Verwaltungsrecht

Ausweisung eines assoziatiosberechtigten Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 9 K 18.4663

Datum:
12.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4331
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 6
EMRK Art. 8
AufenthG § 11 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
ARB 1/80 Art. 7 S. 1

 

Leitsatz

Die Ausweisung von Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist, kann den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.      

Gründe

Die Klage ist nicht begründet. Die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers verbunden mit einem 6- bzw. 8-jährigen Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Abschiebungsandrohung in die T. … sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Das persönliche Verhalten des Klägers stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Seine Ausweisung ist nach der erforderlichen Interessenabwägung für die Wahrung dieses Grundinteresses unerlässlich.
1. Die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet ist rechtmäßig.
a) Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris).
b) Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG, wonach ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen wird, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Im vorliegenden Fall besitzt der Kläger jedenfalls ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, da zumindest ein Elternteil, nämlich der Vater des Klägers, während eines Zeitraums von mindestens drei Jahren ab dem Zeitpunkt der Geburt des Klägers ununterbrochen Teil des Arbeitsmarktes war und der Kläger in dieser Zeit in (häuslicher) Lebensgemeinschaft mit diesem Elternteil lebte. Der Kläger kann sich somit auf die erhöhten Ausweisungsanforderungen nach § 53 Abs. 3 AufenthG n.F. (i. d. F. des Gesetzes vom 15.8.2019, BGBl I 1294) berufen. Danach darf er nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Abwägung der widerstreitenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist, d. h., dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Diese erhöhten Ausweisungsvoraussetzungen sind auch mit Assoziationsrecht vereinbar (BVerwG, U.v. 22.2.2017-1 C 3.16 – juris).
c) Vom Kläger (seinem persönlichen Verhalten) geht gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, liegt vor, wenn ernsthaft die (erneute) Begehung von Eigentums- oder Vermögensdelikten droht, die zu beträchtlichen Schäden für eine Vielzahl von Personen führen oder gewerbsmäßig begangen werden oder bei denen sonstige erschwerende Umstände vorliegen (vg. OVG Bremen, B.v. 15.11.2019 – 2 B 243/19 – juris). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist das Gericht auf der Grundlage der (beigezogenen) Akten, dem Eindruck, den das Gericht vom Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte sowie seiner persönlichen Verhältnisse überzeugt, dass von dem Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung und gerichtlichen Entscheidung eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgeht und dieser auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit Straftaten im Bereich der Eigentums-/Vermögensdelikte begehen wird. Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, sowie seine Persönlichkeitsstruktur legen eine hohe Rückfallgefahr nahe: So hat der Kläger von Jugend an seit seinem 14. Lebensjahr eine Vielzahl von Straftaten, insbesondere im Bereich der Köperverletzungsdelikte (in jüngeren Jahren vermehrt, zuletzt Beihilfe zur vorsätzlichen Köperverletzung abgeurteilt am …) sowie im Bereich Verkehrs- und Betrugsdelikte begangen. Sein Bundeszentralregister weist aktuell 10 Eintragungen auf. Der Kläger ist Bewährungsversager. Seine Rückfallgeschwindigkeit mit Blick auf die durch ihn begangene und letztendlich auch abgeurteilten Straftaten, wenn diese auch nicht in Gänze den gleichen Deliktsbereich betreffen, ist erheblich. Hieraus ergibt sich auch, dass der Kläger bisher offenbar vollkommen unbeeindruckt von den Verurteilungen und Sanktionen war. Jedenfalls haben diese ihn in der Vergangenheit nicht davon abgehalten, weiter erheblich straffällig zu werden. Zuletzt gipfelte die Einstellung des Klägers, die Rechtsordnung und die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, nicht straffällig zu werden, nicht ernst zu nehmen, in der Begehung des gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in fünf Fällen sowie versuchten gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in zwei Fällen. Dass der konkreten Tatbegehung eine erhebliche kriminelle Energie des Klägers zugrunde lag, die Rückschlüsse auf das persönliche Verhalten des Klägers zulässt, ergibt sich nicht nur aus der Höhe der Freiheitsstrafe von 5 Jahren, die dem Bereich der Schwerkriminalität zuzuordnen ist. Maßgeblich ist hierbei auch, dass der Kläger ausweislich der strafrechtlichen Verurteilung und den Ermittlungsergebnissen der Kopf der Organisation in der Bundesrepublik war. Er war Leiter des „Geldabholer-Teams“ (vgl. Urteilsbegründung, Urteil des LG Tübingen vom …, Bl. 551 BA). Zudem hat der Kläger als Verbindungsmann zu seinem Bruder in die T. … und zu den Hintermännern fungiert und war für die jeweilige Koordinierung der Tatausführung zuständig. An den Kläger wurde auch das erbeutete Geld durch die an der Tat Mitbeteiligten ausgehändigt, was dieser sodann verteilte und im Übrigen an die Hintermänner in die T. … maßgeblich verantwortlich weiterleitete. Dass die Hemmschwelle des Klägers mit Blick auf kriminelles Unrecht am unteren Rand angesiedelt ist und er geradezu unerschrocken ist, was drohende staatliche Verfolgung anbelangt, zeigt auch der Umstand, dass der Kläger noch nicht einmal mehr davor zurückschreckte, das erbeute Geld gemeinsam mit seinen Mittätern zu seinem Bruder und den Hintermännern in die T. … zu fliegen. Seine Skrupellosigkeit zeigt sich auch darin, dass er und seine Mittäter gezielt betagte Opfer auswählten und deren Kontakt zu ihren Verwandten bewusst unterbanden, um sich zu bereichern. Dabei nahm der Kläger in Kauf, dass er die Leichtgläubigkeit und Angst der älteren Menschen ausnutzte, um sich selbst auf illegalem Weg Vorteile zu verschaffen. Dass der Kläger bedenkenlos der Befriedigung seiner Bedürfnisse Vorrang vor der Achtung der Rechtsordnung einräumt, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Auch die vorgelegten Haftführungsberichte zeigen, dass der Kläger bis heute sein Verhalten weder überdacht noch geändert hat. Der Kläger ist offenbar nach wie vor entweder nicht fähig oder nicht willens sich in Strukturen einzufinden und ein sozialverträgliches Leben zu führen. Dies fasst auch der Haftführungsbericht vom … … zusammen: „Zusammenfassend führt sich der Gefangene in der hiesigen Justizvollzugsanstalt bislang miserabel und erweckt den Eindruck, sich nicht in ein geregeltes System einfügen zu wollen und Obrigkeiten sowie ihn belastende Vorschriften und Anordnungen nicht anzuerkennen“.
Dass der Kläger im Rahmen des der Ausweisung zugrundeliegenden Strafverfahrens eine Schadenswiedergutmachung von 30.000 Euro geleistet hat und dies, wie sein Bevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung am 12. Februar 2021 meint, keine Selbstverständlichkeit sei, führt zu keiner anderen Beurteilung. Es ist davon auszugehen, dass dies allein unter dem Eindruck der drohenden Verurteilung und mit dem Ziel, eine geringeren Strafhöhe zu erzielen, geschehen ist. Denn der aktuelle Haftführungsbericht und die oben beschriebenen Umstände sprechen für sich. Die bestehende, gegenwärtige Wiederholungsgefahr wird auch nicht abgeschwächt durch das bestehende soziale Umfeld des Klägers, in welches er im Fall seiner Haftentlassung zurückkehren würde. Denn es war eben dieses soziale Umfeld, dem es auch schon in der Vergangenheit nicht gelungen ist, den Kläger von der Begehung einer Vielzahl von Straftaten abzuhalten. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Brüder des Klägers strafrechtlich in Erscheinung getreten sind und insofern naheliegend ist, dass eine gegenseitige Beeinflussung, wie wohl auch schon bisher, erfolgen wird. Die maßgebliche Wiederholungsgefahr wird zudem verstärkt durch den Umstand, dass der Kläger nach eigenen Angaben Schulden in Höhe von ca. 6.000 Euro hat. Das Gericht ist davon überzeugt, dass er seine finanzielle Lage nicht auf absehbare Zeit lösen können wird, zumal mit dem aktuell laufenden Gerichtsverfahren weitere Kosten auf ihn zukommen. Zwar hat der Kläger nach eigenen Angaben in der Haft seinen Mittelschulabschluss nachgeholt und ist bereit, eine Ausbildung zu machen. Der Kläger war jedoch bereits vor seinem Haftantritt nicht beruflich integriert (vgl. Rentenversicherungsverläufe Bl. 505, 529 ff. BA) und hat auch sonst aktuell nichts Substantiiertes vortragen, wie er sich sein (Arbeits-) leben nach Entlassung aus der Haft vorstellt. Dass der Kläger seine Einstellung zum Leben nicht geändert hat, bilden auch die eingeholten Haftführungsberichte vom … … … (Bl. 582 BA) sowie vom … … … (Bl. 76 GA) ab. Aus diesen ergibt sich, dass der Kläger nicht ansatzweise reflektiert hat, was der Grund für seine aktuelle Situation ist. Die Haftführungsberichte weisen eine Vielzahl von Disziplinarverstößen (auch in jüngere Zeit) und in kurzer Abfolge auf. Insbesondere seine instabile finanzielle Lage und die Perspektivlosigkeit betreffend seine berufliche Situation werden die Gefahr erheblich erhöhen, dass er versuchen wird, seine finanziellen Probleme sowie seinen Lebensunterhalt durch die Begehung von Straftaten in Form von Vermögensdelikten zu bestreiten. Ausweislich des Strafurteils konnten im Falle des Klägers nicht alle Hintermänner im Ausland identifiziert werden. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger nach wie vor über die oben beschriebenen kriminellen Verbindungen über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus verfügt, weshalb zu befürchten steht und mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass er diese im Falle seiner Haftentlassung erneut in Anspruch nehmen wird, um insbesondere im Bereich der Vermögensdelikte straffällig zu werden.
Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die der Ausweisungsentscheidung und der Verurteilung durch das Landgericht Tübingen vom … … … zu Grunde liegenden Straftaten (gewerbs- und bandenmäßiger Betrug in fünf Fällen sowie versuchter gewerbs- und bandenmäßiger Betrug in zwei Fällen) sind schwerwiegend. Das Grundinteresse der Gesellschaft besteht vorliegend in der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens seiner Bürger unter Einhaltung der geltenden Rechtsordnung, insbesondere des darin gewährleisteten Eigentums-/Vermögensschutzes. Der Kläger wurde wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in fünf Fällen sowie wegen versuchten gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Bei diesen Taten wurden Menschen, die wegen ihres Alters besonders vulnerabel waren, gezielt, systematisch und organisiert um erhebliche Vermögenswerte betrogen. Eigentums- und Vermögensdelikte, die zu beträchtlichen Schäden für eine Vielzahl von Personen führen oder die gewerbsmäßig begangen werden oder bei denen sonstige erschwerende Umstände vorliegend, gefährden ein Grundinteresse der Gesellschaft schwer (vgl. OVG Bremen, B.v. 15.11.2019 – 2 B 243/19 – juris, Rn. 10 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2/09 – juris, Rn. 16). Die mehrfache, geradezu serien-, banden- und gewerbsmäßiger Begehung von Vermögensdelikten zur Verschaffung einer nicht unwesentlichen Einnahmequelle begründet die tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft.
Lediglich ergänzend ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass gerade die seitens des Klägers und seinen Mittätern angewandte „Masche“ aktuell besonders im Fokus der Öffentlichkeit bzw. der im öffentlichen Interesse handelnden Strafverfolgungsbehörden liegt. Ausweislich eines Bericht im Münchner Merkur/München Kompakt „Den Gangstern auf der Spur“ vom 13./14. Februar 2021 gab es im Jahr 2020 6113 Betrugstaten durch falsche Polizisten in M. … Diese Taten weisen allesamt einen besonderen Bezug zur T. … und Osteuropa auf. Die Hintermänner sitzen oft in der T. … und Osteuropa, rufen von dort aus „die Senioren in M. … an und gaukeln ihnen vor, dass Gefahr durch Einbrecher drohe und ein Beamter deshalb ihre Wertsachen abholen müsse. Allein in der Landeshauptstadt betrug der Schaden für 2020 mehr als 4,6 Milliarden Euro. Dabei wurden nur 51 Taten vollendet – doch die Folgen für die Opfer sind erheblich“. In diversen Fällen sei es der Polizei und Staatsanwaltschaft gelungen, die Abholer festzunehmen. Sie seien am leichtesten greifbar, weil sie direkt zu den Geschädigten gehen und deren Wertsachen oft an der Haustür mitnehmen. „Die Hintermänner sind für die deutschen Behörden dagegen schwer zu fassen – wichtig ist dafür auch die Zusammenarbeit mit den Behörden im jeweiligen Land… Der Erfolg konnte sich sehen lassen: In Izmir gelang es den türkischen Behörden Ende Dezember 2020 ein Callcenter hochzunehmen…“.
d) Die Ausweisung des Klägers erweist sich nach der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles gemäß § 53 Abs. 1, Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 3 AufenthG vorzunehmenden Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteressen für die Wahrung des bedrohten Grundinteresses der Gesellschaft auch als unerlässlich. Die Ausweisung genügt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. BVerwG, U. v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris).
Da der Kläger wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in fünf Fällen sowie wegen versuchten gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt wurde, liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 bzw. § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG vor. Die vom Kläger ausgehende Gefahr besteht nach Überzeugung des Gerichtswie oben ausgeführt – noch fort.
Dem steht auf Seiten des Klägers ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber.
Auch mit Blick auf die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten persönlichen Belange des Klägers und der Positionen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK ergibt die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung, dass die Ausweisung des Klägers für die Wahrung des bedrohten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
Die Ausweisung von Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist, kann den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen (BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8/96 – juris Rn. 30). Obwohl der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, hier die Schule besucht, und in der JVA nach eigenen Angaben den einfachen Mittelschulabschluss erreicht hat, er seine wesentliche Prägung und Entwicklung in Deutschland erfahren hat und zahlreiche Verwandten hier leben, ist eine Verweisung auf ein Leben in der T. … nicht unzumutbar. Der Kläger ist nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Trotz seiner fast ausschließlichen Sozialisation im Bundesgebiet ist es angesichts der Vielzahl der durch den Kläger begangenen Straftaten und der von ihm auch weiterhin ausgehenden erheblichen Wiederholungsgefahr (s.o.) für den Kläger zumutbar, in das Land seiner Staatsangehörigkeit zu übersiedeln. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration des Klägers im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass er über keine gesicherte berufliche Position verfügt. Der Kläger hat keine Berufsausbildung abgeschlossen. Er ist in Deutschland nicht beruflich integriert. Der Versicherungsverlauf enthält von Februar 2006 bis Januar 2011 ausschließlich Zeiten über geringfügig nicht versicherungspflichtige Beschäftigung. Ab Juni 2012 bis September 2016 bezog der Kläger die meiste Zeit Arbeitslosengeld II (Bl. 505, 529 ff. BA). Der Kläger beherrscht die Sprache seines Heimatlands jedenfalls insoweit, dass er etwaige Defizite, v.a. im schriftlichen Bereich, mit zumutbarer Anstrengung ohne Weiteres ausgleichen kann, sodass dem Aufbau einer Existenz in der T. … daher auch keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegensteht. Auch Sitten und Gebräuche seines Heimatlandes sind ihm aus Besuchsaufenthalten in der T. … bekannt (vgl. Kopie des Reisepasses, Bl. 121 GA) und wurden ihm sicherlich auch von seinen Eltern vermittelt. Er kann die ggf. noch vorhandenen kulturellen Hürden daher mit einiger – zumutbarer – Anstrengung überwinden und sich in sein Heimatland integrieren. Daher wird sich der Kläger in seinem Heimatland, insbesondere – angesichts seiner guten deutschen Sprachkenntnisse – in den Tourismusgebieten, eine neue Existenz aufbauen und für sich selbst sorgen können. Zwar ist vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK und des Art. 6 GG zu berücksichtigen, dass die Familienangehörigen des Klägers nach Angaben des Klägers alle in Deutschland leben und er guten Kontakt zu diesen pflegt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die Kernfamilie des Klägers. Der Kläger ist ein 32-jähriger junger Mann und damit nicht mehr auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen. Dass sich aus seiner 50-%igen Schwerbehinderung etwas Anderes ergeben könnte ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Den Kontakt zu seinen im Bundesgebiet lebenden Verwandten, insbesondere zu seinen Eltern und Geschwistern, kann der Kläger auch von der T. … aus über Telekommunikationsmittel und Besuchsaufenthalte aufrechterhalten, auch wenn dies mit Schwierigkeiten verbunden sein mag. Zudem besteht auch die Möglichkeit der Erteilung von Betretenserlaubnissen (§ 11 Abs. 8 AufenthG). Dass die Mutter des Klägers aufgrund ihrer D. … auf dessen Unterstützung angewiesen wäre, ist über die bloße Behauptung hinaus nicht substantiiert dargelegt und im Übrigen auch nicht ersichtlich. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass sie bereits seit dem Haftantritt des Klägers 2017 und auch weiterhin für die Zeit seiner Inhaftierung auf seine Unterstützung nicht zählen kann. Die seitens des Klägerbevollmächtigten in der Klagebegründung erwähnte Verlobte des Klägers mit Kind scheint nicht mehr aktuell zu sein, da der Kläger diese nicht mehr vorgetragen hat und sich im Übrigen aus der Besuchsliste der JVA L. … ergibt, dass die benannte Verlobte den Kläger seit Februar 2019 nicht mehr besucht hat. Ohnehin hätte auch diese unter den vorgetragenen Umständen zu keinem anderen Ergebnis geführt.
Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung des Bleibeinteresses des Klägers mit dem öffentlichen Ausweisungsinteresse ergibt, dass die Ausweisung des Klägers angesichts des hohen Rangs des bedrohten Rechtsguts sowie der weiterhin bestehenden Gefahr der Begehung erheblicher Straftaten durch den Kläger unerlässlich ist und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.
Lediglich der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass auch der Einwand des Klägerbevollmächtigten in der Klagebegründung, die Beklagte habe im Rahmen der Ausweisungsentscheidung ihr Ermessen falsch ausgeübt, nicht verfängt. Denn unabhängig davon, dass die Beklagte in ihrer Entscheidung alle maßgebliche Belange des Einzelfalls gewürdigt hat, handelt es sich bei der Ausweisungsentscheidung nicht um eine Ermessenssondern eine gebundene Entscheidung und gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – ! C 3.16 – Rn. 23).
2. Auch die Befristungsentscheidung der Beklagten ist nicht zu beanstanden. Dass nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG n.F. ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gesondert angeordnet werden muss, macht den Bescheid vom 7. August 2018 nicht fehlerhaft, denn nach der obergerichtlichen Rechtsprechung zur früheren Rechtslage war in einer behördlichen Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 a.F. regelmäßig auch die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbot von bestimmter Dauer zu sehen (BayVGH, B.v. 11.9.19 – 10 C 18.1821 mRn. 13; BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 72; BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 13.17 – juris Rn. 23). Die Behörde hat vorliegend das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 6 Jahre (bei Straffreiheit) bzw. 8 Jahre befristet. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG von Amts wegen zu befristen. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll in diesem Fall zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – Rn. 50).
Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf sechs Jahre bei nachgewiesener Straffreiheit, anderenfalls auf acht Jahre, nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 5 AufenthG festgelegten Rahmen. Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck sowie die familiären und persönlichen Bindungen des Klägers berücksichtigt. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
3. Keinen Bedenken begegnet die Abschiebungsandrohung nach §§ 59, 58 AufenthG. Soweit die Abschiebung aus der Haft angekündigt wird (Ziff. 3 des Bescheides), erfüllt dies die Voraussetzungen von §§ 58 Abs. 3, 59 Abs. 5 AufenthG. Die für den Fall der Abschiebung nach Haftentlassung festgesetzte Ausreisefrist von vier Wochen nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht ist angemessen, § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
4. Die Klage war somit mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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