Verwaltungsrecht

Ausweisung eines assoziationsberechtigten “faktischen Inländers” wegen schwerer Straftaten

Aktenzeichen  Au 6 K 20.1540

Datum:
6.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 41396
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 5, § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a lit. a, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 9, § 55 Abs. 1 Nr. 1
ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, Art. 7 S. 1, Art. 14 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Ein versuchtes Tötungsdelikt in Tateinheit mit einer gefährlichen Körperverletzung stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Mitglieder und damit für die öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Familiäre Beziehungen eines erwachsenen Ausländers zu anderen Familienmitgliedern außerhalb der Kernfamilie genießen geringeren Schutz und sind daher im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung weniger stark zu gewichten als die Beziehung zum Ehepartner und zu Kindern. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist unbegründet, da der angefochtene Bescheid vom 19. August 2020 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der Befristungsentscheidung und der Abschiebungsandrohung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18).
1. Die vom Kläger angefochtene Ausweisung ist rechtmäßig.
Die Ausweisung ist nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG gerechtfertigt und unerlässlich, weil vom Kläger auf Grund seines persönlichen Verhaltens nach wie vor und damit gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit seinem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) ist das Verwaltungsgericht der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und die Ausweisung auch nicht gegen höherrangige Normen verstößt.
Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers beurteilt sich nach §§ 53 ff. AufenthG, wobei der Kläger zusätzlich nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 aufgrund einer über dreijährigen ordnungsgemäßen Beschäftigung dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörte und daher in den Genuss eines Assoziationsrechts gelangt ist. Aufgrund der Arbeitstätigkeit des Vaters des Klägers und dem ununterbrochenen Aufenthalt des Letzteren in Deutschland seit seiner Geburt, folgt eine Assoziationsberechtigung zudem aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Allerdings ist die Ausweisung auch danach nicht unverhältnismäßig.
Die Ausweisung setzt als gebundene und gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 23) tatbestandlich voraus, dass der Ausländer durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig schwerwiegend gefährdet, diese Gefahr ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung zur Wahrung der gefährdeten Interessen in der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich ist. Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem dieser Schutzgüter eintreten wird (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 23). Davon ist vorliegend auszugehen.
a) Ein hinreichender Ausweisungsanlass ist die Straffälligkeit des Klägers.
Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend, da er schwere Straftaten begangen hat und eine Wiederholungsgefahr zum Entscheidungszeitpunkt weiterbesteht.
Ein hinreichender Ausweisungsanlass des Klägers folgt sowohl aus § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als auch § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. a) AufenthG, weil der Kläger wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Führen einer verbotenen Waffe zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist (LG, U.v. 28.9.2017 – … – Behördenakte Bl. 190 ff.). Ein versuchtes Tötungsdelikt in Tateinheit mit einer gefährlichen Körperverletzung stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Mitglieder (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/282 Rn. 15) und damit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar.
b) Es ist eine Tatwiederholung konkret zu befürchten, da die vom Kläger ausgehende Gefahr bis heute andauert.
Es geht eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom Kläger aus, denn die wiederholte Verübung von Betäubungsmittel- und Gewaltkriminalität sowie die bislang unbewältigte Gewaltdelinquenz begründen die konkrete Gefahr einer erneuten Rück- und Straffälligkeit nach einer Haftentlassung. Dies folgt insbesondere aus der Vielzahl an begangenen Taten des Klägers, der weiterhin nicht erfolgreich abgeschlossenen therapeutischen Aufarbeitung seiner tatmotivierenden Persönlichkeitsstruktur sowie dem aufgrund mehrerer disziplinarischer und auch strafrechtlicher Vergehen in den Haftanstalten offenkundig mangelnden Eindruck des Klägers vom Strafvollzug.
Bei der Ausweisungsentscheidung haben die Verwaltungsgerichte auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen eine eigene Beurteilung und Prognoseentscheidung vorzunehmen, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – juris Rn. 8; BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17). Allein ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die eine Wiederholungsgefahr entfallen ließe (BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – juris Rn. 9). Wohlverhalten kommt insbesondere dann nur begrenzte Aussagekraft zu, wenn es unter der Kontrolle des Strafvollzugs und unter dem Druck eines Ausweisungsverfahrens gezeigt wird (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12).
Bei bedrohten Rechtsgütern von hervorgehobener Bedeutung sind im Rahmen der tatrichterlichen Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der mögliche Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 16; BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 9). Die durch den Kläger wiederholt verletzte körperliche Unversehrtheit und das mit der Tat vom 1. Januar 2017 angegriffene Leben eines anderen Menschen zählen in der Wertordnung des Grundgesetzes im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu den wichtigsten Rechtsgütern, deren Verletzung zu besonders gravierenden körperlichen wie psychischen Schäden führen kann und die daher staatliche Schutzpflichten auslösen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 15). Diese Rechtsgüter wurden ausweislich der Feststellungen des Urteils des Landgerichts … vom 28. September 2017 (…) vom Kläger vorsätzlich verletzt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind daher geringere Anforderungen zu stellen.
Die im Rahmen der eigenständigen ausländerrechtlichen Prognose der Wiederho lungsgefahr auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, führt unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17; BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – juris Rn. 14) zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr: 39 aa) Der Kläger ist Wiederholungstäter, da er einschlägig wegen vorsätzlicher Körperverletzungs- und Betäubungsmitteldelikte verurteilt worden ist (vgl. oben).
bb) Zudem besteht bei dem Kläger ein bis zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht erfolgreich therapiertes Gewaltproblem, das maßgeblich die begangenen Körperverletzungs- und das (versuchte) Tötungsdelikt prägt. Zwar befand sich der Kläger ausweislich des Führungsberichts vom 6. Juli 2018 seit dem 7. Juni 2018 in der sozialtherapeutischen Abteilung für Gewalt- und Sexualstraftäter der JVA. Allerdings musste diese während ihrer Intensivphase bereits nach wenigen Monaten am 5. Dezember 2018 aufgrund einer Straffälligkeit des Klägers im Haftvollzug – und folglich in selbstverantworteter Weise – abgebrochen werden (vgl. Führungsbericht vom 1. März 2019, Behördenakte Bl. 321). Eine erneute Therapie in der JVA … wurde schließlich wiederum wegen eines disziplinarisch geahndeten Zwischenfalls innerhalb der Wohngruppe des Klägers vorzeitig beendet (vgl. Führungsbericht vom 5. August 2020, Behördenakte Bl. 387).
cc) Nicht aufgearbeitet ist schließlich auch der seit mehreren Jahren vielfach geahn dete Drogenkonsum des Klägers, der auch Bezüge zu dessen Gewalttaten aufweist: Ausweislich des Urteils des Landgerichts … vom 28. September 2017 (…) sei bei dem versuchten Tötungsdelikt des Klägers eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit aufgrund des vorangegangenen polytoxischen Konsums von Cannabis, Ecstasy, Amphetamin und Kokain nicht auszuschließen gewesen. Darüber hinaus wurde der Kläger zweimal wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz – davon einmal unter dem Eindruck des Strafvollzugs – strafrechtlich verurteilt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Kläger regelmäßig Beratungsgespräche mit einer externen Suchtberatung wahrnimmt und nach dem Führungsbericht vom 19. Juli 2021 eine ambulante Suchttherapie nach Haftentlassung ausreichend sei. Eine solche ist schließlich zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt weder begonnen noch abgeschlossen; zudem ist ausweislich des vorgenannten Führungsberichts vom 19. Juli 2021 die Bearbeitung der bestehenden Gewaltproblematik des Klägers vorrangig (vgl. Gerichtsakte Bl. 103). Selbiges gilt auch hinsichtlich der erst beabsichtigten Psychotherapie nach einer Haftentlassung; er hatte bereits während der Haft zwei Therapiemöglichkeiten bezüglich seines Gewaltproblems, die er nicht genutzt hat.
dd) Weiterhin ist weder eine Nachreifung der Persönlichkeitsstruktur des Klägers er sichtlich, noch steht zu erwarten, dass er in wesentlich andere Lebensverhältnisse nach seiner Haftentlassung zurückkehren wird: Der bereits seit dem 16. Juni 2008 volljährige Kläger zeigt ausweislich des Führungsberichts vom 1. März 2019 (Behördenakte Bl. 320) bübisches und redseliges Verhalten. Auch die mehrfachen disziplinarischen Ahndungen in den Haftanstalten und sowie die Straffälligkeit am 5. Dezember 2018 (vgl. AG, U.v. 18.7.2019 – 02 …) verdeutlichen, dass der Kläger sich den Haftaufenthalt nicht zur Warnung dienen lässt und keinen Einstellungswandel bei ihm ausgelöst hat. Schließlich gibt der Kläger an, nach der Haftentlassung bei seinen Eltern – bei denen er bereits den Großteil seines Lebens gewohnt hat – oder seinem Bruder leben zu wollen bzw. dessen Wohnung zu übernehmen und wieder als Fliesenleger zu arbeiten. Folglich steht eine Rückkehr in im Wesentlichen gleiche Verhältnisse wie vor seiner Inhaftierung bevor; diese Integrationsfaktoren konnten den Kläger auch damals nicht von einer Straffälligkeit abhalten.
ee) Wegen des hohen Rangs der von ihm verletzten und bei einem Rückfall erneut bedrohten Rechtsgüter insbesondere von Leib und Leben anderer Personen, tragen diese Feststellungen die Annahme einer erheblichen und gegenwärtigen Wiederholungsgefahr. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit seiner Ausweisung ist jedenfalls davon auszugehen, dass der Kläger nach wie vor nicht erfolgreich therapiert ist und seine tatmotivierende Persönlichkeitsstruktur aufgearbeitet hat. Sind aber die Ursachen seiner Straftaten nicht beseitigt, ist weiter von einer konkreten Rückfallgefahr wie zuvor auszugehen.
c) Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 53 Abs. 2 und Abs. 3 i.V.m. § 55 AufenthG deutlich überwiegt.
aa) Das Ausweisungsinteresse wiegt sowohl nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als auch nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. a) AufenthG besonders schwer, weil der Kläger wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Führen einer verbotenen Waffe zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt wurde (vgl. LG, U.v. 28.9.2017 – … – Behördenakte Bl. 190 ff.). Aufgrund der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe liegt auch ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG und nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, da bezüglich Letzterem eine vorsätzliche Straftatbegehung einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen die Rechtsordnung darstellt.
Anhaltspunkte, dass die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen vorliegend aufgrund besonderer Umstände weniger Gewicht entfalten, liegen nicht vor, da nach umfassender Würdigung Tat, Täter und Nachtatverhalten von vergleichbaren Delikten nicht derart abweichen, dass hier die Annahme eines atypischen Falles in Betracht käme. Der Kläger beging die Tat am 1. Januar 2017 sowie die anderen Straftaten, wegen derer er verurteilt worden ist, vorsätzlich; ausweislich des Urteils des Landgerichts … vom 28. September 2017 (…) liegen zwar Strafmilderungsgründe, aber kein minder schwerer Fall im Rahmen der Strafzumessung vor.
bb) Ebenfalls besonders schwer wiegt auch das Bleibeinteresse des Klägers, da er seit 4. Juli 2007 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist und sich seit über fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (§ 53 Abs. 1 und Abs. 3 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
Für die gerichtliche Abwägung ist das Bleibeinteresse analog § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG ebenfalls als besonders schwerwiegend einzustufen, da der Kläger als „faktischer Inländer“ – also als ein Ausländer, der seine wesentliche Prägung und Entwicklung in Deutschland erfahren hat und seit langem ein Daueraufenthaltsrecht im Bundesgebiet besitzt (vgl. BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 21) – einzuordnen ist. Allerdings verhindert auch diese Einordnung nicht seine Ausweisung, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 35 m.w.N.).
cc) In die nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gebotene Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse sind alle Umstände des Einzelfalles wie insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner einzustellen.
(1) Der Aufenthalt des Klägers in Deutschland dauert seit seiner Geburt ohne wesent liche Unterbrechung an und fällt als intensive Bindung erheblich ins Gewicht. Der Kläger ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen und hat nach eigenen Angaben hier auch seinen Freundeskreis etabliert.
(2) Auch seine beruflichen und wirtschaftlichen Bindungen hat der Kläger im Bundes gebiet und sich weitgehend in den deutschen Arbeitsmarkt integriert: Er hat eine abgeschlossene Berufsausbildung als Fliesenleger und auch über mehrere Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Allerdings ist zu beachten, dass der Kläger – trotz seiner Berufsausbildung – in Deutschland keinen Schulabschluss vorzuweisen hat sowie lange Zeit bei seinen Eltern gelebt hat und von diesen teils finanziell unterstützt wurde. Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Kläger nach einer Haftentlassung die bestehenden Schulden, insbesondere das Schmerzensgeld, begleichen will und daher auch bei Erhalt einer Arbeitsstelle – diese stehe nach seinen Angaben in Aussicht – finanziell erheblich belastet ist.
(3) Weiterhin bestehen persönliche Bindungen des volljährigen Klägers in das Bun desgebiet, die allerdings kein gesteigertes Bleibeinteresse begründen: Hier leben sowohl seine Eltern, als auch seine Geschwister, die ihn regelmäßig in der Haft besucht haben; lediglich eine Schwester lebe in der Türkei und wolle wohl nach Deutschland zurückkehren. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Kläger keine eigene Kernfamilie gegründet hat. Familiäre Beziehungen eines erwachsenen Ausländers zu anderen Familienmitgliedern außerhalb der Kernfamilie genießen aber geringeren Schutz und sind daher im Rahmen der Ausweisungsentscheidung weniger stark zu gewichten als die Beziehung zum Ehepartner und zu Kindern (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – juris Rn. 7). Mangels Abhängigkeitsverhältnis bzw. der Erbringung von Beistandsleistungen ergibt sich vorliegend auch hinsichtlich der Eltern und Geschwister des Klägers nicht anderes: Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der volljährige und erwerbsfähige Kläger Fürsorge oder Unterstützung gegenüber seinen Eltern leistet; umgekehrt ist er als gesunder erwachsener und erwerbsfähiger Mann selbst nicht mehr auf die Lebenshilfe seiner türkischstämmigen Eltern und Geschwister angewiesen.
Weitere gewichtige Belange und Interessen sind weder aus den vorliegenden Akten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
(4) Demgegenüber bestehen lose Bindungen des Klägers in seinen Herkunftsstaat Türkei: Nach Aktenlage und eigenen Angaben war der Kläger zuletzt im Jahre 2016 zu Urlaubszwecken im Dorf seiner Eltern, was ein Indiz für einen weiterhin bestehenden Bezug in die Türkei darstellt. Zudem spricht und versteht der Kläger nach eigenem Vortrag die türkische Sprache auch teilweise, weshalb davon auszugehen ist, dass der Kläger sich zumindest im Alltag auch auf Türkisch hinreichend verständigen kann. Schließlich haben sämtliche seiner Angehörigen die türkische Staatsbürgerschaft und sind dort einreise- und aufenthaltsberechtigt z.B. zu Besuchen des Klägers.
Bei einer Abschiebung in die Türkei müsste sich der Kläger dort ein eigenes Leben aufbauen und sich eine Arbeit zur Sicherung seines Lebensunterhalts suchen. Wenn auch nicht in schulischer, so jedoch in beruflicher Hinsicht ist der Kläger aufgrund seiner abgeschlossenen Ausbildung als Fliesenleger und mehrjähriger Berufserfahrung wohl für die Anforderungen des türkischen Arbeitsmarktes hinreichend qualifiziert.
Sonstige wesentliche Bindungen in die Türkei sind weder aus den Akten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
(5) Schließlich ist der Kläger auch im Hinblick auf einen etwaigen Therapiebedarf hin sichtlich eines Betäubungsmittelkonsums nicht auf einen Aufenthalt in Deutschland angewiesen: Nach aktuellem Führungsbericht vom 19. Juli 2021 (Gerichtsakte Bl. 101 ff.) genügt eine ambulante Therapie des Klägers nach einer Haftentlassung, vorrangig sei eine Behandlung seiner Gewaltneigung. Darüber hinaus ist der Kläger auf ein breit gefächertes Therapieangebot in der Türkei zu verweisen (vgl. VG Augsburg, U.v. 19.11.2019 – Au 6 K 17.34205 – juris Rn. 78 m.w.N.).
dd) In der Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG überwiegt das Ausweisungsinteresse der Allgemeinheit das private Bleibeinteresse des Klägers: 59 (1) Zum einen sind in die Abwägungsentscheidung die Folgen der Aufenthaltsbeendi gung des Klägers und seine Angehörigen zu berücksichtigen.
Die unter cc) genannten Belange betreffen insbesondere das Privatleben des Klägers, welches durch seinen mehrjährigen selbstverantworteten Haftaufenthalt ohnehin erheblich beeinträchtigt ist.
(2) In die Gesamtabwägung sind zudem die Folgen einer Aufenthaltsbeendigung für die Allgemeinheit einzustellen:
Die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland wird durch den Aufenthalt des Klägers schwerwiegend gefährdet, weil der Kläger mehrfach und mitunter schwere Straftaten begangen hat sowie sich weiterhin eine erhebliche Wiederholungsgefahr daraus ergibt, dass der Kläger keine vollständige therapeutische Aufarbeitung der Tatursachen wahrgenommen hat. Es sind keine Umstände erkennbar oder geltend gemacht, woraus sich ein solcher Einstellungswandel in der Person des Klägers vollzogen hat, dass keine gleichgelagerten Straftaten mehr von ihm zu befürchten sind. Das Ausweisungsinteresse begründet sich mithin spezialpräventiv in dem Ziel, durch seine Entfernung aus dem Bundesgebiet weitere Straftaten durch ihn hier auszuschließen und so die Bevölkerung deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeit vor weiteren Gefahren durch den Kläger zu schützen.
Nach Auffassung des Gerichts ist auch keine Verhaltensänderung des Klägers ersichtlich: Weder die zweimaligen ausländerrechtlichen Verwarnungen vom 21. März 2012 sowie vom 13. September 2013, noch der Eindruck des Strafvollzugs mit seinen Therapieangeboten haben einen nachhaltigen Einstellungswandel des Klägers bewirken können, wie durch seine disziplinarischen und auch den strafrechtlichen Verstoß während seines Haftaufenthalts nachdrücklich belegt wird. Die staatlichen Maßnahmen sind dabei trotz der am 11. Dezember 2013 im Rahmen einer persönlichen Vorsprache bei der Ausländerbehörde erfolgten Angabe des Klägers, straffrei bleiben zu wollen, erfolglos geblieben. Seine Auffälligkeiten in der Haft zeigen seine mangelnde Selbstdisziplin: Wer sich aber schon unter den strengen Regeln der Haft nicht straffrei führt, wird dies erst recht auf freiem Fuß nicht können oder wollen.
ee) Das öffentliche Interesse an einer Ausweisung des Klägers überwiegt im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung das private Interesse des Klägers an einem Verbleib im Bundesgebiet.
(1) In wirtschaftlicher Hinsicht ist eine Integration des Klägers insbesondere vor dem Hintergrund seiner in Deutschland abgeschlossenen Berufsausbildung auch in der Türkei zumutbar. Bereits vor seiner Inhaftierung hat der Kläger bei verschiedenen Arbeitgebern gearbeitet sowie vorübergehend eine selbständige Beschäftigung als Fliesenleger aufgenommen. Auch in anderen Berufszweigen (Paketdienstleister) hat der Kläger gearbeitet. Vor dem Hintergrund seiner – wenn auch ggf. nicht umfassenden – Sprachkenntnisse ist eine Werktätigkeit des Klägers in der Türkei nicht von vornherein ausgeschlossen. Auch in familiärer Hinsicht ist zu beachten, dass der Kläger seit dem 16. Juni 2008 volljährig ist und mitunter auch in einer Zwei-Personen-Wohngemeinschaft gelebt hat. Als erwachsener Mann mit eigener Berufsausbildung ist er nicht mehr auf Versorgungsleistungen seiner Eltern oder Geschwister angewiesen; eine eigene Kernfamilie lässt der Kläger hier nicht zurück. Schließlich ist es den Angehörigen des Klägers, die sämtlich die Staatsbürgerschaft der Türkei innehaben, möglich, den Kläger in seinem Herkunftsstaat zu besuchen.
(2) Hingegen fallen die Folgen für die Allgemeinheit für das Ausweisungsinteresse erheblich ins Gewicht: Der Kläger hat versucht, einen anderen Menschen zu töten und diesen dabei erheblich verletzt sowie keine Aufarbeitung der in seiner Person liegenden Tatursachen erreicht. Es ist daher zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht erkennbar, dass diese Gefahr auf ein erträgliches Maß reduziert wäre.
d) Auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK erweist sich nach Auffassung des Gerichts die Ausweisung als rechtmäßig.
aa) Nach Völkerrecht ist ein Staat berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Staatsgebiet und ihren Aufenthalt zu regeln. Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert keinem Ausländer das Recht, in ein bestimmtes Land einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die Mitgliedstaaten sind befugt, in Erfüllung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, einen Ausländer auszuweisen, der wegen Straftaten verurteilt worden ist. Soweit Entscheidungen in diesem Bereich in die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechte eingreifen können, müssen sie gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, also durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insbesondere zu dem verfolgten berechtigten Ziel verhältnismäßig sein (EGMR, U.v. 23.10.2018 – 7841/14 – NVwZ 2019, 1427/1428 Rn. 33).
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, das Alter des Ausländers bei Begehung dieser Taten, die Dauer des Aufenthalts in dem Land, das der Ausländer verlassen soll, die seit Begehung der Straftaten vergangene Zeit und das seitdem gezeigte Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen, die Kenntnis des Ehe- oder Lebenspartners von der Straftat bei Beginn der Beziehung, die Kinder des Ausländers und deren Alter, das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere auch die Schwierigkeiten, auf die der Ehe- oder Lebenspartner und die Kinder wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll, das Kindeswohl und die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits als Kriterien heranzuziehen (EGMR, U.v. 23.10.2018 – 7841/14 – NVwZ 2019, 1427/1428 Rn. 36).
Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen und sich seitdem hier ununterbrochen aufhaltenden Ausländers einen massiven Eingriff in das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens bedeutet. Der Schutz des Privat- und Familienlebens untersagt die Ausweisung eines sogenannten faktischen Inländers aber nicht schlechthin, sondern fordert vielmehr, dass die Ausweisung nur zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf und dabei die besondere Situation eines Ausländers, der sich seit Geburt im Bundesgebiet aufhält, Berücksichtigung finden muss (vgl. BayVGH, B.v. 7.1.2013 – 10 ZB 12.2311 – juris Rn. 6).
bb) Nach diesen Grundsätzen ist ein Eingriff in das Recht auf Privatleben mit der Aus weisung gem. §§ 53 ff. AufenthG gesetzlich vorgesehen, im Falle des Klägers auch durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und zum damit verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig:
Der Schutz der Gesellschaft vor der Gefahr der Begehung weiterer gegen Rechtsgüter von Höchstrang – wie das Leben und die körperliche Integrität – gerichtete Straftaten durch den Kläger stellt ein dringendes soziales Bedürfnis dar und löst insoweit staatliche Schutzpflichten aus (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19/11 – juris Rn. 15). Der Kläger ist massiv straffällig und teilweise einschlägig rückfällig geworden und gilt hinsichtlich seiner Gewaltdelinquenz aufgrund eigener Verantwortung nicht als vollständig therapiert. Daraus folgt nach Überzeugung des Verwaltungsgerichts eine erhebliche Wiederholungsgefahr des Klägers. Eine Ausweisung und Aufenthaltsbeendigung ist auch geeignet, der von dem Kläger ausgehenden gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wirksam zu begegnen. Eine Änderung seiner Verhaltensstruktur ist auch nicht unter dem Eindruck des Strafvollzugs ersichtlich, weshalb ein milderes gleichsam erfolgsversprechendes Mittel als eine Ausweisung zum Schutz der Gesellschaft und ihrer Mitglieder nicht in Betracht kommt.
Demgegenüber ist es seinen Verwandten zumutbar und möglich, den Kontakt zum Kläger, der durch dessen selbst verschuldete Inhaftierung ebenfalls nur eingeschränkt möglich ist, durch moderne Kommunikationsmittel zu pflegen (als Kriterium bei EGMR, U.v. 20.12.2018 – 18706/16 – NVwZ 2019, 1425/1426 Rn. 49) oder den Kläger gegebenenfalls in dessen (und deren) Herkunftsstaat zu besuchen.
e) Der Ausweisung steht auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entgegen.
Der Kläger ist nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 und Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 assoziationsberechtigt (vgl. oben). Aufgrund der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt weiterhin vom Kläger ausgehenden erheblichen Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Verletzung hochrangiger Rechtsgüter wie Leib und Leben – und damit für ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats (vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08 – Rn. 86) – aufgrund der begangenen Gewalt- und Drogendelikte sowie der mangelnden ersichtlichen Einstellungswandelung folgt eine Beschränkung vorbezeichneter Rechte aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Die Ausweisung ist unerlässlich, da alle staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf den Kläger wirkungslos geblieben sind (vgl. oben).
2. Die Abschiebungsandrohung ist nicht zu beanstanden. Abschiebungshindernisse, die nach § 59 Abs. 3 AufenthG zwar nicht ihrer Androhung, aber ihrer Vollstreckung entgegenstünden und zu einer Duldung führen könnten, sind weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen worden.
3. Die verfügte Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots mit der Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung auf fünf Jahre, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Abschiebung bzw. der Ausreise, ist ebenfalls rechtmäßig.
a) Die gem. § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Behörde stehende Befristungs dauer ist in einem ersten Schritt unter Berücksichtigung des Gewichts des Ausweisungsgrundes und dem mit der Ausweisung verfolgten Zweck zu bemessen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur in den Fällen des § 11 Abs. 5 bis Abs. 5b AufenthG überschreiten, wobei zu beachten ist, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann, so dass sie nach § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zehn Jahre nicht überschreiten soll. Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 66), um die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
b) Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre ist nach § 11 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 5 AufenthG aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen zulässig und erfolgte auch ermessensfehlerfrei. Der Beklagte würdigte in seiner Entscheidung die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet und die von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr hinsichtlich hochrangiger Rechtsgüter; eine kürzere Frist sei zur Erreichung des mit der Ausweisung verfolgten Zwecks nicht geeignet. Dem begegnen keine Bedenken.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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