Verwaltungsrecht

Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling

Aktenzeichen  M 18 S 20.3892

Datum:
29.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41821
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
SGB VIII § 42a, § 42f
SGB X § 45, § 48

 

Leitsatz

1. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist erst dann gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ob im Fall der nachträglichen gutachterlichen Feststellung, dass der Antragsteller bereits im Zeitpunkt seiner vorläufigen Inobhutnahme volljährig war, § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X oder § 45 Abs. 1 S. 1 SGB X als Rechtsgrundlage heranzuziehen ist, kann offenbleiben, da beide Vorschriften eine Beendigung der Maßnahme jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft rechtfertigen und damit die vorzunehmende Interessensabwägung zulasten des Antragstellers ausfällt. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
3. Angesichts der hohen Analphabetenrate in Afghanistan, der gravierenden Mängel im Personenstands- und Beurkundungswesen dort und der stets gleichen Angabe über seinen Geburtstag gegenüber den deutschen Behörden erscheint zweifelhaft, ob der Antragsteller vorsätzlich unrichtige Angaben gemacht hat. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Beendigung seiner vorläufigen Inobhutnahme als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger und reiste am … 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er am … 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag. Im Asylverfahren machte er eine psychische Erkrankung geltend und legte hierzu einen Arztbrief einer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin sowie einen ärztlich-psychologischen Bericht einer Kinder- und Jugendpsychiatrie jeweils vom … 2019 vor. Ferner legte er eine Tazkira im Original, ausgestellt in Afghanistan am … 2019, nebst beglaubigter Übersetzung ins Deutsche vor, wonach er im Jahr 2016 19 Jahre alt geworden sei.
Am … 2019 beantragte er bei der vormals zuständigen Ausländerbehörde seine vorläufige Inobhutnahme wegen Minderjährigkeit. Mit Bescheid vom 2. September 2019 wurde der Antrag abgelehnt und im Wesentlichen ausgeführt, eine Minderjährigkeit habe nach Durchführung einer sog. qualifizierten Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter des Jugendamtes zweifelsfrei ausgeschlossen werden können. Zudem habe der Antragsteller zu seinem Alter widersprüchliche Angaben gemacht.
Der Antragsteller wurde in sämtlichen Behördenakten fortan mit dem Geburtsdatum … 2001 erfasst.
Mit Bescheid vom 22. Oktober 2019 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag als unzulässig ab, verneinte Abschiebungsverbote und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland an, welches nach den Regelungen der sog. Dublin III-Verordnung für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig sei. Gegen die Entscheidung des Bundesamts suchte der Kläger Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht München (Klage M 19 K 19.51177 und Eilantrag M 19 S 19.51178). Dieses ordnete mit Beschluss vom 13. November 2019 – M 19 S 19.51178 – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 22. Oktober 2019 an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller eine vulnerable Person in Gestalt eines unbegleiteten Minderjährigen darstelle und seine Abschiebung nach Griechenland daher unzulässig sei; der Rückgriff des Bundesamtes auf die sog. qualifizierte Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt zur Altersfeststellung des Antragstellers sei unzulässig und zudem unzureichend gewesen; vielmehr hätte hierzu eine medizinische Untersuchung veranlasst werden müssen.
Der Antragsteller war zwischenzeitlich dem Antragsgegner zugewiesen worden und begehrte nunmehr von diesem – auch unter Zuhilfenahme gerichtlichen Rechtsschutzes (M 18 K 20.1806; M 18 E 20.1807) – die vorläufige Inobhutnahme. Mit Bescheid vom 7. Mai 2020 nahm der Antragsgegner den Antragsteller daraufhin „bis zur ärztlichen Feststellung seines Alters“ vorläufig in Obhut; der Antragsteller wurde in einer Jugendwohngruppe untergebracht. Die gerichtlichen Verfahren M 18 K 20.1806 und M 18 E 20.1807 wurden nach Erledigungserklärung seitens der Beteiligten eingestellt.
Der Antragsgegner beauftragte das Institut für Rechtsmedizin der … mit der körperlichen Untersuchung des Antragstellers zur Feststellung seines tatsächlichen Lebensalters einschließlich der Anfertigung der erforderlichen Röntgenaufnahmen und einer zahnärztlichen Untersuchung.
Die rechtsmedizinische Untersuchung des Antragstellers fand am … 2020 statt. In dem daraufhin erstellten Gutachten vom … 2020 wurde zunächst festgestellt, dass sich nach dem vom Antragsgegner angesetzten Geburtsdatum … 2001 zum Zeitpunkt der körperlichen Untersuchung ein Lebensalter des Antragstellers von ca. 19 Jahre und 2 Monate ergebe.
Der subjektive Eindruck des untersuchenden Arztes aus der körperlichen Untersuchung liege bei „unter 18 Jahre“, was aber grundsätzlich nur Hinweischarakter habe. Die untersuchende Zahnärztin gehe bei noch nicht verschlossenen Wurzelspitzen an den Weisheitszähnen im Oberwir Unterkiefer davon aus, dass das angegebene Geburtsdatum zutreffen könnte. Nach der zugrundezulegenden Literatur werde das Stadium G1 im Oberkiefer mit durchschnittlich 18,2 +/- 1,9 Jahren erreicht, im sich später entwickelnden Unterkiefer mit 18,3 +/-1,9 Jahren. Nur rund die Hälfte mit einem solchen Befund seien aber bereits über 18 Jahre alt (Oberkiefer 47%; Unterkiefer 56%).
Das Skelett der linken Hand sei auf einer konventionellen Röntgenaufnahme vollständig verschlossen, entsprechend der Standardtafel nach Greulich und Pyle für „männlich, 19 Jahre und beliebig darüber“. Ein solcher Befund komme aber heutzutage auch bei 17-jährigen relativ regelmäßig vor.
In der Computertomografie der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke habe sich bereits ein Stadium 3c nach Kellinghaus et. al., entsprechend einem regulär angelegten und zu über 2/3 bereits mit dem Schaftende fusionierten Wachstumsfugenkern ergeben. Ein solches Stadium 3c sei nach der grundlegenden Literatur nach Kellinghaus et. al. bisher frühestens mit 19,7 und spätestens mit 26,2 Jahren so beobachtet worden. Der Mittelwert habe bei 22,9 +/- 1,8 Jahren gelegen, die mittleren 50% mit einem solchen Befund seien zwischen 21,4 und 24,1 Jahre alt gewesen. Nach neueren Daten von Wittschieber et. al. aus derselben Altersgruppe habe der jüngste bisher Untersuchte mit einem Stadium 3c bei 19,0 Jahren gelegen.
Zusammenfassend sei das Geburtsdatum … 2001 mit den Untersuchungsbefunden problemlos vereinbar. Das Mindestalter liege ausweislich der computertomographischen Untersuchung der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke maximal zwei Monate niedriger. Ein wesentlich höheres Lebensalter sei aber nicht wahrscheinlich.
Die ethnische Herkunft des Antragstellers sei nach derzeitigem wissenschaftlichem Erkenntnisstand nur für die Beurteilung der Zahnentwicklung relevant, bezüglich der Knochenentwicklung existierten keine systematischen Unterschiede.
Mit Bescheid vom 23. Juli 2020 nahm der Antragsgegner seinen Bescheid vom 7. Mai 2020 über die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers gemäß § 42a i.V.m. § 42f Abs. 2 SGB VIII in einer Wohngruppe zurück.
Wie durch das gerichtsmedizinische Gutachten festgestellt worden sei, sei der Antragsteller zum Zeitpunkt der vorläufigen Inobhutnahme bereits 19 Jahre alt gewesen. Da eine Inobhutnahme Volljähriger rechtlich nicht möglich sei, sei der Bescheid vom 7. Mai 2020 rechtswidrig und könne nach Maßgabe von § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X zurückgenommen werden. Da die vorläufige Inobhutnahme auf Angaben beruht habe, die der Antragsteller vorsätzlich unrichtig getätigt habe, könne eine Rücknahme auch mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen, § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X. Die Rücknahme sei sowohl erforderlich als auch geeignet, um die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns wiederherzustellen; ein milderes Mittel sei nicht ersichtlich.
Am 24. April 2020 erhoben die Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers Klage zum Verwaltungsgericht München (M 18 K 20. 38891) mit dem Antrag, den Antragsgegner unter Aufhebung des Bescheids vom 23. Juli 2020 zu verpflichten, den Antragsteller weiterhin vorläufig in der Wohngruppe P. R. in Obhut zu nehmen.
Gleichzeitig ist im vorliegenden Verfahren beantragt worden,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die durch den Bescheid vom 23. Juli 2020 beendete vorläufige Inobhutnahme und die Unterbringung in der Wohngruppe P. R. anzuordnen.
Zur Begründung wird vorgetragen, der Antragsteller habe bereits bei seiner ersten Registrierung angegeben, dass er am … 2003 geboren sei, und dazu eine Geburtsurkunde aus Afghanistan vorgelegt, die nach behördlichen Erkenntnissen keine Fälschung und frei von Manipulationen sei. Sein Antrag vom … 2019 beim Stadtjugendamt auf eine Altersfeststellung sei dennoch abgelehnt worden und der Antragsteller sei zusammen mit Erwachsenen in einer ANKER-Einrichtung untergebracht worden. Erst nach Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtschutzes habe der Antragsgegner den Antragsteller schließlich unter Anordnung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung vorläufig in Obhut genommen. Die Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers seien über das Ergebnis des Gutachtens nicht unterrichtet worden; erst am Tag des Umzugs des Antragstellers aus der Wohngruppe in eine Gemeinschaftsunterkunft am … 2020 hätten sie durch die Jugendhilfeeinrichtung davon erfahren. Dem Antragsteller sei durch die ihm vorliegende fachärztliche Stellungnahmen von … vom … 2020 zu diesem Zeitpunkt bekannt gewesen, dass der Antragsteller aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung dringend eine vollstationäre Unterbringung benötige. Dass der Antragsteller aus entwicklungspsychologischer Sicht eine altersgerechte psychosoziale Entwicklung noch nicht erreicht habe, werde auch durch den fachärztlichen Zwischenbericht vom … 2020 bestätigt. Die Bevollmächtigten des Antragstellers hätten daher einen entsprechenden Antrag auf Hilfe für junge Volljährige im Rahmen einer vollstationären Unterbringung gestellt.
Der Antragsgegner habe die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers trotz Vorliegens eines Zweifelsfalls und damit rechtswidrig beendet. Die Art und Weise der Altersfeststellung sei in § 42f SGB VIII normiert; nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII sei in Zweifelsfällen im Rahmen – also bereits als Teil – der vorläufigen Inobhutnahme eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen. Könne selbst nach ärztlicher Untersuchung das Alter nicht sicher festgestellt werden, sei mit Blick auf die Schutzverpflichtung von einer Minderjährigkeit auszugehen und die vorläufige Inobhutnahme durchzuführen. Vorliegend habe weder der zahnmedizinische Befund noch die Untersuchung des Handwurzelknochens sicheren Aufschluss über die Volljährigkeit des Antragstellers geben können; zudem habe der Gutachter nach der subjektiven körperlichen Untersuchung selbst den Eindruck gehabt, dass der Antragsteller unter 18 Jahre alt sei. Die Brust-Schlüsselbein-Gelenke hätten nach den neueren Daten ergeben, dass ein 19-jähriger einen derartigen Knochenbau haben könne. Es liege somit eindeutig ein Zweifelsfall vor. Die Schlussfolgerung des untersuchenden Gutachters sei nicht ansatzweise nachvollziehbar. Hinzu komme der psychiatrisch-psychotherapeutische Aspekt; der Facharzt habe insoweit ausdrücklich einen unreifen und unselbstständigen Eindruck und eine nicht altersgerechte psychosoziale Entwicklung des Antragstellers bestätigt, wobei er sogar noch von dessen Minderjährigkeit ausgegangen sei. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führe in ständiger Rechtsprechung aus, dass alle bekannten Verfahren – auch eine ärztliche Untersuchung – allenfalls Näherungswerte über das Lebensalter liefern könnten, medizinische Untersuchungsmethoden zum Teil eine Schwankungsbreite von bis zu fünf Jahren aufwiesen und allgemein von einem Graubereich von ca. ein bis zwei Jahren auszugehen sei. Angesichts der erheblichen Schwankungsbreite medizinischer Untersuchungsmethoden von bis zu fünf Jahren werde es nach der Rechtsprechung eines „Sicherheitszuschlags“ von weiteren zwei bis drei Jahren bedürfen, wenn der Antragsgegner zu der Auffassung komme, dass der Antragsteller gerade als volljährig geworden einzuschätzen sei, um dem Kindeswohl angemessen Rechnung zu tragen und jeder vermeidbaren Fehlbeurteilung entgegenzuwirken. Sei – wie hier – nach der ärztlichen Untersuchung die Volljährigkeit weiterhin zweifelhaft, gelte auch unter Berücksichtigung der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) und von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG der Grundsatz „im Zweifel pro Minderjährigkeit“. Angesichts des nicht eindeutigen ärztlichen Gutachtens und der Einschätzung des psychiatrischen Facharztes könne im vorliegenden Fall die Minderjährigkeit des Antragstellers nicht sicher ausgeschlossen werden, sodass der Antragsgegner zu einer Inobhutnahme verpflichtet gewesen sei.
Mit Schreiben vom 27. August 2020 hat der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Das rechtsmedizinische Gutachten habe eine Volljährigkeit des Antragstellers in der Zusammenfassung bestätigt. Das Geburtsdatum … 2001 sei mit den Untersuchungsergebnissen problemlos vereinbar, das Mindestalter liege maximal zwei Monate niedriger. Mit Bescheid vom 24. Juli 2020 habe der Antragsgegner dem Antragsteller Hilfe für junge Volljährige im Rahmen einer Erziehungsbeistandschaft vorerst bis 31. Oktober 2020 bewilligt und zudem in der Zeit nach dem Umzug in die Gemeinschaftsunterkunft eine zweiwöchige Nachtrufbereitschaft installiert. Diese habe der Antragsteller jedoch nicht in Anspruch genommen. Die gewährte Hilfe für junge Volljährige sei aus Sicht der beteiligten Fachkräfte sinnvoll und ausreichend, um den Antragsteller in seiner Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Beim Hausbesuch zur Hilfeplanaufnahme sei der Antragsteller als psychisch stabiler junger Mensch angetroffen worden. Zudem habe er bereits eine engere Freundschaft zu einem Mitbewohner geknüpft, welche seiner Entwicklung zuträglich sei. Der psychische Zustand des Antragstellers könne durch die ambulante Hilfe für junge Volljährige aufgefangen und abgemildert werden.
Zwischenzeitlich haben die Verfahrensbevollmächtigten eine weitere Klage zum Verwaltungsgericht München erhoben mit dem Ziel, den Antragsgegner unter Aufhebung des Bescheids vom 23. Juli 2020 zu verpflichten, dem Antragsteller Hilfe für junge Volljährige in Form der vollstationären Unterbringung zu bewilligen (M 18 K 20.3922); die bisher mit Bescheid vom 24. Juli 2020 bewilligte Erziehungsbeistandschaft sei nicht ausreichend.
Unter dem 23. September 2020 übersandten die Verfahrensbevollmächtigten eine Kopie des eingetroffenen Nationalpasses des Antragstellers, in dem als Geburtsdatum der … 2003 eingetragen ist; der Pass werde derzeit auf seine Echtheit überprüft. Ferner übermittelten sie eine fachärztliche Stellungnahme von … vom … 2020, in der unter anderem nochmals der nicht altersentsprechende psychosoziale Entwicklungsstand sowie die Unselbstständigkeit des Antragstellers betont wurden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren, in den Verfahren M 18 K …, M 19 K …, M 19 S … und M 18 K … sowie auf den Inhalt der vom Antragsgegner in den Gerichtsverfahren vorgelegten Behördenakten und die beigezogenen Asylakten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge verwiesen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Juli 2020 über die Rücknahme der vorläufigen Inobhutnahme ist zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg.
Nach § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII entfalten Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII oder die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung.
In solchen Fällen, in denen der Suspensiveffekt eines Rechtsmittels nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kraft Gesetzes entfällt, kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und
Klage ganz oder teilweise anordnen.
Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine originäre Ermessensentscheidung, bei der es zwischen dem in der gesetzlichen Regelung – hier § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII – zum Ausdruck kommenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen hat. Bei der zu treffenden Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
Nach diesen Maßgaben überwiegt vorliegend das öffentliche Vollzugsinteresse gegenüber dem Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.
1) Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach § 42a Abs. 1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Inobhutnahme die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Anspruchsberechtigt nach der vorgenannten Norm sind ausschließlich Kinder und Jugendliche, also nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB VIII Personen, die noch nicht 18 Jahre alt sind. Volljährige dürfen dahingegen nicht in Obhut genommen werden.
Die Art und Weise der Altersfeststellung bei infrage kommenden ausländischen Personen ist in § 42f SGB VIII normiert. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).
Aus der Formulierung des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach die Altersfeststellung „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ durchzuführen ist, ist zu schließen, dass eine vorläufige Inobhutnahme auch zu erfolgen hat, wenn das Altersfeststellungsverfahren noch nicht durchgeführt und damit das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festgestellt wurde. Dies bestätigt auch § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der sich ausdrücklich auf eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme „aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift“ bezieht (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 12.8.2020, § 42f SGB VIII Rn. 20, mit Verweis auf BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – BayVBl 2019, 170). Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist also nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 31). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass – und so sah es offensichtlich auch der Gesetzgeber (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII: BT-Drs. 18/6392 S. 20) – die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist.
Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist daher erst dann gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden (vgl. VG München, B.v. 28.4.2020 – M 18 E 20.1548 – juris Rn. 26 ff., 32).
Dies ist nach summarischer Prüfung vorliegend der Fall.
Aufgrund der bestehenden Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers (vgl. dazu die Ausführungen des Gerichts im Beschluss vom 13. November 2019 – M 19 S 19.51178 – Rn. 40 ff. zur Asylklage/Dublin-Verfahren des Antragstellers) – insbesondere kam insoweit auch der vom Antragsteller vorgelegten afghanischen Tazkira kein maßgeblicher Beweiswert zu (vgl. dazu VG München, B.v. 13.12.2019 – M 18 E 19.5105 – Rn. 23; vgl. auch OVG Bremen, B.v. 26.5.2017 – 1 B 64/17 – juris Rn. 6; OVG NRW, B.v. 29.9.2014 – 12 B 923/14 – juris Rn. 10 ff.; VG Berlin, B.v. 18.12.2017 – 9 L 676.17 A – juris Rn. 22, jeweils m.w.N.) – hat der Antragsgegner den Antragsteller zunächst vorläufig in Obhut genommen und i.S.v. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung durch das Institut für Rechtsmedizin der … veranlasst.
Das rechtsmedizinische Gutachten vom … 2020 kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass das für den Antragsteller (fiktiv) angenommene Geburtsdatum … 2001 mit den Untersuchungsbefunden vereinbar sei und das Mindestalter ausweislich der computertomographischen Untersuchung der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke maximal zwei Monate niedriger liege; insoweit legt sich der Gutachter auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse fest und sieht keine weitere Notwendigkeit eines „Sicherheitszuschlags“. Daraus ergibt sich ein Lebensalter des Antragstellers zum Zeitpunkt der Untersuchung von zumindest 19 Jahren. Auch dass die sonstigen Befunderhebungen durch eine körperliche Untersuchung des Antragstellers, das Röntgen seiner Handknochen sowie die radiologische Erhebung eines Zahnstatus keinen eindeutigen Aufschluss über sein Lebensalter geben konnten, steht der Festlegung aufgrund der Computertomographie nicht entgehen, da sie insgesamt einen „Korridor“ von 16,3 Jahren bis 19 Jahren und „beliebig darüber“ als möglich ergaben. Methodische Mängel bei der Gutachtenserstellung sind dem Gericht nicht ersichtlich, vielmehr führt es wissenschaftlich fundiert im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammen (zu dieser Vorgehensweise vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833 u. 12 C 14.1865 – NVwZ-RR 2014, 959, m.w.N.). Demgegenüber greifen die Einwendungen der Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers nicht durch; allein der Hinweis der fehlenden Nachvollziehbarkeit der gutachterlichen Schlussfolgerung reicht insoweit nicht aus. Soweit die Verfahrensbevollmächtigten meinen, anhand der Einzelbeurteilung im Hinblick auf die körperliche Untersuchung, die zahnärztliche Untersuchung sowie das Skelett der linken Hand auf die Minderjährigkeit des Antragstellers schließen zu können, vermögen sie das Gesamtergebnis des rechtsmedizinischen Gutachtens nicht in Zweifel zu ziehen. Damit nehmen sie lediglich eine andere Bewertung der Einzeluntersuchungsergebnisse vor, ohne jedoch fundiert das Gesamtergebnis des Gutachtens selbst infrage zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 9.3.2020 – 12 CE 20.230 – Rn. 5 f.). Auch soweit sie darauf hinweisen, dass die fachärztlichen Berichte aus der kinder- und jugendpsychiatrischen Sprechstunde bei … zuletzt vom … und … 2020 neben einer schweren psychischen Erkrankung beim Antragsteller auch einen erheblichen Hilfe- und Unterstützungsbedarf im täglichen Leben sehen, weil er insgesamt einen unreifen und unselbstständigen Eindruck mache und eine altersgerechte psychosoziale Entwicklung aus entwicklungspsychologischer Sicht noch nicht erreicht sei, schließt dies die Annahme eines Lebensalters von 19 Jahren nicht aus, auch zumal der Facharzt – anders als die Verfahrensbevollmächtigten behaupten – selbst von einer Volljährigkeit des Antragstellers ausgeht. So führen die Gutachten insbesondere aus, die „Hilfe für junge Erwachsene“ sollte aus fachärztlicher Sicht gewährt werden und „der junge Erwachsene“ benötige umfassende Unterstützung in der Bewältigung des Lebensalltags, der sozialen und individuellen Entwicklung.
Vor diesem Hintergrund ist entgegen der Ansicht der Verfahrensbevollmächtigten nach dem zusammenfassenden Ergebnis des rechtsmedizinischen Gutachtens gerade nicht (mehr) von einem „Zweifelsfall“ i.S.v. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, sondern von der Volljährigkeit auszugehen mit der Folge, dass der Antragsteller nicht (mehr) zu den Anspruchsberechtigten für eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 SGB VIII i.V.m § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII zählt.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der zwischenzeitlich vom Antragsteller vorgelegten Kopie eines afghanischen Nationalpasses, in dem als sein Geburtsdatum der … 2003 ausgewiesen ist. Der Nationalpass wird auf Grundlage der in der Tazkira angegebenen Daten ausgestellt (vgl. Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – Afghanistan: Taskera – vom 8.4.2020, S. 5). Ein höherer Beweiswert hinsichtlich des dort eingetragenen Geburtsdatums kann schon daher nicht angenommen werden, selbst wenn es sich bei dem Pass um ein formal echtes Dokument handelt (vgl. dazu auch OVG Bremen, B.v. 6.11.2018 – 1 B 184/18 – BeckRS 2018, 31519).
Die vom Antragsgegner unter dem 7. Mai 2020 angeordnete Maßnahme war daher zu beenden.
2) Offen bleiben kann im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, ob die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme – wie vom Antragsgegner vorgenommen -grundsätzlich rückwirkend für die Vergangenheit und auch im vorliegenden Einzelfall zulässig ist.
Der Sachverhalt der Beendigung einer vorläufigen Inobhutnahme infolge der in ihrem Rahmen erfolgten Feststellung der Volljährigkeit des jungen Flüchtlings ist in den §§ 42a ff. SGB VIII inhaltlich nicht speziell geregelt (zu den insoweit geregelten Sachverhalten vgl. § 42a Abs. 6 SGB VIII). Aus § 42f Abs. 3 SGB VIII und § 39 Abs. 2 SGB X lässt sich jedoch entnehmen, dass eine bereits verfügte vorläufige Inobhutnahme in diesem Fall nicht kraft Gesetzes endet, sondern dass es regelmäßig eines Verwaltungsakts nach den allgemeinen Regelungen des Sozialverwaltungsrechts (§ 44 ff. SGB X) bedarf (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Auflage, Stand: 12.8.2020, § 42a SGB VIII Rn. 130; Kepert/Dexheimer in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 7. Auflage 2018, § 42a SGB VIII Rn. 26 und § 42f SGB VIII Rn. 8; Trenczek in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Auflage 2019, § 42a SGB VIII Rn. 22; vgl. auch: Christoph Grünenwald, ZKJ 2019, 296; sowie OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15 – NVwZ 2016, 1188 zu einer „Erledigung auf andere Weise“).
Bei der vorläufigen Inobhutnahme handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt (Kepert/Dexheimer a.a.O. § 42a SGB VIII Rn. 26; Grünwald a.a.O. S. 297) mit (auch) begünstigender Wirkung (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 24/12 – BVerwGE 147, 170 zu § 42 SGB VIII; VG München, U.v. 6.12.2017 – M 18 K 16.2363 – juris Rn. 44; Grünwald a.a.O. S. 299), so dass als Rechtsgrundlage für ihre „Beendigung“ grundsätzlich § 45 SGB X sowie § 48 SGB X infrage kommen. Dabei wird durch § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X einer Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse – regelmäßig mit Wirkung für die Zukunft – Rechnung getragen, während § 45 SGB X die Rücknahme eines (von Anfang an) rechtswidrigen Verwaltungsakts regelt; die Rücknahme ist insoweit nach Maßgabe der Regelungen in § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X (auch) mit Wirkung für die Vergangenheit zulässig; sie steht im Ermessen der Behörde, vgl. § 48 Abs. 1 SGB X.
Der Antragsgegner stützt seinen Bescheid vom 23. Juli 2020 vorliegend auf § 45 Abs. 1 SGB X mit dem Argument, dass der Antragsteller nach den gutachterlichen Feststellungen zu seinem Alter bereits zum Zeitpunkt der vorläufigen Inobhutnahme volljährig und der Bescheid vom 7. Mai 2020 daher von vornherein rechtswidrig gewesen sei; die Rücknahme mit Wirkung (auch) für die Vergangenheit rechtfertigt er damit, dass der Antragsteller vorsätzlich unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht habe, § 45 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X.
Zwar trifft zu, dass anspruchsberechtigt nach § 42 Abs. 1 Satz 1 und § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ausschließlich Kinder und Jugendliche i.S.v. § 7 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB VIII sind; eine (vorläufige) Inobhutnahme Volljähriger ist rechtlich nicht zulässig und gesetzlich ausgeschlossen (vgl. BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris Rn. 28; BayVGH, B.v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833 u.a. – juris Rn. 21; VG München, U.v. 6.12.2017 – M 18 K 16.2363 – juris Rn. 45).
Von diesem Grundsatz macht, wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 26. April 2018 – 5 C 11/17 – (juris Rn. 29) darlegt, § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aber insoweit eine Ausnahme, als es die vorläufige Inobhutnahme für Zwecke der Altersbestimmung, bei der es sich um eine unselbstständige Verfahrenshandlung i.S.v. § 44a VwGO handelt, nicht nur für eindeutig Minderjährige, sondern darüber hinaus auch für solche Personen öffnet, bei denen die Minderjährigkeit nicht ohne Weiteres feststeht, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann. Das Bundesverwaltungsgericht führt insoweit aus, dass sich dies aus der Formulierung, dass die Minderjährigkeit „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ festzustellen sei, ergebe. Nach der Konzeption des Gesetzes werde ausschließlich für die Zwecke und Dauer der Altersfeststellung in Kauf genommen, dass unter Umständen auch eine schon volljährige Person vorläufig in Obhut genommen werde. Dies spiegle sich insoweit auch im weiteren Wortlaut der Vorschrift wider, als § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zurückhaltend und eine Volljährigkeit in Kauf nehmend von der „ausländischen Person“ spreche (BVerwG, U.v. 26.4.2018 a.a.O. Rn. 29). Abgesehen von der Feststellung der Minderjährigkeit gemäß § 42f SGB VIII setzten somit alle anderen Maßnahmen der zuständigen Stellen im Zusammenhang mit der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII und der Verteilung nach § 42b bis e SGB VIII voraus, dass die Minderjährigkeit des Betreffenden feststehe; Minderjährigkeit sei m.a.W. eine Tatbestandsvoraussetzung, deren Vorliegen positiv festgestellt worden sein müsse, entweder um daran anknüpfende Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen oder um die in den betreffenden Vorschriften geregelten Rechtsfolgen auszulösen (BVerwG, U.v. 26.4.2018 a.a.O. Rn. 30). Dieses Verständnis werde nicht nur von der Gesetzeshistorie, sondern auch durch teleologische Erwägungen getragen; denn die Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f SGB VIII solle vermeiden, dass nachfolgende Maßnahmen der Jugendhilfe wie insbesondere die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII revidiert und rückabgewickelt werden müssten, weil sich nachträglich herausstellte, dass der Betreffende gar nicht minderjährig sei (BVerwG, U.v. 26.4.2018 a.a.O. Rn. 32, 32).
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts spricht Einiges dafür, dass die nachträgliche Feststellung der Volljährigkeit einer zunächst als minderjährig qualifizierten Person eine Änderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse darstellt, der mit § 48 Abs. 1 SGB X zu begegnen ist; in Literatur und Rechtsprechung wird aber, soweit ersichtlich, bislang vertreten, dass die nachträgliche Feststellung keine wesentliche Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen gegenüber dem Zeitpunkt der vorläufigen Inobhutnahme darstellt, sondern vielmehr der gleiche Sachverhalt vorliege, der nunmehr lediglich anders interpretiert werde (vgl. ausführlich: Grünenwald, ZKJ 2019, 296, 298; vgl. auch VG München, U.v. 6.12.2017 – M 18 K 16.2363 – juris Rn. 45; BayVGH, B.v. 23.9.2014 — 12 CE 14.1833 – juris Rn. 31, 23 „gleichwohl“).
Ob im gegebenen Fall der nachträglichen gutachterlichen Feststellung, dass der Antragsteller bereits im Zeitpunkt seiner vorläufigen Inobhutnahme volljährig war, § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X oder § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X als Rechtsgrundlage heranzuziehen ist, kann aber vorliegend letztlich offenbleiben, da beide Vorschriften eine Beendigung der Maßnahme jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft rechtfertigen und damit die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessensabwägung insoweit zulasten des Antragstellers ausfällt.
Insbesondere stand einer Rücknahme der vorläufigen Inobhutnahme „ex nunc“ kein schutzwürdiges Vertrauen i.S.v. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X entgegen (dazu allgemein Lang in: Diering/Timme/Stähler, SGB X, 5. Auflage 2019, Rn. 52 ff. m.w.N.). Denn die vorläufige Inobhutnahme in dem Bescheid vom 7. Mai 2020 erfolgte ausdrücklich nur bis zur Klärung des „Zweifelsfalls“ durch eindeutige Feststellung der Volljährigkeit durch ein medizinisches Gutachten, sodass der Antragsteller also damit rechnen musste, dass die Inobhutnahme bei einer Feststellung zu seinen Lasten beendet werden würde. Auch die Rücknahmefrist aus § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X steht nicht entgegen.
Das Gericht hält es – anders als der Antragsgegner – aber jedenfalls nicht für erwiesen, dass der Antragsteller vorsätzlich unrichtige Angaben i.S.v. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X zu seinem Alter gemacht hat und somit die vorläufige Inobhutnahme nach § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen war. Angesichts der der hohen Analphabetenrate in Afghanistan (62% der Bewohner über 15 Jahre) und der gravierenden Mängel im Personenstands- und Beurkundungswesen dort (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020 – Stand: Juni 2020 – Seite 25 f.) hält es das Gericht nicht für ausgeschlossen, dass der Antragsteller tatsächlich keine Kenntnis über seinen genauen Geburtstag hat. Jedenfalls lässt sich den beigezogenen Asylakten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge entnehmen, dass der Antragsteller gegenüber den deutschen Behörden von Anfang an angegeben hatte, 2003 geboren zu sein. Selbst wenn § 45 SGB X hier Anwendung finden sollte, dürfte jedenfalls die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nicht von § 45 Abs. 4 SGB X gedeckt sein.
Nach alledem war im Hinblick auf die im Gesamtergebnis eindeutigen gutachterlichen Feststellungen zur Volljährigkeit des Antragstellers nach gerichtlichem Ermessen dem Vollzugsinteresse aus dem angegriffenen Bescheid vom 23. Juli 2020 über die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ab dem Zeitpunkt des Bescheidserlasses gegenüber seinem privaten Interesse Vorrang einzuräumen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben