Verwaltungsrecht

Berücksichtigung familiärer Bindungen bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen

Aktenzeichen  10 ZB 20.2257

Datum:
12.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32696
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
GG Art. 6
EMRK Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

Bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen sind im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung und Interessenabwägung auch die familiären Bindungen des Betroffenen entsprechend ihrem Gewicht zur Geltung zu bringen. Dabei ist zulasten des Betroffenen zu berücksichtigen, wenn dieser seine Ehe im beiderseitigen Wissen um seine vollziehbare Ausreisepflicht und unsichere Aufenthaltsperspektive geschlossen hat (Rn. 6 – 7). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 20.1283 2020-08-06 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 12. März 2020 weiter. Mit diesem Bescheid stellte die Beklagte fest, dass der Kläger aufgrund der (bestandskräftigen) Ausweisung vom 11. Februar 2008 verpflichtet sei, das Bundesgebiet zu verlassen, und drohte ihm bei nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Ukraine an (Nr. 2.). Weiter ordnete sie ein sofort vollziehbares (Nr. 4.) Einreise- und Aufenthaltsverbot an, das unter der Bedingung des Nachweises der Straf- und Drogenfreiheit auf sechs Jahre, ansonsten acht Jahre ab Ausreise befristet wurde (Nr. 3.).
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die weiter geltend gemachten Zulassungsgründe der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) sind schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Solche Zweifel bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Verwaltungsgericht unter anderem ausgeführt, bezüglich des im Bescheid angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie dessen Befristung auf sechs bzw. acht Jahre sei die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig; insoweit fehle es an einer zusätzlichen Beschwer des Klägers zum gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot infolge der bestandskräftigen Ausweisung vom 11. Februar 2008. Im Übrigen sei die Klage unbegründet, da der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a AufenthG besitze. Insbesondere ergebe sich ein Duldungsanspruch nicht wegen Unvereinbarkeit der Abschiebung mit der Eheschließungsfreiheit, da die beabsichtigte Eheschließung nicht unmittelbar bevorstehe. Das Kind seiner Verlobten, um das sich der Kläger (angeblich) kümmere, sei weder sein leibliches Kind, noch sei er der rechtliche Vater. Ein Abschiebungsverbot bestehe schließlich nicht aufgrund der vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen.
Demgegenüber trägt der Kläger im Zulassungsantrag unter Vorlage eines Auszugs aus dem Heiratseintrag des Standesamtes T. sowie einer ärztlichen Bescheinigung vor, er habe seine Lebensgefährtin M.D. inzwischen am 29. Oktober 2020 geheiratet. Bei seiner Ehefrau sei am 19. August 2020 eine Schwangerschaft festgestellt worden und er sei der Vater des ungeborenen Kindes. Er lebe mit seiner Ehefrau zusammen und wolle sich nach der Entbindung um das gemeinsame Kind kümmern. Könne eine bereits gelebte Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seiner Familie nur in der Bundesrepublik stattfinden, weil weder dem Kind noch der Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland zumutbar sei, so dränge die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08).
Mit diesem Vorbringen kann er die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung jedoch nicht durchgreifend in Zweifel ziehen. Weder Art. 6 GG noch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewähren einen unmittelbaren Anspruch des Ausländers auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde und das Gericht, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13 f.).
Im Rahmen dieser gebotenen Einzelfallbetrachtung und Interessenabwägung ist zulasten des Klägers zu berücksichtigen, dass er die Ehe mit seiner Lebensgefährtin im beiderseitigen Wissen um seine vollziehbare Ausreisepflicht und unsichere Aufenthaltsperspektive geschlossen hat (BayVGH, B.v. 5.11.2018 – 10 ZB 18.1710 – juris Rn. 13). Gerade vor diesem Hintergrund ist vom Kläger weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass mit Blick auf die familiäre Bindung Art. 6 GG die Erteilung einer Duldung (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) gebieten würde, weil für ihn eine – als Folge des behördlichen Verweises auf ein Visumverfahren (s. § 5 Abs. 2 AufenthG) – auch nur vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau unzumutbar wäre.
Bezüglich des noch ungeborenen Kindes ist ebenfalls nicht aufgezeigt, dass ein Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Duldung wegen der aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, B.v. 22.5.2018 – 2 BvR 941/18 – juris Rn. 6) besteht. Zum einen ist nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts (UA S. 22 Rn. 81) bereits fraglich, ob beim Kläger tatsächlich mit der Übernahme der elterlichen Verantwortung und der gemeinsamen Erziehung des Kindes gerechnet werden kann. Zum anderen ist mangels einer bereits gelebten schützenswerten Vater-Kind-Beziehung mit Blick auf den voraussichtlichen Geburtstermin im April 2021 auch insoweit nicht dargelegt, dass die Nachholung des Visumverfahrens zur Erteilung einer familienbezogenen Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG für den Kläger (zum Beispiel infolge einer Risikoschwangerschaft oder einer sonstigen besonderen Hilfsbedürftigkeit der Ehefrau) derzeit unzumutbar wäre.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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