Verwaltungsrecht

Ausweisung, türkischer Staatsangehöriger mit Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80, Verurteilung wegen zahlreicher Delikte, schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Wiederholungsgefahr, Betäubungsmittelabhängigkeit

Aktenzeichen  10 ZB 21.1920

Datum:
27.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30876
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 ff.

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 24 K 20.2377 2021-05-06 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid vom 19. Mai 2020 in der Fassung vom 6. Mai 2021, mit dem die Beklagte seine Ausweisung verfügt, die Wiedereinreise für sechs (im Falle der Straf- und Drogenfreiheit vier) Jahre untersagt und seine Abschiebung in die Türkei angedroht hat, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht ergeben.
Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig angesehen. Sie sei nach § 53 Abs. 3 AufenthG zulässig, weil das persönliche Verhalten des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses nach der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich sei. Der Kläger habe mehrere schwerwiegende Straftaten, insbesondere Eigentums, Köperverletzungs- und Drogendelikte, begangen, und es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers als „faktischer Inländer“ und Besitzer einer Niederlassungserlaubnis und stelle sich auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 EMRK als verhältnismäßig dar.
Das Zulassungsvorbringen des Klägers, das sich in Einwänden hinsichtlich der Annahme einer Wiederholungsgefahr durch das Verwaltungsgericht erschöpft, begründet – auch zum für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr des BVerwG, vgl. z.B. U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 25) – keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18) und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 6 f.; zuletzt B.v. 24.3.2020 – 10 ZB 20.138 – Rn. 2) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Ausgehend hiervon teilt der Senat die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts. Das Verwaltungsgericht hat sich umfassend und detailliert mit den zahlreichen Straftaten des Klägers und seiner – auch aktuellen – Drogenabhängigkeit auseinandergesetzt. Der Kläger wurde demnach seit 2002 wegen zahlreicher Straftaten unter anderem wegen räuberischen Diebstahls (2009), unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (2010), Bedrohung in Tateinheit mit Körperverletzung (2011), Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch (2017) sowie Diebstahls in vier Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung verurteilt (2019). Wegen der letztgenannten Tat wurde er mit Urteil des Amtsgerichts München vom 27. November 2019 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten sowie zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt, wobei die Maßnahme nach § 64 StGB inzwischen wegen fehlender Erfolgsaussichten abgebrochen und der Kläger in den regulären Strafvollzug verlegt wurde. Ausgehend hiervor ist das Verwaltungsgericht zu Recht von einer vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr ausgegangen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 5.5.2020 – 10 ZB 20.399 – juris Rn. 7; B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 20.249 – juris Rn. 9; B.v. vom 16.9.2019 – 10 ZB 19.1614 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.; U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27; B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 25 m.w.N.) kann bei Straftaten, die – wie hier – ihre (Mit-)Ursache in einer Suchtmittelproblematik haben, von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und sich der Betreffende nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat. Davon kann beim Kläger, der noch immer nicht mit einer Therapie begonnen hat, nicht die Rede sein.
Soweit sich das Zulassungsvorbringen gegen die Annahme des Erstgerichts, wendet, es drohe eine „schwerwiegende“ Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, begründet es ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Der Kläger will aus dem Umstand, dass bei den letzten beiden abgeurteilten Straftaten keine Gewalt gegen Menschen verübt und keine „Privatperson“ betroffen gewesen seien, schießen, dass keine schwerwiegenden Straftaten, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren, vorgelegen hätten. Dieser Einwand greift nicht durch.
Dass die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verlangt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, schließt in erster Linie eine Ausweisung wegen Fällen von Klein- oder Bagatellkriminalität aus. Wann umgekehrt eine schwerwiegende, ein Grundinteresse der Gesellschaft tangierende Gefahr vorliegt, lässt sich nicht losgelöst vom Einzelfall abstrakt bestimmen. Jedenfalls sind erhöhte Anforderungen an die Qualität der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stellen. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit brauchen bei der Ausweisung türkischer Staatsangehöriger mit ARB-Berechtigung gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG jedoch nicht vorliegen. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vermittelt lediglich einen Art. 12 RL 2003/109/EG entsprechenden Ausweisungsschutz (EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, Ziebell – NVwZ 2012, 229), der vom nationalen Gesetzgeber in § 53 Abs. 3 AufenthG umgesetzt wurde (vgl. BayVGH, U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris). Vorsätzliche Straftaten, mit denen der Täter gegen die durch die Grundrechte errichtete objektive Wertordnung und die damit verbundenen staatlichen Schutzpflichten verstößt (Art. 2 GG, Art. 14 GG), stellen nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. BayVGH, U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris Rn. 34) jedenfalls einen hinreichend schweren Ausweisungsanlass dar, der über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung deutlich hinausgeht und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Verwaltungsgericht hat – neben dem Verweis auf die vom Kläger begangenen Gewalt- und Betäubungsmittelstraftaten – zu Recht auch darauf hingewiesen, dass der Kläger „in erster Linie“ mit den von ihm vielfach begangenen Diebstähle – sehr häufig in Tateinheit mit Sachbeschädigung – als gegen das grundrechtlich geschützte Privateigentum Dritter gerichtete, vorsätzliche Straftaten begangen hat. Solche Straftaten erfüllen ebenfalls den Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 3 AufenthG (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2019 – 10 ZB 19.1781 – juris Rn. 7). Substantiierte Darlegungen, die gegen die Prognose sprechen, der Kläger werde künftig weitere solche Straftaten begehen, weswegen auch insofern eine gegenwärtige Gefahr vorliege, enthält das Zulassungsvorbringen nicht.
Auch die vom Verwaltungsgericht gemäß § 53 Abs. 1 bis 3, § 54 und § 55 AufenthG vorgenommene Interessenabwägung ist nicht zu beanstanden. Insofern verweist der Senat auf die zutreffende Begründung des Verwaltungsgerichts (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Substantielle Rügen hierzu enthält das Zulassungsvorbringen nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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