Verwaltungsrecht

Aussetzung der Vollziehung- Corona -Dublin

Aktenzeichen  B 2 K 20.50119

Datum:
15.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 23958
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5,Abs. 7 S.1, § 60a
AsylG § 24 Abs. 1 S. 1,  § 34a Abs. 1 S. 1
VwGO § 113 Abs. 3 S. 1, § 117 Abs. 3 S. 2

 

Leitsatz

Zur Prüfung einer etwaigen Verpflichtung der Beklagten zum Selbsteintritt und dem Bestehen von Abschiebungshindernissen sind weitere Ermittlungen erforderlich und diese sind zuvorderst durch die hierfür eigens geschaffene Fachbehörde vorzunehmen.

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom …wird aufgehoben.
2. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar

Gründe

Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheides und das fünfzehnmonatige Einreise- und Aufenthaltsverbot in Nr. 4 des Bescheides sind rechtswidrig und verletzen die Kläger gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in ihren Rechten (1). Bezüglich der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig und der Ablehnung von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 5 und Absatz 7 Satz 1 AufenthG hält das Gericht angesichts der Corona-Pandemie, die sämtliche Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft einschließlich Italiens erfasst hat, eine weitere Sachaufklärung für erforderlich. Das Gericht hebt deshalb in Anwendung von § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO den Bescheid auf, weil zur Prüfung einer etwaigen Verpflichtung der Beklagten zum Selbsteintritt und dem Bestehen von Abschiebungshindernissen weitere Ermittlungen erforderlich sind und diese zuvorderst durch die hierfür eigens geschaffene Fachbehörde vorzunehmen sind. Es ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Dublin-System vom Bundesamt aus dem angefochtenen Bescheid vom … vollständig ausgeblendet worden sind.
1. Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Hiernach ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Abschiebung in einen anderen Staat, der nach Maßgabe der Dublin-III-VO zuständig ist, an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Die Durchführbarkeit der Überstellung muss daher nicht nur rechtlich zulässig – vgl. § 60a AufenthG – sondern zeitnah auch tatsächlich möglich sein (vgl. Pietzsch in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 24. Auflage Stand 1. Mai 2019, § 34a AsylG, Rn. 9; Müller in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 34a AsylG, Rn. 11). Vorliegend kann im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) der gerichtlichen Entscheidung jedoch nicht die Feststellung getroffen werden, dass eine Überstellung der Klägerinnen nach Italien zeitnah oder auf absehbare Zeit tatsächlich möglich ist. Die Beklagte selbst setzt, wie dem Gericht aus zahlreichen anderen Verfahren bekannt ist und wie es auch im gegenständlichen Verfahren geschehen ist, Dublin-Überstellungen derzeit generell und auf unbestimmte Zeit aus. Die Feststellung, Dublin-Überstellungen seien derzeit nicht zu vertreten, lässt nicht erkennen, ob die Überstellung aus inlandsbezogenen oder zielstaatsbezogenen Gründen nicht erfolgt und welche Vorstellungen beim Bundesamt über die Wiederaufnahme von Dublin-Überstellungen nach Italien bestehen. Die Aussetzung der Vollziehung steht lediglich allgemein unter dem Vorbehalt des Widerrufs. In der Folge fehlt auch der Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids mit der Entscheidung über ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot die rechtliche Grundlage. Denn diese Entscheidung kann das Bundesamt erst treffen, wenn eine Abschiebungsandrohung bzw. Anordnung erlassen werden kann, vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1, § 75 Nr. 12 AufenthG.
2. Die für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig maßgebliche Frage der innereuropäischen Zuständigkeit kann ebenso wie das Bestehen von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ohne Aufklärung der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das italienische Asylsystem nicht abschließend beurteilt werden. In § 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ausdrücklich geregelt, dass das Bundesamt – als eigens hierfür geschaffene Fachbehörde – den Sachverhalt klärt und die erforderlichen Beweise erhebt. Davon kann im angefochtenen Bescheid keine Rede sein, denn in dem vom … stammenden Bescheid kommt die Corona-Pandemie mit keinem einzigen Wort vor. Das Bundesamt kann die augenblickliche, im Dublin-System nicht explizit geregelte Frage höherer Gewalt nicht einfach dadurch umgehen, dass Bescheide unter vollständiger Ausblendung der tatsächlichen Verhältnisse in den Mitgliedsstaaten erlassen und die Auswirkungen der Corona-Pandemie über eine anschließende Aussetzung der Vollziehung kompensiert werden. Es ist nicht Aufgabe der Verwaltungsgerichte, anstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im sich regelmäßig anschließenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu gegebener Zeit die hierfür notwendige Sachaufklärung zu betreiben. Das behördliche Vorgehen dient scheinbar dazu, den drohenden Ablauf von Überstellungsfristen zu verhindern, nachdem ein Regelungsmechanismus für Sondersituationen wie Corona in der Dublin III-VO nicht verankert ist. Die existierenden Fristen sind jedoch eigens dafür geschaffen, um möglichst zügig Klarheit über die innereuropäische Zuständigkeit zu schaffen und dauerhaft ungeklärte Verhältnisse zu unterbinden. Nachdem im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung weitere Sachaufklärung erforderlich und diese sachdienlich durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als eigens hierfür geschaffener Fachbehörde zu leisten ist, macht das Gericht von der Möglichkeit des § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO Gebrauch und hebt den angefochtenen Bescheid auf.
Die Kostenentscheidung des nach § 83 b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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