Verwaltungsrecht

Berücksichtigung der Vater-Kind-Beziehung bei der Ausweisung

Aktenzeichen  10 ZB 21.2261

Datum:
29.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 36677
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11, § 53 Abs. 1, Abs. 2
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Art. 6 GG gewährt zwar keinen Anspruch auf Aufenthalt, verpflichtet jedoch die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, dh entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihre Abwägung einzustellen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 24 K 20.4771 2021-07-22 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des streitgegenständlichen Ausweisungsbescheids vom 27. August 2020 sowie Verpflichtung des Beklagten auf Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis weiterverfolgt, ist unbegründet. Die Berufung ist weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) oder des Vorliegens des Verfahrensmangels der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO) zuzulassen.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Soweit sich der Kläger zur Begründung auf eine fehlerhafte Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts beruft, weil dieses entgegen der positiven Legalprognose in der Bewährungsentscheidung des Strafgerichts die Gefahr der künftigen Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger angenommen habe, greift dieser Einwand nicht durch. Denn das Verwaltungsgericht hat bei der von ihm getroffenen eigenständigen Prognose zur Wiederholungsgefahr nachvollziehbar und überzeugend begründet, warum es zu einer vom Amtsgericht R. (im Urteil vom 24. Juli 2020) abweichenden Gefahrenprognose und zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr beim Kläger gekommen ist. Unabhängig davon hat der Beklagte im Rahmen seiner Antragserwiderung unwidersprochen darauf verwiesen, dass der Kläger auch weiterhin in einer Vielzahl von Fällen (vgl. die Auflistung der Strafanzeigen Bl. 44 f der VGH-Akte) strafrechtlich in Erscheinung getreten und damit rückfällig geworden ist. Der in diesem Zusammenhang erhobene Einwand des Klägers, die Aufnahme einer – vom Strafgericht der Prognose zugrunde gelegten – (künftigen) Beschäftigung zur Sicherung seines Lebensunterhalts sei ihm von der Ausländerbehörde nur aufgrund der vollziehbaren Ausreisepflicht versagt worden, führt im Übrigen schon deshalb nicht weiter, weil der Grund des Beschäftigungsverbots zum einen allein in der Sphäre des Klägers liegt (s. § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, § 48 AufenthG) und zum anderen Verschuldenserwägungen im Rahmen der Gefahrenprognose ohnehin fehl am Platz sind.
Nicht durchgreifend ist weiter die Rüge, das Verwaltungsgericht habe bei der vorzunehmenden Interessenabwägung (s. § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) die grundrechtlich geschützte Bindung des Klägers zu seinen in Deutschland lebenden Kindern im Rahmen des Bleibeinteresses nicht ausreichend berücksichtigt, weil es zu Unrecht von einer Trennung nur „für eine vorübergehende Zeit“ ausgegangen sei. Bis zu einer Wiedereinreise des Klägers zu seinen Kindern über ein bei der deutschen Botschaft in Nigeria zu beantragendes Visum sei aber ein Zeitraum von mindestens vier Jahren zu veranschlagen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, jedoch verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. z.B. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 10 CE 21.610 – juris Rn. 4; B.v. 3.5.2021 – 10 CE 21.1038 – juris Rn. 5 m.w.N.). Ausgehend davon hat das Verwaltungsgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass sich die Beziehung des Klägers zu den beiden Kindern auf (gelegentliche) Besuche beschränke und beide Kinder gewohnt seien, die meiste Zeit ohne ihren Vater zurechtzukommen. Der Kläger habe trotz der ihm zur Verfügung stehenden (geringfügigen) Mittel zudem auch nicht bestmöglich für seine Kinder gesorgt. Sowohl den beiden Kindern wie auch den jeweiligen Müttern, die sämtlich die nigerianische Staatsangehörigkeit besitzen würden, wäre es grundsätzlich zumutbar, den Kläger gegebenenfalls vorübergehend nach Nigeria zu begleiten, um die Vater-Kind-Beziehung über die Möglichkeiten der Nutzung moderner Fernkommunikationsmittel hinaus aufrecht zu erhalten. Umstände, die dem mit Blick auf die Mütter der Kinder entgegenstehen würden, seien vom Kläger wieder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Vor diesem Hintergrund hat der Kläger mit dem bloßen Hinweis auf die Länge des im Ausweisungsbescheid verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 AufenthG) die vom Verwaltungsgericht vorgenommene einzelfallbezogene Würdigung und Abwägung der gegenläufigen Interessen – des spezial- und generalpräventiv begründeten Ausweisungsinteresses einerseits und des Rechts auf Familienleben (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) andererseits – mit dem Zulassungsvorbringen nicht ernstlich in Zweifel gezogen. Insbesondere hat der Kläger, worauf der Beklagte in der Antragserwiderung zu Recht hingewiesen hat, keine Tatsachen oder Umstände dargelegt, die ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis und eine (nachhaltige) Kindeswohlgefährdung (vgl. dazu BVerwG, B.v. 21.1.2020 – 1 B 65.19 – juris Rn. 20 ff.) nahelegen würden.
2. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) oder den Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO) hat der Kläger schon nicht in einer den Anforderungen gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt. Weder wird von ihm eine grundsätzlich zu klärende, fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, noch wird mit der (bloßen) Behauptung einer lückenhaften Behördenakte und der Möglichkeit, dass die Behörde zugunsten des Klägers sprechende Umstände bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt habe, eine beachtliche Verletzung der Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs durch das Verwaltungsgericht schlüssig dargelegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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