Verwaltungsrecht

Ausweisung eines in Deutschland geborenen türkischen Staatsangehörigen wegen Gewalt- und Drogenkriminalität

Aktenzeichen  Au 1 K 16.864

Datum:
29.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 3, § 53, § 54, § 55 Abs. 1, Abs. 2, § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1
EMRK Art. 8
VwGO VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, § 114 S. 1, § 155 Abs. 1 S. 3, § 167
ARB 1/80 ARB 1/80 Art. 7, Art. 13

 

Leitsatz

1 Gegen die Anwendung der ab 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsvorschriften auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige bestehen im Hinblick auf die stand-still-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 keine Bedenken, weil sich die materiellen Anforderungen, unter denen diese Personen ausgewiesen werden dürfen, nicht zu ihren Lasten geändert haben und jedenfalls in der Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtsposition eines durch Art. 13, 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist (wie BayVGH BeckRS 2016, 45476). (Rn. 22) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Die Erklärung eines Ausgewiesenen in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, mittlerweile für eine Drogentherapie motiviert zu sein, genügt allein nicht, um eine erneute drogenbedingte Straffälligkeit auszuschließen. (Rn. 29) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Um die Gefahr der Begehung künftiger drogenbedingter Straftaten ernsthaft in Zweifel ziehen zu können, ist es erforderlich, dass der betroffene Ausländer eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig straffreien Verhaltens auch nach Straf- bzw. Therapieende glaubhaft gemacht hat. Insbesondere müsste sich ein noch inhaftierter Ausländer auch noch außerhalb der Justizvollzugsanstalt über einen längeren Zeitraum bewähren und durch gesetzeskonformes Verhalten zeigen, dass er auch ohne den Druck des Strafvollzugs in der Lage ist, nicht straffällig zu werden (wie BayVGH BeckRS 2016, 44268).  (Rn. 29) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Auch im Rahmen von § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 AufenthG durchzuführen (wie BayVGH BeckRS 2016, 50148). (Rn. 32) (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Die Bemessung der Länge der vom Amts wegen zu bestimmenden Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots steht nach der Neufassung des § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde, wobei diese Ermessensentscheidung nicht mehr einer uneingeschränkten, vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern – außer im Fall der Ermessensreduzierung auf Null – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (wie BayVGH BeckRS 2016, 51506). (Rn. 43) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Der Bescheid vom 9. Mai 2016 wird in Ziffer III. aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache nur teilweise Erfolg.
1. Die Klage gegen den Bescheid vom 9. Mai 2016 ist unbegründet, soweit sich der Kläger gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet wendet (Ziffer I. des Bescheids). Der angegriffene Bescheid ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der Befristungsentscheidung und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 12). Für den Entscheidungszeitpunkt sind daher §§ 53 ff. AufenthG n.F. (Aufenthaltsgesetz vom 25.2.2008 i.d.F. vom 22.12.2015, BGBl. I S. 2557) anzuwenden, nach denen die Ausweisung als gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung zu erfolgen hat (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 31, 56). Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) und des Bleibeinteresses (§ 55 AufenthG) ist die Kammer der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers das Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt.
b) Die Ausweisung setzt als gebundene und gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 31, 56) nach § 53 Abs. 1 AufenthG tatbestandlich voraus, dass der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise (§ 54 AufenthG) mit den Interessen an ei nem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet (§ 55 AufenthG) ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Stehen dem Ausländer – wie hier dem Kläger als türkischem Staatsangehörigen über seine Mutter nach Art. 7 ARB 1/80 – Rechte nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation – ARB 1/80 – zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen, denn der Ausländer darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. In der Rechtsprechung ist auch geklärt, dass gegen die Anwendung der ab 1. Januar 2016 geltenden neuen Ausweisungsvorschriften auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige auch mit Blick auf Art. 13 ARB 1/80 (sog. Stillhalteklausel) keine Bedenken bestehen, weil sich die materiellen Anforderungen, unter denen diese Personen ausgewiesen werden dürfen, nicht zu ihren Lasten geändert haben und jedenfalls in der Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtspositionen eines durch Art. 13, 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist (vgl. BayVGH, U. v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28; B. v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 14; B. v. 11.7.2016 – 10 ZB 15.837 – Rn. 11 jeweils m.w.N.).
c) Die Ausweisung des Klägers ist unter Berücksichtigung des dargelegten Maßstabs rechtmäßig, weil die Gefahr der Begehung erneuter gravierender Straftaten nach wie vor gegenwärtig besteht und nach der erforderlichen Interessenabwägung die Ausweisung für die Wahrung dieses Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist.
aa) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, weil er schwere Straftaten begangen hat und weiterhin eine erhebliche Wiederholungsgefahr besteht.
Ausweisungsanlass ist die Verurteilung des Klägers wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten durch Urteil des Amtsgerichts … vom 30. April 2015. Der Kläger war stark alkoholisiert in eine Auseinandersetzung mit mehreren Personen verwickelt, schlug bei einer Bierflasche aus Glas den Flaschenhals ab und verletzte das Opfer mit dem abgebrochenen Flaschenhals im Gesicht, so dass der Angegriffene eine 5 cm lange Schnittverletzung erlitt. Ebenfalls unter Alkoholeinfluss hatte der Kläger in einer Tankstelle Lebensmittel und in einem Kaufhaus eine Jacke gestohlen. Zuletzt schlug er nach einer verbalen Auseinandersetzung unter Alkohol- und Methadoneinfluss einer Freundin mit der Faust ins Gesicht, so dass diese mit dem Kopf gegen eine Steinmauer fiel. Mindestens einmal trat er mit dem Turnschuh gegen ihren Kopf. Diese Straftaten, die alle unter Alkohol- und Drogeneinfluss begangen wurden, stellen unzweifelhaft eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar.
bb) Die vom Kläger ausgehende Gefahr dauert bis heute an, weil eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist.
Bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung – wie im Falle der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit – sind im Rahmen tatrichterlicher Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 16). Die auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, führt unter Berücksichtigung der bereits in der Vergangenheit zahlreich begangenen Straftaten, der Persönlichkeitsstruktur des Klägers und der weiterhin bestehenden, nicht therapeutisch behandelten Drogensucht zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr.
Seit dem Jahr 1999 wurde der Kläger neun Mal strafrechtlich verurteilt. Alle Straftaten standen in Zusammenhang mit Alkohol- bzw. Drogenkonsum. Zum einen zeigte der Kläger unter Alkohol- bzw. Drogeneinfluss besondere Gewaltbereitschaft, zum anderen beging er Einbruchs- und Diebstahlstraftaten, um sich Drogen bzw. finanzielle Mittel für den Drogenkonsum zu beschaffen. Eine Drogentherapie hat der Kläger bis heute nicht erfolgreich durchgeführt. Mit Urteil des Amtsgerichts … vom 28. Juli 2011 wurde der Kläger wegen mehrfachen Diebstahls in besonders schwerem Fall und mehrfachen sich Verschaffens von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und die Unterbringung in eine Entziehungsanstalt angeordnet. Bereits nach zwei Wochen bat der Kläger um Abbruch der Therapie, weil er weder über die Motivation für eine Langzeittherapie verfüge noch sich zu einer Therapie psychisch in der Lage fühle. Der Abbruch der Therapie wurde jedoch nicht gewährt, um weiter an der Herbeiführung einer Therapiemotivation arbeiten zu können. Daraufhin führte der Kläger gezielt einen Drogenrückfall herbei, um die Therapie zu beenden. Wegen fehlender Abstinenz-und Therapiemotivation wurde die Unterbringung schließlich durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer für erledigt erklärt. Infolge der nicht therapierten Drogensucht beging der Kläger in der Folgezeit weitere Straftaten, die schließlich in die zur Ausweisung führende Verurteilung mündeten. In dem durch das Strafgericht eingeholten psychiatrischen Gutachten vom 6. Februar 2015 kommt der Gutachter zu dem Schluss, dass eine erneute Unterbringung in einer Entziehungsanstalt keinen Erfolg verspreche. Es sei offenkundig, dass der Kläger den Hang habe, Drogen im Übermaß zu konsumieren, und dass bei der Gesamtwürdigung von Täter und Taten weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien. Es sei auch ein symptomatischer Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Delikten zu bejahen. Aufgrund des äußerst schwierigen Verlaufs der letzten Unterbringung und der fehlenden Offenheit im Umgang mit den Gründen, die zum Therapieabbruch geführt hätten, könne aus gutachterlicher Sicht nicht erkannt werden, dass sich die Grundeinstellung des Klägers so geändert habe, dass eine Unterbringung Aussicht auf Erfolg hätte.
Eine andere Einschätzung hinsichtlich der Erfolgsaussichten einer Drogentherapie ergibt sich auch nicht nach den im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gewonnenen Erkenntnissen. Der Kläger gab zwar in der mündlichen Verhandlung an, mittlerweile für eine Therapie motiviert zu sein, doch genügt diese Erklärung allein nicht, um eine erneute Straffälligkeit auszuschließen. Zum einen hat das Gericht erhebliche Zweifel daran, dass der Kläger tatsächlich bereit und in der Lage ist, eine Therapie durchzuführen. Er gab zwar an, sich in der Justizvollzugsanstalt an die externe Suchtberatung gewandt zu haben. Diese habe er aber nicht mehr weitergeführt, nachdem sich herausgestellt habe, dass wegen der Schwere seiner Drogensucht nur eine stationäre Therapie Erfolg verspreche. Um weitere Maßnahmen hat er sich nicht bemüht. Nachweise über das Bemühen, eine stationäre Therapie zu erhalten, legte der Kläger nicht vor. Die Justizvollzugsanstalt teilte in ihrem Führungsbericht lediglich mit, dass der Kläger im Zeitraum Juni 2015 bis März 2016 zehnmal das Beratungsangebot der externen Suchtberatung in Anspruch genommen habe. Ein Grund für das Ende der Gespräche sei nicht bekannt. Doch selbst wenn der Kläger mittlerweile therapiemotiviert sein sollte, so lässt die bestehende Therapiebereitschaft allein noch nicht die vom Kläger ausgehende Gefahr erneuter Straftaten entfallen. Um die Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers ernsthaft in Zweifel ziehen zu können, wäre nach Auffassung der Kammer vielmehr erforderlich gewesen, dass der Kläger eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig straffreien Verhaltens auch nach Straf- bzw. Therapieende glaubhaft gemacht hätte. Insbesondere müsste sich der noch inhaftierte Kläger auch noch außerhalb der Justizvollzugsanstalt über einen längeren Zeitraum bewähren und durch gesetzeskonformes Verhalten zeigen, dass er auch ohne den Druck des Strafvollzugs in der Lage ist, nicht straffällig zu werden (vgl. BayVGH, B.v. 24.02.2016 – 10 ZB 15.2080 – juris Rn. 10). Daran fehlt es vorliegend. Die Ausländerbehörde ist auch nicht verpflichtet, eine Therapie oder den weiteren Verlauf der Strafhaft abzuwarten.
Da die seit Jahren bestehende schwere Drogensucht des Klägers weiterhin nicht therapiert ist, ist nach Haftentlassung folglich mit weiteren Straftaten zu rechnen.
cc) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt und die Ausweisung auch für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist.
Dabei ist im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, Urteil vom 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44 m. w. N.). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführen (vgl. dazu die Gesetzesbegründung zu § 53 Abs. 3, BT-Drs. 18/4097 S. 50; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44; U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 37).
(1) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG u. a. dann besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Das ist beim Kläger durch die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten der Fall.
(2) Dem steht ein besonders schweres Bleibeinteresse des Klägers gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in analoger Anwendung gegenüber, weil der Kläger im Bundesgebiet geboren wurde und als assoziationsberechtigter Türke ein Aufenthaltsrecht aus ARB 1/80 besitzt.
(3) Das Vorliegen eines in § 54 AufenthG normierten Ausweisungsinteresses, dem ein gleichwertiges Bleibeinteresse gegenübersteht, führt nicht ohne weiteres zur Ausweisung des Betroffenen. Es muss anhand einer Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter umfassender Würdigung aller Umstände des Einzelfalls festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung letztlich überwiegt und die Ausweisung unerlässlich im Sinne von § 53 Abs. 3 AufenthG ist. Bei dieser Abwägung überwiegt bei Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände im Fall des Klägers das öffentliche Interesse an der Ausreise sein Bleibeinteresse; seine Ausreise ist unerlässlich, um ein Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren.
(a) Für den weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet sprach bei dieser Abwägung, dass der Kläger in der Bundesrepublik geboren wurde und sein ganzes Leben hier verbracht hat (sog. faktischer Inländer). Seine sozialen Beziehungen und Bindungen in die Türkei sind gering. Auch seine engsten Familienangehörigen (Mutter und Schwester) leben in Deutschland. Allerdings hat er in der Haft vorrangig den Kontakt zu türkischstämmigen Mitgefangenen gesucht, was zeigt, dass der Kläger mit dem türkischen Kulturkreis weiterhin stark verbunden ist.
(b) Massiv gegen den Kläger spricht, dass er sich weder wirtschaftlich noch sozial integriert hat und vielfach straffällig geworden ist. Er hat die Schule ohne Abschluss verlassen und erst in der Haft den Hauptschulabschluss nachgeholt sowie eine Qualifizierung in Lagerlogistik absolviert. Vor seiner Inhaftierung hat der Kläger nach eigenen Angaben wegen seiner Drogensucht nie gearbeitet. Wegen seiner Drogenabhängigkeit hat er seit 1999 viele und schwerwiegende Straftaten verübt. Der Kläger hat mehrfach unter Drogen- und Alkoholeinfluss aus nichtigen Anlässen ein hohes Aggressionspotenzial gezeigt und seinen Opfern nicht unerhebliche Verletzungen und Schmerzen zugefügt. Er neigte nach Drogenkonsum zu völlig unberechenbarem Verhalten mit besonderer Gefährlichkeit, wie der Verlauf der zur letzten Verurteilung führenden Auseinandersetzung zeigte. Der Kläger griff unvermittelt zu einer Bierflasche, schlug den Flaschenhals ab und verletzte mit der gesplitterten Flasche das Opfer erheblich. Das Opfer hatte den Kläger nach den Ausführungen des Strafgerichts weder provoziert noch angegriffen, sondern lediglich beruhigen wollen. Ein weiterer abgeurteilter Tatkomplex betraf eine Auseinandersetzung, bei der der Kläger dem Opfer mit der Faust so ins Gesicht schlug, dass dieses gegen eine Steinmauer und dann zu Boden fiel. Anschließend trat der Kläger mindestens einmal mit dem Schuh gegen den Kopf des Opfers. Strafmildernd wertete das Strafgericht zwar, dass sich der Kläger später entschuldigt habe, strafschärfend seien aber die zahlreichen, erheblichen und überwiegend einschlägigen Vorahndungen sowie die hohe Rückfallgeschwindigkeit zu berücksichtigen. Beim Kläger bestünde die Gefahr weiterer erheblicher, rechtswidriger Straftaten. Die Taten offenbaren ein unter Drogeneinfluss zu Tage tretendes Gewalt-und ein Aggressionspotenzial des Klägers. Es war letztlich Glück, dass die Opfer keine bleibenden Schäden oder lebensgefährlichen Verletzungen erlitten haben. Gegen den Kläger spricht auch, dass die Taten im wesentlichen Ausfluss seiner Drogenabhängigkeit sind und diese noch völlig untherapiert ist. Nach den Ausführungen im psychiatrischen Gutachten vom 6. Februar 2015 leidet der Kläger an einer schweren Suchterkrankung, die sich tief in seine Persönlichkeit eingegraben habe und von der sich der Kläger nicht zu lösen vermöge. Vielerlei Hilfsangebote seien gescheitert. Er habe sich zwar relativ lange in der Substitutionsambulanz behandeln lassen. Ab Februar 2014 sei es aber zunehmend zu einer negativen Entwicklung gekommen, die dazu geführt habe, dass der Kläger wieder schwer drogenabhängig wurde. Aufgrund der weiterhin bestehenden Abhängigkeit, die bereits zu einer nachhaltigen Persönlichkeitsveränderung geführt hat, besteht nach Überzeugung der Kammer (wie im Übrigen auch des Strafgerichts und des Gutachters) weiterhin eine erhebliche Gefahr der Begehung vorsätzlicher, rechtswidriger Straftaten.
Aufgrund der Vielzahl an einschlägigen Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, die der Kläger verübt hat, der jeweiligen Tatausführungen, die eine erhebliche Gleichgültigkeit gegenüber Mitmenschen offenbart haben und der nicht unerheblichen Verletzungen, die er den Opfern zugefügt hat, stellt das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, welche das Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung unerlässlich macht (§ 53 Abs. 3 AufenthG).
dd) Die Ausweisung des Klägers verstößt auch nicht gegen Art. 8 EMRK. Sie erscheint angesichts der Gesamtumstände nicht unverhältnismäßig.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatlebens. Der Kläger kann als sog. „faktischer Inländer“ nur unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes des Art. 8 EMRK ausgewiesen werden. Die deshalb vorzunehmende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles führt hier zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens gerechtfertigt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und als verhältnismäßig anzusehen ist. Um Wiederholungen zu vermeiden, kann auf die Ausführungen unter cc) verwiesen werden.
Die Kammer ist auch davon überzeugt, dass es dem Kläger möglich und zumutbar ist, sich sprachlich und kulturell in der Türkei zu integrieren. Dies gilt insbesondere deshalb, weil er in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, Türkisch zu sprechen. Auch leben in der Türkei – wenn auch nur entfernte – Verwandte. Der Kläger verkehrte in Deutschland häufig mit türkischstämmigen Mitmenschen. Die Kammer geht auch davon aus, dass in der Familie Türkisch gesprochen und die türkische Kultur und Tradition gelebt wurde. Die Kammer ist der Ansicht, dass der Kläger mit der türkischen Kultur vertraut ist und nach möglichen anfänglichen Schwierigkeiten dort Fuß fassen kann. Seine Familie kann den Kläger in der Türkei besuchen und mittels Telefon und Internet den 40 Kontakt aufrechterhalten. Eine Unzumutbarkeit liegt nach Überzeugung der Kammer nicht vor.
2. Die Klage ist allerdings begründet, soweit sie sich gegen die Befristungsentscheidung in Ziffer III. des Bescheids vom 5. Mai 2016 richtet. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Festsetzung einer kürzeren Frist zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
a) Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist das Ausreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen. Die Länge der Frist steht nach der Neufassung des § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 39), wobei diese Ermessensentscheidung entgegen der zur früheren Normfassung ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 40) nicht mehr einer uneingeschränkten, vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern – soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – Rn. 54 ff.; U.v. 12.7.2016 – 10 BV 14.1818 – Rn. 65). Diese Rechtsprechung ist trotz der Neufassung der §§ 53 ff. AufenthG maßgeblich, weil nach dem Wortlaut und nach dem Willen des Gesetzgebers (nur) die Ausweisungsabwägung gerichtlich voll überprüfbar ist (BR-Drs. 642/14 S. 56).
b) Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag, wie lange also die Gefahr besteht, dass der Ausländer weitere Straftaten oder andere Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung begehen wird, wobei die Umstände des Einzelfalles anhand des Gewichts des Ausweisungsgrundes zu berücksichtigen sind. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Auslän derbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56; U.v. 12.7.2016 – 10 BV 14.1818 – Rn. 65). Die Frist darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, und soll zehn Jahre nicht überschreiten (§ 11 Abs. 3 Satz 2 u. 3 AufenthG).
c) Die Beklagte hat in Ziffer III. des angegriffenen Bescheids das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von zehn Jahren ab der Ausreise oder Abschiebung befristet. Sie führte aus, dass im Hinblick auf die erhebliche Wiederholungsgefahr und die vom Kläger begangenen Gewaltstraftaten dem Grunde nach eine Ausweisungsfrist von zehn Jahren zu setzen wäre. Auf der anderen Seite seien die persönlichen Bindungen und der langjährige Aufenthalt im Bundesgebiet zu sehen. Unter Abwägung aller für und gegen den Kläger sprechenden Umstände werde daher die Wirkung der Ausweisung auf die Dauer von zehn Jahren ab Ausreise/Abschiebung befristet. Diese Entscheidung begegnet, ausgehend von dem durch § 114 Satz 1 VwGO vorgegebenen Prüfungsrahmen, durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Beklagte hat zwar erkannt, dass und in welcher Art und Weise sie Ermessen auszuüben hat. Sie hat aber dem Umstand, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren wurde und ausschließlich in Deutschland aufgewachsen ist, nicht ausreichend Rechnung getragen. Sie hat diesen Umstand benannt, er hat aber in die Abwägung keinen Eingang gefunden.
Die im ersten Schritt allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist durfte fünf Jahre überschreiten, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist und von ihm – wie bereits ausgeführt – eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Es bestehen allerdings Bedenken, ob die von der Beklagten gewählte Befristung von zehn Jahren, die die absolute Höchstgrenze darstellt (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 14.12 – InfAuslR 2013, 141 = juris Rn. 14) unter präventiven Gesichtspunkten gerechtfertigt ist, sie mag aber im Hinblick auf die langjährige, untherapierte Drogensucht noch vertretbar sein. Diese im ersten Schritt ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK, messen lassen und ist daher aufgrund der Tatsache, dass der Kläger ein sogenannter faktischer Inländer ist, zu relativieren. Welche Frist im Hinblick auf die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet angemessen erscheint, wird die Beklagte unter Berücksichtigung sämtlicher persönlicher Umstände erneut zu bestimmen haben.
3. Die Abschiebungsandrohung ist nicht zu beanstanden. Nach § 50 Abs. 1 AufenthG ist der Kläger zur Ausreise verpflichtet, da er keinen nationalen Aufenthaltstitel und auch kein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei mehr besitzt. Der Kläger hat das Bundesgebiet damit zu verlassen (§ 50 Abs. 1 und 2 AufenthG). Die Abschiebung konnte daher nach § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG unter Bestimmung einer angemessenen Frist angedroht werden.
4. Die Kostentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO und waren dem Kläger ganz aufzuerlegen, weil die Beklagte nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.

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