des Haftbeschlusses allerdings die Abschiebung des Antragstellers bereits vorbereitet und bis spätestens 2. Februar 2017 durchgeführt werden solle, erscheine das Abwarten auf eine Reaktion der Behörde nicht zumutbar, sodass der Antragsteller mit vorliegendem Antrag um einstweiligen Rechtsschutz mit dem Ziel einer Aussetzung der Abschiebung nachsuche.
Ausweislich der nebst beglaubigter deutscher Übersetzung beigefügten Unterlagen der italienischen Einwanderungsbehörde ergebe sich, dass der Antragsteller am 15. Dezember 2016 unter Beifügung sämtlicher Unterlagen die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bei dem Polizeipräsidium S … – Einwanderungsbehörde in … S … beantragt habe. Zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei er unter Mitteilung eines entsprechenden gesicherten Antragsschlüssels bereits für den 10. Februar 2017 um 10.15 Uhr vorgeladen worden. Schließlich habe der Antragsteller in diesem Zusammenhang eine Bescheinigung über die Meldung eines abhängigen Arbeitsverhältnisses vorgelegt, die unter anderem dessen Steuernummer sowie die Tatsache ausweise, dass er im Besitz einer bis zum 7. Juni 2025 gültigen Identitätskarte mit der Nr. … sei. Insofern sei nicht nachvollziehbar, dass die Identitätskarte des Antragstellers abgelaufen sein solle.
Darüber hinaus werde geltend gemacht, dass die Einbestellung zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis durch die zuständige italienische Behörde ähnliche Rechtswirkungen wie eine so genannte „Fiktionsbescheinigung“ nach deutschem Recht haben dürfte. Ausweislich der beigefügten Meldebescheinigung wohne der Antragsteller in der „… … … 17“ in E … in der Provinz S … Da er dort einem geregelten Arbeitsverhältnis nachgehe, verfüge er über einen berechtigten Aufenthalt in Italien und sei berechtigt, mit den ihm nachweislich zur Verfügung stehenden italienischen Bescheinigungen und Ausweisunterlagen innerhalb der EU zu reisen (Art. 2 FreizügG/EU).
Darüber hinaus werde geltend gemacht, dass dem Antragsteller unter diesen Umständen zumindest eine Ausreisefrist gemäß § 59 Abs. 1 AufenthG zu gewähren gewesen wäre. Im Übrigen sei er zu einer freiwilligen Ausreise nach Italien bereit, wozu er offensichtlich weder angehört noch befragt worden sei.
In Anbetracht der vorstehenden Darlegungen sei auch die Argumentation des Amtsgerichts unzutreffend, der Antragsteller habe sich einer Abschiebung entzogen, indem er untergetaucht und für die Behörden in der Folgezeit nicht mehr greifbar gewesen sei.
Der Antragsteller sei nach seiner Ausreise ordnungsgemäß in Italien gemeldet und insofern jederzeit erreichbar. Schon gar nicht könne die hieraus von dem Amtsgericht gezogene Folgerung Bestand haben, der Betroffene habe damit in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass er nicht freiwillig ausreisen werde.
Dies alles mache deutlich, dass im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Abschiebung des Antragstellers nach Italien die Gefahr bestehe, dass hierdurch die Rechte des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert würden, sodass die beantragte Anordnung geboten erscheine.
Rein vorsorglich werde hilfsweise beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom heutigen Tage gegen die Verfügung der Polizeiinspektion R* … vom 4. Januar 2017 anzuordnen.
Im Übrigen wird auf den Schriftsatz samt Anlagen Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 26. Januar 2017 nahm die Antragsgegnerin Stellung.
Aufgrund der vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen und dessen algerischer Staatsangehörigkeit – belegt durch den gültigen algerischen Reisepass – sei gegen den Antragsteller die Abschiebung nach Algerien angedroht worden. Aufgrund der in der Vernehmung zum Ausdruck gebrachten Weigerungshaltung, freiwillig nach Algerien zurückzukehren, sei diese Verfügung für sofort vollziehbar erklärt und die Abschiebung nach Algerien verfügt worden.
Aufgrund vorliegender Fluchtgefahr sei bei dem Amtsgericht R* … Haft zur Sicherung der Abschiebung beantragt und diese mit Beschluss vom 5. Januar 2017 mit einer Geltungsdauer bis zum 2. Februar 2017 auch beschlossen worden.
Anschließend sei der Antragsteller in die Abschiebehafteinrichtung nach M … verbracht worden. Durch die Bundespolizeiinspektion R … sei umgehend über das Bundespolizeipräsidium die Rückführung des Antragstellers nach Algerien eingeleitet worden. Die Rückführung sei für den 25. Januar 2017 per Flug nach Algier ab F … um 14.30 Uhr geplant gewesen. Diese sei jedoch an dem erheblichen Widerstand des Antragstellers beim Einsteigen in das Flugzeug und der darauf folgenden Weigerung des Piloten, ihn mitzunehmen, gescheitert. Die Rückführmaßnahme wurde daraufhin abgebrochen und der Antragsteller in die Abschiebehafteinrichtung I … gebracht. Von dort aus sei er am 26. Januar 2017 wieder in die Abschiebehafteinrichtung nach M* … gebracht worden.
Die von dem Bevollmächtigten des Antragstellers erstmals mit seinem Widerspruch an die Behörde übermittelten Dokumente würden durch die Bundespolizeiinspektion R … über das Bundespolizeipräsidium – Referat … – hinsichtlich eines bestehenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen für Italien überprüft. Der Zeitbedarf hierfür betrage laut Auskunft des Bundespolizeipräsidiums etwa 1 Woche. Durch die Bundespolizeidirektion M … werde über den Widerspruch entschieden, sobald die Bestätigung der Echtheit der Dokumente/Aufenthaltsberechtigung des Antragstellers für Italien oder das Gegenteil vorliege.
Weiterhin werde durch die Bundespolizeiinspektion R … umgehend ein Antrag auf Verlängerung der Haft zur Sicherung der Abschiebung beantragt. Eine Abschiebung des Betroffenen erfolge erst, wenn sein aufenthaltsrechtlicher Status in Italien eindeutig geklärt sei.
Mit Schreiben vom 7. Februar 2017 nahm die Antragsgegnerin noch einmal Stellung und bekundete, dass nunmehr die Abschiebung nach Algerien erfolgen solle, weil aus Italien keine Auskunft zu erhalten sei. Auf das Schreiben wird Bezug genommen.
Der Antragsteller ließ mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom Februar 2017 hierauf erwidern; auf den Schriftsatz wird Bezug genommen.
Im Übrigen wird auf die Gerichtsakten, die Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die vorgelegten Unterlagen Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Zur Klarstellung wird darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung des Freistaats Bayern in der Antragsschrift als Antragsgegner entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht schadet, da der richtige Antragsgegner der Antragsschrift im Wege der Auslegung hinreichend aussagekräftig zu entnehmen ist
1. Der Hauptantrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, von Abschiebemaßnahmen gegen den Antragsteller bis zur Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde über die Zulässigkeit der beabsichtigten Abschiebung abzusehen, kann schon deswegen keinen Erfolg haben, weil diese Verpflichtung bereits erfüllt ist. Denn hier besteht eine Zuständigkeit der Bundespolizei auf der Grundlage von § 71 Abs. 3 AufenthG. Gemäß § 71 Abs. 3 Nr. 1 lit. a und lit. b AufenthG ist die Bundespolizei für Abschiebungen zuständig, sofern der unerlaubt eingereiste Ausländer im grenznahen Raum (d.h. innerhalb von 30 km Entfernung von der Grenze) aufgegriffen wird, was hier der Fall ist; eines unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs mit der unerlaubten Einreise bedarf es nicht mehr (vgl. BGH, B.v.09.10.2014 – V ZB 127/13 -, juris Rn. 13), unabhängig davon liegt dieser Zusammenhang hier vor. Das heißt, es ist bereits die zuständige Ausländerbehörde tätig geworden.
2. Auch eine vom Wortlaut des gestellten Antrages abweichende Auslegung des Begehrens des Antragstellers führt nicht zu einem anderen Ergebnis.
Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO bestimmt das Gericht bei dem Erlass einer einstweiligen Anordnung nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zieles erforderlich sind. Danach ist hier zu prüfen, ob der zweckentsprechend auszulegende Antrag des Antragstellers nicht vielmehr beinhalten soll, dass der Antragsgegnerin aufgegeben wird, generell von weiteren Abschiebemaßnahmen gegen den Antragsteller abzusehen.
Der so verstandene Antrag hat jedoch ebenfalls keinen Erfolg, denn statthafter Rechtsbehelf insofern ist der vom Bevollmächtigten des Antragstellers auch – hilfsweise – gestellte Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Widerspruchs.
3. Der Hilfsantrag, über den zu entscheiden ist, weil die innerprozessuale Bedingung, unter der er gestellt ist, nämlich die Erfolglosigkeit des Hauptantrags, eingetreten ist, ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Der Antrag auf Aussetzung des Sofortvollzugs der Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 4. Januar 2017 nach § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ist zulässig. Einen gesetzlichen Sofortvollzug von Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung wie beispielsweise § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 VwZVG kennt das Verwaltungsvollstreckungsrecht des Bundes nicht.
Die formellen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit des Sofortvollzugs in Form der gesonderten Begründung nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO sind erfüllt.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Aussetzung des Sofortvollzugs der Abschiebungsandrohung ist aber unbegründet. Denn das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung der Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 4. Januar 2017 überwiegt gegenüber dem privaten Interesse des Antragstellers, bis zu einer Entscheidung über seinen Widerspruch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen.
Der Antragsteller ist vollziehbar ausreisepflichtig.
Der Antragsteller ist ausreisepflichtig gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG, da er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt. Ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen – SDÜ kommt nicht in Betracht, da der Antragsteller gerade nicht im Besitz eines gültigen italienischen Aufenthaltstitels ist; der italienische Aufenthaltstitel ist nach den Feststellungen der Antragsgegnerin abgelaufen (dazu siehe sogleich). Dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) unterfällt der Antragsteller dagegen entgegen der Auffassung seines Bevollmächtigten als sog. Drittstaater ohnehin nicht; weder ist er Unionsbürger noch Familienangehöriger. Schließlich hat er keinen Anspruch aus § 38a AufenthG, da dessen Voraussetzungen ebenfalls nicht zutreffen, unabhängig davon, dass der Antragsteller keinen entsprechenden Antrag gestellt hat.
Die Ausreisepflicht ist vollziehbar aufgrund der unerlaubten Einreise des Antragstellers, § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
Der Erlass der Abschiebungsandrohung ohne Fristbestimmung ist nicht zu beanstanden, § 59 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG.
Der Antragsteller hat unbestreitbar angegeben, dass er sich der Abschiebung nach Algerien entziehen will (vgl. die Angaben in der Beschuldigtenvernehmung, Bl. 89 der Gerichtsakten).
Daran ändert sich nichts dadurch, dass sich der Antragsteller nach seinen sowie den Angaben seines Bevollmächtigten einer Abschiebung nach Italien nicht entziehen würde. Denn eine Einreise nach Italien ist nur unter den Voraussetzungen des § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine taugliche Erfüllung seiner Ausreisepflicht. Die Voraussetzungen von § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG liegen jedoch nicht vor, da der Antragsteller nicht ausreichend belegt hat, dass ihm die Einreise nach und der Aufenthalt in Italien erlaubt sind.
Es steht hinreichend fest, dass der italienische Aufenthaltstitel des Antragstellers abgelaufen ist. Das ergibt sich aus den Feststellungen der Bundespolizei, insbesondere aus der eingeholten Auskunft der italienischen Behörden, wonach der Aufenthaltstitel des Antragstellers am 4. November 2016 abgelaufen ist (Bl. 74 der Gerichtsakten). Soweit der Bevollmächtigte des Antragstellers in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass es nicht nachvollziehbar sei, dass die Identitätskarte des Antragstellers abgelaufen sein soll, ändert das nichts. Denn es kommt nicht auf die Identitätskarte an; in Bezug auf diese spricht zwar tatsächlich viel dafür, dass entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin diese nicht abgelaufen ist (die Antragsgegnerin hat in ihrer Stellungnahme vom 26. Januar 2017 geltend gemacht, die „Carta d’identita“ sei „non valida“; aus der von der Antragsgegnerin vorgelegten Faxkopie geht jedoch hervor, dass dort steht: „Non valida per l’espatrio“, also: „Nicht gültig für Reisen ins Ausland“). Entscheidend ist aber nicht die Gültigkeit der Identitätskarte, also der Ausweis, sondern die Erlaubtheit des Aufenthalts, was sich daraus beantwortet, ob der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel („permesso di soggiorno“) besitzt. Das ist aber nicht der Fall. Dass insoweit die Feststellungen der Antragsgegnerin, die sie über das Referat … des Bundespolizeipräsidiums – Referat … – Polizeikooperationszentrum T* …-M* … eingeholt hat, nicht stimmen sollten, ist nicht ersichtlich, zumal sich der Umstand, dass der Aufenthaltstitel des Antragstellers zwischenzeitlich und hinsichtlich des Datums (4. November 2016) übereinstimmend mit der Feststellung der Antragsgegnerin abgelaufen ist, auch aus der vom Bevollmächtigten des Antragstellers vorgelegten Anlage K 6 (Bl. 56 der Gerichtsakte) ergibt.
Die Verlängerungs- oder Erteilungsbemühungen, die der Antragsteller in Bezug auf einen italienischen Aufenthaltstitel geltend macht, vermögen ebenfalls nichts am Ergebnis zu ändern. Das ergibt sich aus zwei unabhängig voneinander Geltung beanspruchenden Überlegungen: Erstens ist der Antragsgegnerin darin recht zu geben, dass die vorgelegten, nicht legitimierten Unterlagen nicht glaubhaft sind für das, was ihnen von Seiten des Antragstellers beigelegt werden soll. Beispielsweise ist die mit den vorgelegten Anlagen zur Antragsschrift geltend gemachte Grundlage der (behaupteten) beantragten Verlängerung des Aufenthalts in Italien, nämlich eine Erwerbstätigkeit, nach den Angaben des Antragstellers vollkommen unplausibel. Während der Antragsteller noch während der Beschuldigtenvernehmung angegeben hat (Bl. 89 der Gerichtsakten), er arbeite als eine Art Pflegehelfer für eine alte Frau, „die ihm geholfen habe, den permesso zu bekommen“, wird in dem vorgelegten Antragsformular (Anlage K 6 zur Antragschrift) eine 22-Jährige als vorgeblicher Arbeitgeber benannt. Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Antragsteller in der Beschuldigtenvernehmung angegeben hat, er habe die Arbeit bei der alten Frau zwischenzeitlich aufgegeben, sind diese Angaben insgesamt in einem hohen Maß ungereimt.
Zweitens ist der Umstand, ob der Antragsteller anstatt nach Algerien abgeschoben zu werden, eine vorrangige Einreisemöglichkeit nach Italien geltend machen kann, nach der Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt, d.h. im Zeitpunkt der Ergehens dieses Beschlusses zu beantworten. In diesem Zeitpunkt steht aber die Möglichkeit der Einreise nach Italien selbst unter Zugrundelegung der für den Antragsteller gemachten Angaben nicht fest. Die Frage, welche Rechtswirkungen ein in Italien gestellter Verlängerungs- oder Erteilungsantrag hat, ist, da es um die Wirkungen ausländischen Rechts geht, nicht Rechts-, sondern Tatsachenfrage. Jedenfalls für das Antragsverfahren, in dem ein Strengbeweis dieses Umstands nicht zu erreichen ist, müsste der Antragsteller nicht nur die Antragstellung in Italien geltend machen, sondern belegen, dass diese – als solche – ihm bereits ein (Wieder-) Einreiserecht nach Italien verleiht. Daran fehlt es jedoch.
Schließlich ergibt auch eine Abwägung der betroffenen Interessen – das Suspensivinteresse des Antragstellers mit dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin -, dass letzteres vorgeht. Abzuwägen sind hier die Folgen, wenn entweder dem Antrag jetzt stattgegeben würde, sich später aber die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung herausstellen würde, oder wenn der Antrag jetzt abgelehnt würde, sich später aber die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung herausstellen würde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Abschiebungsandrohung und die darauf folgende Abschiebung, § 58 AufenthG, sich nicht dazu verhalten, ob der Antragsteller in Deutschland bleibt. Denn für einen Aufenthalt in Deutschland hat der Antragsteller weder ein Aufenthaltsrecht noch macht er ein solches geltend. Es geht letztlich um die Frage, ob er nach Algerien oder „nur“ nach Italien abgeschoben wird. Eine Abschiebung in sein Heimatland Algerien trifft den Antragsteller dabei nicht unverhältnismäßig schwer. Er macht selbst geltend (siehe Beschuldigtenvernehmung Bl. 89 der Gerichtsakten), er besuche jedes Jahr Mutter und Vater in Algerien, außerdem sei dort „alles gut“. Ein Zuwarten dagegen, ob der Antragsteller irgendwann in der Zukunft ein Aufenthaltsrecht für Italien nachweisen kann und demzufolge die Möglichkeit gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG besteht, würde dazu führen, dass der Antragsteller seine bestehende Ausreisepflicht erst einmal nicht erfüllen müsste, zudem bestünde die unter Berücksichtigung der gesamten Aktivitäten des Antragstellers nicht fernliegende Gefahr, dass der Antragsteller untertaucht und ein Vollzug der Ausreisepflicht später auch dann nicht mehr möglich ist, wenn sich herausstellen sollte, dass keine wirkliche Option einer Rückkehr nach Italien besteht.
Nach alledem ist der Antrag abzulehnen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht, unter Berücksichtigung dessen, dass über zwei Anträge entschieden wird, auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, dort Nr. 8.3 und 1.5 Satz 1.


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