Verwaltungsrecht

Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen mit einem assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80

Aktenzeichen  AN 5 S 20.001515

Datum:
9.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 47522
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ARB 1/80 Art. 7 4 Abs. 2
AufenthG § 53 Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1b, § 55 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 8
GG Art. 8

 

Leitsatz

1. Bei einem tükischen Staatsangehörgen,dem im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zustand, ist eine explizite Prüfung der Ausweisung an Art. 14 ARB 1/80 nicht (mehr) erforderlich, da § 53 Abs. 3 AufenthG mittlerweile die Voraussetzungen kodifiziert sind, die nach ständiger Rechtsprechung (z.B. EuGH, B.v. 8.12.2011 – Ziebell, C-371/80, BeckRS 2011, 81925) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein müssen (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982, BeckRS 2016, 50098 m.w.N.; BayVGH, U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601, BeckRS 2017, 108379).      (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Recht aus Art. 7 ARB 1/80, das den Charakter eines Daueraufenthaltsrechts hat und kraft Gesetzes besteht, steht einer Aufenthaltserlaubnis gleich. Diese Rechtsposition kann (abschließend) nur durch Ausreise oder – wie hier – gemäß Art. 14 ARB 1/80 mit der Ausweisung erlöschen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 19/14 – BVerwGE 151, 377, BeckRS 2014, 81143 m.w.N.). (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
3. Solange das Recht aus dem ARB 1/80 fortbesteht, hat der Ausländer demzufolge auch einen Anspruch auf Ausstellung einer dieses Recht lediglich bestätigenden Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG, sodass   von einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse auszugehen ist (so in vergleichbaren Fällen auch VG München, U.v. 21.4.2016 – M 10 K 16.320,BeckRS 2016, 52465 und VG Sigmaringen, U.v.12.12.2017 – 4 K 877/17, BeckRS 2017, 145796; billigend: BayVGH, U.v.28.3.2017 – 10 BV 16.1601, BeckRS 2017, 108379). (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klage- und Antragsverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt … wird abgelehnt.
2. Der Antrag wird abgelehnt.
3. Der Antragsteller hat die Kosten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens zu tragen.
4. Der Streitwert für das vorläufige Rechtsschutzverfahren wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller und Kläger (im Folgenden: Antragsteller) begehrt im Klagewege die Aufhebung einer Ausweisungsverfügung und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes wird die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage begehrt. Zudem begehrt der Antragsteller die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt … Der am … 1998 in Deutschland geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Mit ca. einem Jahr wurde er wegen Problemen in der Ursprungsfamilie in einer deutschen Pflegefamilie untergebracht, im 12. Lebensjahr kehrte er zu seiner türkischen Mutter zurück. Zum Vater bestand zu keinem Zeitpunkt Kontakt. Der Antragsteller ist selbst Vater einer am 5. Dezember 2017 geborenen, deutschen Staatsangehörigen. Die Tochter hat den Antragsteller im Rahmen von Regelbesuchen viermal in der JVA besucht. Seit Juni 2019 besteht zum Kind und zur Kindsmutter kein Kontakt mehr.
Der Antragsteller besuchte die ersten vier Klassen eines sonderpädagogischen Förderzentrums und anschließend für zwei Jahre eine Stütz- und Förderklasse. Während einer Haftverbüßung erreichte er einen qualifizierenden Hauptschulabschluss. Nach eigenem Vortrag bemüht er sich aktuell um einen mittleren Bildungsabschluss.
Dem Antragsteller wurde während seiner Zeit bei der Pflegefamilie eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 21 Abs. 1 AuslG erteilt. Von 2006 bis 2012 war der Antragsteller im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen nach § 33 AufenthG. Infolge der Rückkehr zu seiner leiblichen Mutter im Juli 2009 wurde dem Antragsteller ein Assoziationsrecht gemäß Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zuerkannt. Vom 18. Juli 2012 bis 27. Februar 2013 war der Antragsteller im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG (a.F.). Einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 30. Oktober 2013 entschied die Antragsgegnerin im Hinblick auf mehrere laufende Strafverfahren zunächst nicht. Seit 2. August 2016 war der Antragsteller im Besitz einer Fiktionsbescheinigung.
Der Antragsteller ist nach Aktenlage betäubungsmittelabhängig (kombinierte Abhängigkeit von Kokain und Cannabis). Im Alter von 12 Jahren konsumierte er erstmals Cannabis und Kräutermischungen, später regelmäßig bis häufig Kokain und Cannabisprodukte, gelegentlich bis regelmäßig Amphetamin und MDMA und gelegentlich Methamphetamin.
Ausweislich eines Auszugs aus dem Bundeszentralregister vom 16. Januar 2019 ist der Antragsteller während seines Aufenthalts im Bundesgebiet wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
1. 25.3.2014 AG … Gemeinschaftlicher Diebstahl mit Sachbeschädigung in zwei Fällen, gemeinschaftliche Sachbeschädigung in vier Fällen, versuchter schwerer Bandendiebstahl mit Sachbeschädigung in vier Fällen und versuchter Betrug 2 Jahre 3 Monate Jugendstrafe
2. 17.11.2015 AG … Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung 2 Jahr 7 Monate Jugendstrafe (unter Einbeziehung der Verurteilung vom 25.3.2014)
3. 9.5.2018 AG … Unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln in drei Fällen 2 Jahre 9 Monate Jugendstrafe (unter Einbeziehung der Verurteilungen vom 25.3.2014 und vom 17.11.2015)
Mit Urteil des Amtsgerichts … vom 15. Juli 2019 wurde der Antragsteller wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet.
Mit Schreiben vom 3. März 2016 war der Antragsteller erstmals zu einer beabsichtigten Ausweisung angehört worden. Mit Schreiben vom 17. September 2019 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller erneut an. In diesem Zusammenhang legte der Antragsteller ein Schreiben des Bezirksklinikums … vor, wonach die Therapie bis zum damaligen Zeitpunkt positiv verlaufen sei. Es könne eine günstige Sozialprognose ausgesprochen werden. Der Antragsteller machte darüber hinaus geltend, er sei der türkischen Sprache nicht mächtig und die dortige Lebensweise sei ihm fremd. Aufgrund der deutschen Tochter bestehe ein Bleibeinteresse.
Mit Schreiben vom 28. Oktober 2019 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller erfolglos auf, Nachweise zu einer schützenswerten Vater-Kind-Beziehung vorzulegen.
Mit Bescheid vom 22. Juli 2020 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer I). Es wurde ein auf sechs Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen (Ziffer II). Zudem wurde der Sofortvollzug der Ziffern I und II angeordnet (Ziffer III). Der Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wurde abgelehnt (Ziffer IV). Die Abschiebung unmittelbar aus der Haft bzw. Unterbringung wurde angeordnet (Ziffer V). Für den Fall der nicht rechtzeitigen Abschiebung wurde der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb einer Woche nach Haftentlassung oder Entlassung aus der Unterbringung zu verlassen, widrigenfalls wurde ihm die Abschiebung insbesondere in die Türkei angedroht (Ziffer VI).
Zur Begründung führte die Antragsgegnerin im Wesentlichen aus, die Ausweisung sei spezialpräventiv begründet. Der Antragsteller genieße zwar als Kind türkischer Staatsangehöriger nach § 53 Abs. 3 AufenthG einen erhöhten Ausweisungsschutz. Vom Antragsteller gehe aber eine gegenwärtige, schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre und eine Ausweisung unerlässlich mache. Eine akute Wiederholungsgefahr ergebe sich aus dem bisherigen strafrechtlichen und sozialen Werdegang des Antragstellers, dessen Sozialisation vollkommen gescheitert sei und der sich auch von strafrechtlichen Sanktionen und mehrfach erlebtem Freiheitsentzug nicht von der Begehung weiterer schwerer Straftaten habe abhalten lassen.
Aufgrund der Verurteilung des Antragstellers durch das Amtsgericht … vom 17. Juli 2019 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von drei Jahren bestehe ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
Die Antragsgegnerin verneinte ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse i.S.d. § 55 Abs. 1 AufenthG mangels besehender Aufenthaltserlaubnis, bejahte jedoch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG im Hinblick auf die minderjährige Tochter mit deutscher Staatsangehörigkeit.
Die Abwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG ergebe ein Überwiegen der Ausweisungsinteressen. Auch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stünden der Ausweisung nicht entgegen. Es sei davon auszugehen, dass der Antragsteller aufgrund seines jungen Alters und durch die Jahre des Zusammenlebens mit seiner türkischstämmigen Mutter Einblick in die soziale und kulturelle Lebensweise in der Türkei erfahren habe, so dass es ihm möglich sei, sich dort einzuleben.
Zur Befristungsentscheidung führte die Antragsgegnerin im Wesentlichen aus, unter Berücksichtigung der vom Antragsteller ausgehenden tatsächlichen und hinreichend schweren Gefahren für ein Grundinteresse der Gesellschaft einerseits und der persönlichen Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet und seines langjährigen Aufenthalts andererseits, werde das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von sechs Jahren befristet.
Die Anordnung des Sofortvollzugs begründete die Antragsgegnerin im Wesentlichen damit, dass im Rahmen bestimmter Lockerungsstufen im Therapieverlauf damit zu rechnen sei, dass der Antragsteller die Einrichtung verlassen dürfe. Aufgrund der hohen Delinquenzneigung des Antragstellers sei damit bereits kurzfristig eine Wiederholungsgefahr zu befürchten. Insbesondere bestehe die Gefahr einer erneuten Begehung von Eigentums- und Betäubungsmitteldelikten.
Die Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels sei zu versagen, da die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG greife. Das Recht des Antragstellers aus Art. 7 ARB 1/80 sei erloschen. Zudem erfülle der Antragsteller ein Ausweisungsinteresse und sei nicht im Besitz eines gültigen Reisepasses, was nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bzw. § 5 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 3 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehe. Die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG sei nicht einschlägig.
Mit Schriftsatz vom 4. August 2020 hat der Bevollmächtigte des Antragstellers Klage erhoben und beantragt,
die Antragsgegnerin unter Aufhebung der Verfügung vom 22. Juli 2020 zu verpflichten, dem Antragsteller die beantragte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Des Weiteren wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
Zusätzlich hat der Antragstellerbevollmächtigte beantragt,
dem Antragsteller für das Klage- und Eilverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihm Rechtsanwalt … beizuordnen.
Zur Begründung verwies der Antragstellerbevollmächtigte im Wesentlichen auf die Schreiben des Antragstellers vom 3. Oktober 2019 und vom 28. Januar 2020 nebst Anlagen. Mit Stellungnahme vom 3. Oktober 2019 hatte der Antragsteller persönlich geltend gemacht, er sei deutschsprachig aufgewachsen, weshalb er der türkischen Sprache nicht mächtig sei. Zu näheren Angehörigen in der Türkei bestehe kein Kontakt. Die Straftaten, die zur Ausweisung geführt hätten, seien aufgrund einer Suchterkrankung begangen worden. Der Antragsteller durchlaufe zum ersten Mal im Leben eine Therapie zur Bekämpfung seiner Suchterkrankung. Dies habe der Gutachter bestätigt. Seit 7. August 2019 laufe die Therapie. Der Antragsteller sei therapiemotiviert und wolle sein Leben ändern. Im Rahmen unangekündigter Drogentests habe noch kein Rückfall in ein Suchtmittelverhalten festgestellt werden können. Es sei zu erwarten, dass die Suchterkrankung durch die Unterbringung nach § 64 StGB geheilt werde. Aktuell hole er den mittleren Bildungsabschluss nach und wolle im Jahr 2020 eine Ausbildung zum Eventmanager beginnen. Er wolle für seine Tochter da sein, die zusammen mit ihrer Mutter regelmäßig zu Besuch komme. Die Vaterschaft sei im Dezember 2018 anerkannt worden.
Mit Schreiben vom 28. Januar 2020 hatte der Antragsteller persönlich geltend gemacht, er habe seine Tochter vor der Inhaftierung am 20. August 2018 regelmäßig (wöchentlich) gesehen. Auch während der Haftzeit sei die Tochter mit ihrer Mutter regelmäßig zu Besuch gekommen. Während der Therapie im Bezirkskrankenhaus sei der Kontakt durch die Mutter des Kindes abgebrochen worden, allerdings habe bis ca. Mitte Oktober telefonischer Kontakt bestanden. Der Antragsteller habe das Jugendamt in … um Unterstützung zum Wiederaufbau des Kontakts gebeten. Am 16. Januar 2020 habe ein Gespräch mit dem Jugendamt und der Erziehungsberatungsstelle zur Erwirkung einer Umgangsregelung stattgefunden. Da dieses Gespräch noch keine konkreten Ergebnisse gebracht habe, habe der Antragsteller eine Rechtsanwältin eingeschaltet.
Mit Schreiben vom 12. August 2020 beteiligte sich die Regierung …als Vertreterin des öffentlichen Interesses am Verfahren.
Mit Schriftsatz vom 18. August 2020 hat die Antragsgegnerin erwidert und Klageabweisung und Antragsablehnung beantragt.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen. Ein Absehen von Zwangsmaßnahmen wurde nicht zugesichert, da beabsichtigt sei, nach einer Entscheidung gemäß § 456a StPO aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten.
Mit Schriftsatz vom 7. September 2020 machte der Antragstellerbevollmächtigte geltend, die Antragsgegnerin habe im Bescheid selbst ausgeführt, dem Antragsteller stehe ein Recht nach Art. 7 ARB 1/80 zu. Daraus folge, dass der Antragsteller aktuell nicht zur Ausreise verpflichtet sei, denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gelte nicht im Falle eines bestehenden Aufenthaltsrechts nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80. Insoweit hätten Widerspruch und Klage gegen eine Ausweisung „echte“ aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Eine Ausreisepflicht bestehe gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG nur, wenn ein Ausländer einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitze und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr bestehe. Letzteres bestehe aber fort, solange ein Widerspruch oder eine Anfechtungsklage gegen die Ausweisungsverfügung aufschiebende Wirkung hätten. Unabhängig davon seien die besonderen Umstände des Antragstellers zu berücksichtigen. Dieser sei als Säugling in eine deutsche Pflegefamilie gekommen, und mit drei weiteren Geschwistern aufgewachsen. Er sei mit der deutschen Sprache groß geworden und habe selten Kontakt zu seiner türkischen Familie gehabt. Erst mit den Jahren sei der Kontakt zur leiblichen Mutter intensiver geworden. Zu seinem Vater habe nie Kontakt bestanden.
Mit Schriftsatz vom 11. September 2020 legte der Antragstellerbevollmächtigte eine Bestätigung der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern … vom 20. Juli 2020 vor, wonach am 16. Januar 2020 ein erstes Kennenlerntreffen zwischen dem Antragsteller, dessen Betreuerin, einer Mitarbeiterin des Jugendamtes … und einer Fachkraft der Beratungsstelle stattgefunden hat. Ausweislich der Bestätigung waren für den 31. März 2020, den 7. Juli 2020, den 28. Juli 2020 und den 11. August 2020 jeweils begleitete Umgänge geplant, die jedoch wegen Corona abgesagt werden mussten.
Mit Schriftsatz vom 18. September 2020 erwiderte die Antragsgegnerin, zwar gelte § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht im Falle eines bestehenden Aufenthaltsrechts nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80. Ein solches Recht des Antragstellers sei aber aufgrund der Anordnung des Sofortvollzugs der Ausweisung erloschen. Demzufolge komme der Klage keine aufschiebende Wirkung zu. Aufgrund der gravierenden Wiederholungsgefahr könne nicht vertreten werden, mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzuwarten, bis die Unterbringung beendet und ein künftig straffreies Verhalten über einen längerfristigen Zeitraum glaubhaft gemacht worden sei.
Mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2020 erwiderte der Antragstellerbevollmächtigte, die Ausweisung des Antragstellers sei an Art. 14 ARB 1/80 zu messen. Zur Begründung wurde auf das EuGH-Urteil in der Sache „Ziebell“ verwiesen.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klage- und Antragsverfahren unter Beiordnung des Bevollmächtigten war mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg abzulehnen (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 ZPO). Zur Begründung wird auf die folgenden Ausführungen verwiesen.
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in Ziffer I des streitgegenständlichen Bescheids vom 22. Juli 2020 verfügte Ausweisung und die in Ziffer II verfügte Befristungsentscheidung ist im Hinblick auf deren in Ziffer III angeordneten Sofortvollzug zulässig. Hinsichtlich der Ablehnung der Erteilung eines Aufenthaltstitels ist § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO deshalb statthaft, weil der Antragsteller bis zur streitgegenständlichen Verfügung im Besitz einer Fiktionsbescheinigung gewesen ist. Ebenso zulässig ist der Antrag im Hinblick auf die in den Ziffern V und VI verfügten Annexentscheidungen.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht in den Fällen, in denen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes angeordnet worden ist, die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage gegen diesen Verwaltungsakt ganz oder teilweise wiederherstellen. Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht auf Grund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine originäre Ermessensentscheidung darüber, ob das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung oder das Interesse des Betroffenen an der Aussetzung der sofortigen Vollziehung überwiegt. Das Gericht nimmt somit eine eigene Interessenbewertung vor. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Sie sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den gestellten Antrag. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird wohl nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrags auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, findet eine reine Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (BayVGH, B.v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 21).
Vorliegend ist der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung abzulehnen, da die Anordnung des Sofortvollzugs nicht zu beanstanden ist und die Klage in der Hauptsache nach summarischer Prüfung erfolglos bleiben wird.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffern I und II des Bescheides der Antragsgegnerin vom 22. Juli 2020 nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 Satz 1 VwGO begegnet keinen Bedenken und entspricht den an sie zu stellenden Anforderungen. Unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit wurde der sofortige Vollzug von der Antragsgegnerin auf spezialpräventive Erwägungen gestützt und das Interesse am Sofortvollzug von Ausweisung, Meldeauflage und Aufenthaltsbeschränkung dargelegt. Diese Begründung trägt den Sofortvollzug. Die Antragsgegnerin hat als tragenden Gesichtspunkt herausgestellt, dass die begründete Besorgnis besteht, dass die im Fall des Antragstellers prognostizierte Gefährdung bedeutender Rechtsgüter sich bereits während eines verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens realisieren könnte und dabei Gefahren entstünden, die Grundinteressen der Gesellschaft beeinträchtigen.
Die streitgegenständliche Ausweisung des Antragstellers wird im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach nicht zu beanstanden sein. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 25).
Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem Verbleib des Ausländers ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Dem Antragsteller stand im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu. Daher darf er als insoweit privilegierter Ausländer gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine gegenwärtig schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, so dass die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 13.3.2017 – 10 ZB 17.226 – juris Rn. 6 ff. m.w.N.). Eine explizite Prüfung der Ausweisung an Art. 14 ARB 1/80 ist nicht (mehr) erforderlich, da § 53 Abs. 3 AufenthG mittlerweile die Voraussetzungen kodifiziert, die nach ständiger Rechtsprechung (z.B. EuGH, B.v. 8.12.2011 – Ziebell C-371/80 – juris) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein müssen (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 29 f. m.w.N.; BayVGH, U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris Rn. 31).
Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG sind hier erfüllt: Das persönliche Verhalten des Antragstellers stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31). Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein gravierender Schaden eintreten wird. Dabei sind die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (st.Rspr; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34 und B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31). Bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr zudem nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie beziehungsweise eine andere Suchttherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Angesichts der erheblichen Rückfallquoten während einer andauernden Drogentherapie und auch noch in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie kann allein aus der begonnenen Therapie noch nicht auf ein künftiges straffreies Leben geschlossen werden (BayVGH, B.v. 26.11.2015 – 10 ZB 14.1800 – juris Rn. 7; B. v. 13.5.2015 – 10 C 14.2795 – juris Rn. 4; B.v. 21.2.2014 – 10 ZB 13.1861 – juris Rn. 6).
Vorliegend geht die Antragsgegnerin in dem streitgegenständlichen Bescheid zutreffend davon aus, dass nach dem persönlichen Verhalten des Antragstellers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Die Gefahrenprognose wird konkret durch das Verhalten des Antragstellers im Bundesgebiet getragen. Anlass für die Ausweisung war die Verurteilung durch das Amtsgericht … vom 15. Juli 2019 zu einer Jugendstrafe von drei Jahren wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln. Der Antragsteller hatte gemeinsam mit einem Mittäter in den Niederlanden bei mehreren Gelegenheiten insgesamt mindestens 850 Gramm Marihuana eingekauft, nach Deutschland verbracht und an einen Komplizen zum Verkauf weitergegeben. Als Gegenleistung hatte der Antragsteller Betäubungsmittel zum Eigenkonsum erhalten. Zudem hatte der Antragsteller bei einer Kontrolle im Bereich des U-Bahnhofs … knapp 0,5 Gramm Kokain und 35 Ecstasy-Tabletten mit sich geführt.
Das Strafgericht ging auf Basis der schwierigen Familiensituation und des langjährigen Drogenkonsums von einer Entwicklungsverzögerung aus und wendete gegenüber dem zum Tatzeitpunkt 19- bzw. 20-jährigen Antragsteller Jugendstrafrecht an. Bei der Strafzumessung wurden zu Gunsten des Antragstellers gewertet, dass er ein Geständnis abgelegt und Aufklärungshilfe geleistet hatte, zudem, dass es sich bei Marihuana um eine weiche Droge handelt und dass die anderen Drogen nicht ausschließbar nur zum Eigenkonsum dienten. Zu Lasten des Antragstellers wertete das Gericht die enorme Rückfallgeschwindigkeit und die Begehung unter offener Reststrafenbewährung. Das Gericht bejahte sowohl die Schwere der Schuld wie auch schädliche Neigungen.
Nicht nur die Anlassstraftat, sondern der gesamte bisherige Werdegang des Antragstellers lassen darauf schließen, dass von ihm eine schwerwiegende, Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. So führt die Antragsgegnerin zutreffend aus, dass der Antragsteller bereits als strafunmündiges Kind mehrmals polizeilich in Erscheinung getreten ist und mit 15 Jahren als jugendlicher Intensivtäter galt. Auch während früherer Haft- und Unterbringungsmaßnahmen hat er mehrfach Straftaten begangen. Im Jahr 2014 wurde der Antragsteller wegen gemeinschaftlichen Diebstahls mit Sachbeschädigung in zwei Fällen, gemeinschaftlicher Sachbeschädigung in vier Fällen, versuchten schweren Bandendiebstahls mit Sachbeschädigung in vier Fällen und versuchten Betrugs zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren 3 Monaten verurteilt. Der Verurteilung zugrunde lagen mehrere Einbruchsdiebstähle in Ladenlokale. Auch diese Taten sind für sich genommen schon geeignet, auch bei Inhabern eines ARB-Status einen Ausweisungsanlass zu bilden, denn der Schutz von Vermögen und Eigentum vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter ist nicht nur ein rein wirtschaftliches Interesse; er gewährleistet die Funktionsfähigkeit von Gesellschaft und Wirtschaft, womit er ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt (vgl. BVerwG, U.v. 02.09.2009 – 1 C 2/09 – juris Rn. 16; OVG Bremen, U.v. 29.10.2019 – 2 B 169/19 – juris Rn. 17 m.w.N.). Schwer gefährdet wird dieses Grundinteresse, wenn Eigentums- oder Vermögensstraftaten gewerbsmäßig begangen werden oder sonstige erschwerende Umstände vorliegen (vgl. BVerwG, U.v. 02.09.2009 – 1 C 2/09 – juris Rn. 16; VGH Mannheim, U.v. 04.11.2009 – 11 S 2472/08 – juris Rn. 37; OVG Saarland, B.v. 14.02.2018 – 2 A 810/17 – juris Rn. 10). Vorliegend hatte der Antragsteller die der Verurteilung im Wesentlichen zugrundeliegenden Einbruchsdiebstähle in Ladenlokale bandenmäßig begangen. 2015 ist der Antragsteller aus der Jugendhaft entwichen, 2018 trat er eine Jugendstrafe nicht an.
Im vorliegenden Fall ist aus der Entwicklung des Antragstellers nach der Anlassverurteilung nicht darauf zu schließen, dass die durch die vergangenen Straftaten indizierte Gefährlichkeit des Antragstellers beseitigt ist. Ausweislich eines psychiatrischen Fachgutachtens ist der Antragsteller in einem kombinierten Abhängigkeitsverhältnis zu Kokain und Cannabis. Bei fortbestehender Suchtmittelproblematik besteht ein hohes Risiko für neue Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz. Die nach § 64 StGB angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde im August 2019 begonnen, ist aber nach Aktenlage noch nicht abgeschlossen. Auch wenn die Therapie mittlerweile fortgeschritten ist, so führt dies nicht zu einer geänderten Gefahrprognose: Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nämlich erst dann ausgegangen werden, wenn die Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht ist (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2015 – 10 ZB 14.1800 – juris Nr. 7; BayVGH, B.v. 25.9.2019 – 19 ZB 18.2047). Dies gilt vorliegend umso mehr, als der Antragsteller auch früher schon eine Drogenentwöhnungstherapie abgebrochen hat und in der Folge wieder strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Im Übrigen haben den Antragsteller bisher weder ausländerrechtliche Ermahnungen noch strafrechtliche Verurteilungen und Haftverbüßungen beeindruckt.
Schließlich ist im Hinblick auf die Gefahrprognose zu sehen, dass der illegale Drogenhandel, wegen dem der Antragsteller verurteilt wurde, zu den Bereichen besonders schwerer Kriminalität zählt und höchste Rechtsgüter gefährdet werden, sodass an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit regelmäßig geringere Anforderungen zu stellen sind.
Im Rahmen der Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteressen überwiegen bei summarischer Prüfung die Ausweisungsinteressen.
Im Hinblick auf den Antragsteller besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG, denn der letzten, den Ausweisungsanlass bildenden Verurteilung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren, lag ein Betäubungsmitteldelikt zugrunde.
Zugunsten des Antragstellers geht die Kammer (jedenfalls in entsprechender Anwendung des § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) von einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse aus.
Nach dieser Norm wiegt das Bleibeinteresse eines Ausländers u.a. dann besonders schwer, wenn er eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren ist und sich seit mindestens 5 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Der Antragsteller ist vorliegend im Bundesgebiet geboren und hielt sich seit mindestens 5 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Zwar war die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers nach § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. (jetzt: § 4 Abs. 2 AufenthG) im Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Verfügung abgelaufen und eine Fiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG steht insoweit einer Aufenthaltserlaubnis nicht gleich (vgl. Bergmann/Dienelt/Bauer, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 55 Rn. 8; BayVGH, B.v. 24.7.2017 – 19 CS 16.2376 – juris Rn 13 m.w.N.). Das Recht aus Art. 7 ARB 1/80, das den Charakter eines Daueraufenthaltsrechts hat und kraft Gesetzes besteht, steht nach Auffassung der Kammer jedoch einer Aufenthaltserlaubnis gleich. Diese Rechtsposition kann (abschließend) nur durch Ausreise oder – wie hier – gemäß Art. 14 ARB 1/80 mit der Ausweisung erlöschen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 19/14 – BVerwGE 151, 377; juris Rn. 14 m.w.N.). Solange das Recht aus dem ARB 1/80 fortbesteht hat der Ausländer demzufolge auch einen Anspruch auf Ausstellung einer dieses Recht lediglich bestätigenden Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG, sodass es der Kammer nach summarischer Prüfung geboten erscheint, vorliegend von einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse auszugehen (so in vergleichbaren Fällen auch VG München, U.v. 21.4.2016 – M 10 K 16.320 – juris Rn. 99 f. und VG Sigmaringen, U.v.12.12.2017 – 4 K 877/17 – juris Rn. 52; billigend: BayVGH, U.v.28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris Rn. 41).
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Antragstellers mit den Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt dennoch, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung überwiegt. Die streitgegenständliche Ausweisung ist weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG – allerdings nicht abschließend – aufgeführten Umstände noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK unverhältnismäßig.
Die Antragsgegnerin hat in die vorzunehmende Abwägung insoweit zutreffend eingestellt, dass der Antragsteller im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist, hat aber auch gesehen, dass es ihm trotz des langen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht gelungen ist, sich sozial und wirtschaftlich zu integrieren. Einen Schulabschluss hat der Antragsteller erst in der Haft erworben, eine Berufsausbildung hat er nicht.
Die Antragsgegnerin hat auch berücksichtigt, dass die Mutter und die deutsche Tochter des Antragstellers in Deutschland leben. Zur Tochter bestand aber bisher nur sporadischer Kontakt. Aus einer in den Akten befindlichen Stellungnahme des Kreisjugendamtes … vom 11. Februar 2020 ergibt sich, dass der Antragsteller kein Sorgerecht für die Tochter besitzt. Seit der Feststellung seiner Vaterschaft war der Antragsteller durchgängig inhaftiert bzw. untergebracht. Die Kindsmutter und das Kind haben ihn insgesamt nur viermal besucht. Seit Juni 2019 besteht kein Kontakt mehr. Zwar bemüht sich der Antragsteller aktuell um eine Umgangsregelung, eine gefestigte Vater-Kind-Beziehung besteht nach Aktenlage aktuell aber nicht.
Bezüglich der Mutter des Antragstellers ist auszuführen, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn erwachsene Kinder und ihre Eltern an unterschiedlichen Orten oder Ländern leben.
Die Ausweisung verstößt vor diesem Hintergrund auch nicht gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK und erscheint angesichts der Gesamtumstände nicht unverhältnismäßig. Die genannten Normen gewähren keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, sondern begründen lediglich eine Verpflichtung der Ausländerbehörden, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12). Der Antragsteller hat sich aber auch in der Vergangenheit nicht durch seine familiären Bindungen von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen. Durch die Haftverbüßungen bestand zum Teil auch in der Vergangenheit schon nur ein eingeschränkter Kontakt. Der Eingriff in das grundgesetzlich geschützte Recht der Ehe und Familie daher ist vorliegend aus Gründen der Gefahrenabwehr und aus den dargestellten überragenden öffentlichen Interessen angezeigt. Dem Antragsteller ist es insofern zuzumuten, den Kontakt zu seinen Familienangehörigen auf andere Weise aufrechtzuerhalten, zumal die Trennung von seiner Familie ausschließlich Konsequenz seines kriminellen Verhaltens ist. Die Kammer ist der Überzeugung, dass es dem Antragsteller möglich und zumutbar ist, in sein Heimatland zurückzukehren. Zwar ist er in Deutschland geboren und lebt seitdem hier, er ist aber seit seinem zwölften Lebensjahr bei seiner türkischen Mutter aufgewachsen, so dass davon auszugehen ist, dass er mit der Sprache und der Kultur seines Heimatlandes zumindest grundlegend vertraut ist.
Auch die Ablehnung der Erteilung eines Aufenthaltstitels in Ziffer IV des streitgegenständlichen Bescheides ist nach summarischer Prüfung nicht zu beanstanden, denn einem Anspruch des Antragstellers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels steht infolge der voraussichtlich rechtmäßigen Ausweisungsentscheidung schon die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 AufenthG entgegen. Insbesondere hat der Antragsteller keinen Anspruch auf die deklaratorische Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG (n.F.) mehr, denn mit einer Ausweisung verliert der betroffene türkische Staatsangehörige auch seine aus Artikel 6 oder 7 ARB 1/80 erworbenen Rechte (Bergmann/Dienelt/Dienelt, 13. Aufl. 2020, ARB 1/80 Art. 14). Zwar erlischt ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht, solange Widerspruch und Klage gegen eine Ausweisungsverfügung aufschiebende Wirkung entfalten (BeckOK MigR/Gerstner-Heck, 6. Ed. 1.10.2020 Rn. 10, EWG-Türkei Art. 14 Rn. 10). Vorliegend hat die Antragsgegnerin aber die Ausweisung für sofort vollziehbar erklärt, was zur Folge hat, dass bis zu einer (vorliegend nicht gewährten) Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage die Ausweisung vollumfänglich Rechtswirkung entfaltet.
Sind die Ausweisung und die Titelversagung nach summarischer Prüfung nicht zu beanstanden, so sind auch die in Ziffern V und VI des streitgegenständlichen Bescheids gemäß §§ 58, 59 AufenthG verfügten ausländerrechtlichen Annexentscheidungen rechtmäßig.
Keinen Bedenken begegnet schließlich auch die von der Antragsgegnerin in Ziffer II getroffene Entscheidung, die Wirkung der Ausweisung und Abschiebung des Antragstellers auf sechs Jahre ab Ausreise oder Abschiebung zu befristen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot hat nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zur Folge, dass der Antragsteller nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf. Ihm darf selbst im Falle eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 AufenthG von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist mit der Ausreise zu laufen beginnt. Über die Länge der Frist, die nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten darf, wird nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist von fünf Jahren ist dabei fallbezogen ohne Bedeutung, da der Antragsteller aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist (vgl. § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG). Es bedarf der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zu Grunde liegt, das öffentlichen Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2014 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrwirkung muss sich dabei an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2014 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Gemessen an diesen Vorgaben kann der Antragsteller auch nicht hilfsweise die Verpflichtung der Antragsgegnerin beanspruchen, über die Befristung der Wirkung der Ausweisung und Abschiebung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Ermessensfehler sind insoweit nicht ersichtlich. Die Antragsgegnerin hat das Gewicht des im Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung bestehenden Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck herausgearbeitet und ist – unter Berücksichtigung der noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung zugunsten des Antragstellers – beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Befristung von sechs Jahren angemessen ist.
Im Übrigen folgt das Gericht der ausführlichen Begründung des Bescheides der Antragsgegnerin vom 22. Juli 2020 und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 117 Abs. 5 VwGO analog ab.
Kosten: § 154 Abs. 1 VwGO.
Streitwert: §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG.


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