Verwaltungsrecht

Besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse – Rechtswidriger Aufenthalt im Bundsgebiet

Aktenzeichen  10 C 17.1434

Datum:
19.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 42 Abs. 1, § 74 Abs. 1 Satz 2, § 114 Satz 1, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO
ZPO § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 2 ZPO
AufenthG § 11 Abs. 3, § 53 Abs. 1 und 2, § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG
StAG § 12a Abs. 1 StAG
VwZVG Art. 14, Art. 15 VwZVG

 

Leitsatz

1 Die öffentliche Zustellung als “letztes Mittel” der Bekanntgabe ist nur zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise, grundsätzlich auch durch Zustellung im Ausland, zu übermitteln.   (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei der Gewichtung des Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bei strafrechtlichen Verurteilungen kommt eine der gesetzlichen Regelung in § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Nr. 3 und Abs. 1 S. 3 RuStAG vergleichbare Schwellenregelung nicht in Betracht.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 K 17.754 2017-05-24 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. In Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 24. Mai 2017 wird dem Kläger Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren M 10 K 17.754 bewilligt und Rechtsanwältin S. H., M., beigeordnet, soweit sich die Klage (hilfsweise) auf die behördliche Befristungsentscheidung bezieht.
Im Übrigen (d.i. bezüglich der gegen die Ausweisungsverfügung gerichteten Klage) wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, soweit seine Beschwerde zurückgewiesen wird; die Gebühr wird auf die Hälfte ermäßigt.

Gründe

Die Beschwerde, mit der sich der Kläger gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klage gegen den Ausweisungsbescheid des Beklagten vom 27. September 2016 (M 10 K 17.754) ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts wendet, ist teilweise begründet. Eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe bezüglich der – im Hauptantrag – gegen die Ausweisungsverfügung gerichteten Anfechtungsklage des Klägers kommt nicht in Betracht, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung insoweit keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO; 1.). Soweit sich das Klageverfahren hilfsweise auf die behördliche Befristungsentscheidung im angegriffenen Bescheid bezieht, liegen dagegen die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 2 ZPO) zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungs- oder Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags vor (2.).
1. Bezüglich der gegen die Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 27. September 2016 gerichteten Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO) hat das Verwaltungsgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach summarischer Prüfung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Die Anfechtungsklage des Klägers vom 22. Februar 2017 dürfte allerdings entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieses Verwaltungsakts und damit innerhalb der Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO erhoben worden sein (1.1.). Die angefochtene Ausweisung des Klägers wird sich im Hauptsacheverfahren jedoch voraussichtlich als rechtmäßig erweisen und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; 1.2.).
1.1. Wie im Schreiben des Verwaltungsgerichtshofs vom 1. September 2017 bereits ausgeführt, dürfte der angefochtene Bescheid vom 27. September 2016 entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts dem Kläger nicht wirksam durch öffentliche Bekanntmachung gemäß Art. 15 Abs. 1 Satz 1 VwZVG zugestellt worden sein. Nach ständiger Rechtsprechung ist die öffentliche Zustellung als „letztes Mittel“ der Bekanntgabe (nur) zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise – d.h. grundsätzlich auch durch Zustellung im Ausland (vgl. Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. Art. 14 VwZVG) – zu übermitteln (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 18.4.1997 – 8 C 43.95 – NVwZ 1999,178; BayVGH, B.v. 20.1.2016 – 10 C 15.723 – juris Rn. 9). Da sich in der vorgelegten Behördenakte Angaben zum Wohnort des Klägers in Albanien befinden (vgl. insbes. Bl. 2,6 der Akte), ist die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Aufenthaltsort des Klägers sei dem Beklagten zum Zeitpunkt der öffentlichen Zustellung unbekannt gewesen, in dieser Form nicht haltbar. Jedenfalls hatte die Ausländerbehörde eine Nachforschungs- bzw. Ermittlungspflicht. Eine Behörde muss sich, bevor sie den Weg der öffentlichen Zustellung einschlägt, durch die nach Sachlage gebotenen Ermittlungen Gewissheit darüber verschaffen, dass der Aufenthaltsort des Zustellungsempfängers nicht nur ihr, sondern allgemein unbekannt ist (vgl. etwa Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 15. Aufl. 2014, § 41 Rn. 75 m.w.N.). Solche danach gebotenen Ermittlungen hat die Ausländerbehörde aber nach Aktenlage nicht durchgeführt. Damit wäre eine wirksame Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung an den Kläger frühestens mit der Aushändigung des Ausweisungsbescheids des Beklagten durch die Bundespolizeiinspektion Flughafen München II am 1. Februar 2017 (vgl. den polizeilichen Bericht vom 1.2.2017, Bl. 76 f. der Behördenakte) erfolgt und demgemäß die Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO gewahrt.
1.2. Die angefochtene Ausweisung des Klägers wird sich aber im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig erweisen und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Beklagte hat die verfügte Ausweisung zu Recht auf § 53 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG gestützt und zutreffend ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse festgestellt, weil gegen den Kläger wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG durch Strafbefehl des Amtsgerichts München vom 8. Juli 2015 rechtskräftig eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen verhängt worden ist. Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Ein Rechtsverstoß ist demnach immer dann beachtlich, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift (vgl. etwa zuletzt NdsOVG, B.v. 20.6.2017 – 13 LA 134/17 – juris Rn. 10 mit Rsprnachweisen zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F.; BayVGH, B.v. 5.7.2016 – 10 ZB 14.1402 – juris Rn. 14 m.w.N.).
Der Einwand des Klägers, eine vorsätzliche schwere Straftat liege in seinem Fall nicht vor, weil er sich entgegen der Bescheidsbegründung nicht 14 Monate, sondern nur insgesamt 148 Tage und somit lediglich zwei Monate nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe, greift nicht durch. Denn obwohl die Angaben zur Dauer des rechtswidrigen Aufenthalts des Klägers im angefochtenen Bescheid nicht widerspruchsfrei sind (vgl. einerseits die Sachverhaltswiedergabe unter I., S. 2 des Bescheids und andererseits die Gründe unter II. 1.2, S. 3 des Bescheids), hat der Beklagte die Straftat des Klägers gemessen an den oben dargelegten Grundsätzen und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats zu Recht als nicht geringfügigen Verstoß (vgl. dazu auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, AufenthG § 54 Rn. 80 m.w.N.; Graßhof in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Kommentar, 2016, AufenthG § 54 Rn. 114 ff.) und damit als Anwendungsfall des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bewertet.
Ebenso wenig durchgreifend ist der weitere Einwand, die Geringfügigkeit seines Verstoßes ergebe sich unter entsprechender Berücksichtigung der gesetzlichen Regelung in § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 und Abs. 1 Satz 3 StAG sowie der hierzu ergangenen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern. Denn vergleichbare Schwellenregelungen bei strafrechtlichen Verurteilungen hat der Gesetzgeber im Aufenthaltsrecht bei der Gewichtung des (früheren) Ausweisungsgrunds gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F. bzw. des Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG gerade nicht vorgesehen (vgl. auch Nr. 55.2.2.2 AVwV zu § 55 AufenthG a.F.).
Vor diesem Hintergrund ist der Beklagte in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers dessen Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt (§ 53 Abs. 1 und 2 AufenthG). Neben dem spezialpräventiven Ausweisungsinteresse hat die Ausländerbehörde dabei zu Recht auch generalpräventive Gründe mit angeführt und zutreffend festgestellt, dass im Rahmen der Gesamtabwägung zu beachtende besondere persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Bindungen des Klägers im Sinne von § 53 Abs. 2 AufenthG bzw. Art. 8 EMRK weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich sind.
2. Soweit sich das Klageverfahren auch ohne diesbezüglichen eigenen Antrag hilfsweise auf die behördliche Befristungsentscheidung im angegriffenen Bescheid bezieht (vgl. BayVGH, U.v. 20.6.2017 – 10 B 17.135 – juris Rn. 21), liegen dagegen die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungs- oder Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 14.3.2017 – 10 C 17.260 – juris Rn. 2) vor. Bewilligungs- oder Entscheidungsreife tritt regelmäßig nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie nach einer Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO; BayVGH, B.v. 10.2.2017 – 10 C 16.2096 – juris Rn. 2) ein, also im vorliegenden Fall mit Eingang der vollständigen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers beim Verwaltungsgericht am 1. Mai 2017. Zum danach maßgeblichen Zeitpunkt hat bzw. hatte die Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil zumindest offen ist, ob die im angefochtenen Bescheid vom 27. September 2016 (ursprünglich) getroffene Befristungsentscheidung des Beklagten mit den dort angestellten Ermessenserwägungen nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt und damit ermessensfehlerhaft im Sinne von § 114 Satz 1 VwGO ist. Dafür spricht, dass der Beklagte auf das Schreiben des Verwaltungsgerichtshofs vom 1. September 2017 hin mit Schriftsatz vom 6. September 2017 den streitgegenständlichen Bescheid in Nr. 2. geändert und die Wiedereinreise des Klägers in die Bundesrepublik Deutschland nunmehr auf die Dauer von drei Jahren untersagt hat. Ob die nunmehr unterhalb der Fünf-Jahres-Frist nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bestimmte Sperrfrist zulasten des Klägers (noch) ermessensfehlerhaft ist, bedarf hier keiner Erörterung.
Soweit die Beschwerde des Klägers zurückgewiesen wird, folgt die Kostenentscheidung aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt, die der Senat bei der nur teilweisen Zurückweisung der Beschwerde nach billigem Ermessen auf die Hälfte ermäßigt.
Eine Kostenerstattung ist sowohl für das Bewilligungsals auch für das Beschwerdeverfahren ausgeschlossen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4, § 127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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