Verwaltungsrecht

Berufung, Somalia, Zulassungsgrund, Zulassung, Gesellschaft, Asylverfahren, Verfolgungshandlung, Auslegung, Berufungsverfahren, Fluchtalternative, Tatsachenfrage, Bedeutung, Land, Grundsatzfrage, Zulassung der Berufung, Antrag auf Zulassung der Berufung, Bedeutung der Rechtssache

Aktenzeichen  23 ZB 21.30370

Datum:
27.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30946
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

W 4 K 18.31894 2021-02-23 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag der Beklagten vom 19. März 2021 auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 23. Februar 2021 (W 4 K 18.31894) hat keinen Erfolg.
1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache i.S.v. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist nicht im Sinne von § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt und liegt auch nicht vor.
a) Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG setzt voraus, dass der Rechtsmittelführer erstens eine konkrete und gleichzeitig verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, zweitens ausführt, aus welchen Gründen diese klärungsfähig ist, also für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblich war, und drittens erläutert, aus welchen Gründen sie klärungsbedürftig ist, mithin aus welchen Gründen die ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2019 – 13a ZB 17.31832 – juris Rn. 3; B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 17.30487 – juris Rn. 2; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 36. EL, Februar 2019, § 124a Rn. 102 ff.). Die Grundsatzfrage muss zudem anhand des verwaltungsgerichtlichen Urteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig, dass der Rechtsmittelführer die Materie durchdringt und sich mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzt (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2019 – 13a ZB 17.31832 – juris Rn. 3; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer zudem Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 1.6.2017 – 11 ZB 17.30602 – juris Rn. 2; OVG NW, B.v. 9.10.2017 – 13 A 1807/ 17.A – juris Rn. 5).
b) Die von der Beklagten aufgeworfene Frage,
„ob die Gruppe der Frauen in Somalia, welchen die Zwangsheirat droht, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden (sog. Externer Ansatz) und es sich bei der Zwangsheirat somit um eine Verfolgungshandlung handelt, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpft bzw. an die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen?“
weist keine klärungsbedürftige Fragestellung auf, da in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt ist, wie der Begriff einer sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG auszulegen ist.
Danach gilt als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Im Einklang mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 7. November 2013 – C-199/12, C-200/12, C-201/12 [ECLI:ECLI:EU:C:2013:720], Minister voor Immigratie en Asiel/X und Y sowie Z/Minister voor Immigratie en Asiel – NVwZ 2014, 132 Rn. 45 und vom 25. Januar 2018 – C-473/16 [ECLI:ECLI:EU:C:2018:36], F/Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal – Rn. 30) müssen die mit den Buchstaben a und b gekennzeichneten Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 AsylG kumulativ erfüllt sein. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU ist in Verbindung mit der vorstehend bezeichneten Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend eindeutig zu entnehmen, dass eine bestimmte soziale Gruppe in diesem Sinne nicht vorliegt, wenn die betroffene Gruppe nicht in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat beziehungsweise nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 29 und 31; U.v. 19.9.2018 – 1 B 45.18 – juris Rn. 9; U.v. 23.9.2019 – 1 B 54.19 – juris Rn. 7). Das selbständige Erfordernis der „deutlich abgegrenzten Identität“ schließt jedenfalls ohne weitergehenden Klärungsbedarf eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG/Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG/Art. 9 Abs. 1 oder 2 RL 2011/95/EU zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird; nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut greift auch § 3b Abs. 2 AsylG/Art. 10 Abs. 2 RL 2011/95/EU erst bei der zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einem der im jeweiligen Absatz 1 genannten Verfolgungsgründe, nicht für die Konstitution der „sozialen Gruppe“ selbst (vgl. BVerwG, BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 29 und 31; U.v. 19.9.2018 – 1 B 45.18 – juris Rn. 10; U.v. 23.9.2019 – 1 B 54.19 – juris Rn. 8).
Gemessen daran kann die von der Beklagten aufgeworfene Frage auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens geklärt werden. Nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut greift § 3b Abs. 2 AsylG erst bei der tatsächlichen oder zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einem der im jeweiligen Absatz 1 genannten Verfolgungsgründe, nicht für die Konstitution der „sozialen Gruppe“ selbst (BVerwG, B.v. 23.09.2019 – 1 B 54.19 – juris Rn. 8 m.w.N.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, U.v. 6.5.2021 – 4 LB 755/20 OVG – juris Rn. 18; OVG Hamburg, B.v. 1.12.2020 – 4 Bf 205/18.A – juris Rn. 43 ff.). Zweck des Berufungsverfahrens im Asylrecht ist primär die Gewährleistung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung sowie der Rechtssicherheit durch die Klärung grundsätzlicher Tatsachen- und Rechtsfragen und nicht die Schaffung von Einzelfallgerechtigkeit, so dass selbst eine (unterstellte) inhaltliche Unrichtigkeit eines Urteils die Zulassung der Berufung nicht zu begründen vermag.
c) Ungeachtet dessen stellt die von der Beklagten aufgeworfene Frage (in der gestellten Form) keine verallgemeinerungsfähige Frage von über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung dar (vgl. BayVGH, B.v. 22.7.2019 – 8 ZB 19.31614 – juris Rn. 8 m.w.N.; BayVGH, B.v. 6.4.2021 – 5 ZB 20.31360 – juris Rn. 8, 11; OVG Lüneburg, U.v. 21.9.2015 – 9 LB 20/14 – juris Rn. 27).
Die Prognose für eine geschlechtsspezifische Gefährdung von Frauen und Mädchen von nichtstaatlichen Akteuren, § 3c Nr. 3 AsylG (z.B. Entführung, Vergewaltigung, Zwangsehen und Genitalverstümmelung) bestimmt sich u.a. maßgeblich nach der jeweiligen sozialen Umgebung und der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der – engeren oder weiteren – Familie und deren Umfeld. Die geschlechtsspezifische Gefährdung von Frauen und Mädchen hängt daher – u.U. neben dem Alter, dem Familienstand und dergleichen – von weiteren Umständen ab, z.B. von den Einstellungen und dem Verhalten im engeren oder weiteren sozialen Umfeld und den jeweiligen Machtverhältnissen (vgl. BayVGH, B.v. 6.4.2021 – 5 ZB 20.31360 – juris Rn. 13).
Das Verwaltungsgericht ist – nach den Ausführungen der Beklagten (Rechtsmittelführerin) auch zutreffend – davon ausgegangen, dass die Lage der Frauen in Somalia sowohl im Hinblick auf häusliche Gewalt als auch im Hinblick auf drohende Zwangsverheiratung prekär sei (vgl. Zulassungsbegründung der Beklagten vom 19.3.2021, S. 3 Absatz 5 mit Verweis auf UA, S. 11). Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Urteil stehe der Klägerin bei einer Rückkehr in Somalia kein effektiver Schutz vor der glaubhaft geschilderten Gefahr einer Zwangsverheiratung zur Verfügung (UA S. 8 – 12). Die Klägerin habe zudem keine inländische Fluchtalternative in Somalia, da sie auf kein familiäres Netzwerk (mehr) zurückgreifen könne, in Somalia in der Vergangenheit weder einen Beruf erlernt habe noch einer Berufstätigkeit nachgegangen sei und nunmehr zudem durch die in Deutschland entfernte Gebärmutter gesellschaftlich stigmatisiert werde (UA, S. 12). Ob dies zutrifft, ist eine Frage des Einzelfalls, die einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich ist (vgl. BayVGH, B.v. 6.4.2021 – 5 ZB 20.31360 – juris Rn. 13; B.v. 1.4.2019 – 8 ZB 19.31232 – juris; B.v. 22.2.2017 – 9 ZB 17.30027 – juris Rn. 6; B.v. 21.11.2018 – 8 ZB 18.32980 – juris Rn. 11; OVG NRW, B.v. 6.12.2006 – 19 A 2171/06.A – juris).
Soweit die Beklagte vorbringt, es bestünden prinzipielle Bedenken gegen den Standpunkt des Verwaltungsgerichts, zeigt sie keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache auf, sondern wendet sich in der Sache gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Damit wird aber kein Berufungszulassungsgrund im Sinn von § 78 Abs. 3 AsylG benannt (vgl. BayVGH, B.v. 25.7.2018 – 8 ZB 18.31802 – juris Rn. 7; B.v. 31.10.2018 – 8 ZB 17.30339 – juris Rn. 9 ff.).
d) Abgesehen davon genügt das Vorbringen im Antrag auf Zulassung der Berufung vom 19. März 2021 bereits nicht den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen, über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung. Die vom Rechtsmittelführer aufgeworfene Grundsatzfrage muss nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils rechtlich aufgearbeitet sein (vgl. BayVGH, B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4 m.w.N.). Diese Anforderungen erfüllt der Antrag auf Zulassung der Berufung nicht. Die Beklagte macht mit ihrem Vorbringen allenfalls ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung geltend, die jedoch im Asylverfahren gemäß § 78 Abs. 3 AsylG keinen Zulassungsgrund darstellen (s.o.).
2. Angesichts des Verfahrensausgangs zugunsten der Klägerin und der Unanfechtbarkeit der Entscheidung ist eine Entscheidung über den gestellten Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin (Rechtsmittelgegnerin) entbehrlich.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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