Verwaltungsrecht

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Aktenzeichen  RN 11 K 20.31983

Datum:
7.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 31610
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist in ihrem Hauptantrag zulässig aber unbegründet und hat daher keinen Erfolg. Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Im Wege der Auslegung wird davon ausgegangen, dass vom Aufhebungsantrag in Ziffer 1 der Klage nur die Ziffern 1 und 2 des streitgegenständlichen Bescheids erfasst sind, da der Aufhebungsantrag bezüglich der festgestellten Abschiebungshindernisse (Ziffer 3 des Bescheids) unzulässig wäre.
A. Die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft liegen vor, weil beim Kläger die Voraussetzungen für ihre Zuerkennung nicht mehr vorliegen. Dem Kläger kann die Flüchtlingseigenschaft wegen § 3 Abs. 4 des Asylgesetzes (AsylG) nicht mehr zuerkannt werden, weil das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) zu Recht von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat.
Rechtsgrundlage für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Demnach ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr gegeben sind. Dies ist auch dann anzunehmen, wenn nachträglich Ausschlussgründe eintreten (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 219). Ein solcher Ausschlussgrund ist gegeben, wenn das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 3 Abs. 1 AsylG abgesehen hat, § 3 Abs. 4 AsylG. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kann demnach unterbleiben, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist, § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG müssen erfüllt sein und die Behörde muss das ihr diesbezüglich eingeräumte Ermessen („kann“) sachgerecht ausgeübt haben.
I. Der Kläger ist durch das Amtsgericht D. am 30.8.2016 wegen einer nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG beachtlichen Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit (Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung nach §§ 225 Abs. 1 Nr. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 52 StGB) verurteilt worden. Die Tat wurde dabei unter Anwendung von Gewalt begangen. Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten ist es an dieser Stelle irrelevant, ob die Verurteilung durch ein Urteil oder einen Strafbefehl erfolgt, da § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG hierüber keine Aussage trifft.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts D. hat der Kläger seine Tochter wegen fehlendem Respekts gezüchtigt, indem er ihr roh mit einem Besen gegen Beine und Füße geschlagen hat und dabei auch die schützende linke Hand getroffen hat. Die Tochter des Klägers erlitt Prellungen im Bereich der Ober- und Unterschenkel, am linken Fußknöchel, der linken Hüfte und am linken Handgelenk. Die Tochter des Klägers erlitt dabei einen Krampfanfall, sodass diese nicht mehr ansprechbar war und notärztlich und anschließend stationär behandelt werden musste. Das nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erforderliche Strafmaß einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ist ebenfalls erreicht.
II. Der Kläger stellt im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zur Überzeugung des Gerichts auch eine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG dar. Auf die überzeugenden, auf den vorliegenden Einzelfall abstellenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid wird insoweit Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG. Überdies ist auf Folgendes hinzuweisen:
Allein die Verurteilung wegen einer oder mehrerer der in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Katalogstraftaten einerseits und das Überschreiten des Mindeststrafmaßes von einem Jahr andererseits führen noch nicht dazu, dass das Bundesamt von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG absehen kann. Vielmehr muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles festgestellt werden, ob der Ausländer (weiterhin) eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Insoweit ist eine zukunftsgerichtete Prognoseentscheidung erforderlich (vgl. VG Würzburg, U. v. 04.02.2019 Az. W 8 K 18.32231), in deren Ergebnis eine Wiederholungsgefahr im Einzelfall feststellbar sein muss. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist von einer solchen auszugehen, wenn neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen. Bei dieser Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. So insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, aber auch die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, B. v. 12.10.2009 Az. 10 B 17.09; VGH Baden-Württemberg, U. v. 29.01.2015 Az. A 9 S 314/12). Dabei können im Rahmen der auf Gefahrenabwehr gerichteten verwaltungsrechtlichen Prognoseentscheidung nicht nur rechtskräftige Verurteilungen, sondern auch Ermittlungsergebnisse eingestellter Strafverfahren, Ermittlungsverfahren und noch nicht rechtskräftige strafrechtliche Entscheidungen in der Prognoseentscheidung mitberücksichtigt werden (vgl. BVerwG, B. v. 21.05.1986 Az. 1 B 74/86; VG Trier, U. v. 06.10.2020 Az. 1 K 25/20.TR; VG Saarland, U. v. 09.07.2019 Az. 6 K 941/18).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgebrachten und dem Gericht bekannten Umstände von einer weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr auszugehen. Der Kläger ist zwar nur zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Allerdings lag der Verurteilung eine Gewalttat mit erheblichem Gefährdungspotential zugrunde. Schließlich hat die Tochter des Klägers aufgrund der Schläge einen Krampfanfall erlitten und musste anschließend drei Tage stationär behandelt werden. Zwar wurde die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt, dies spricht vorliegend nicht entscheidend gegen die Annahme, dass der Kläger eine (fortgesetzte) Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Dem Strafbefehl des Amtsgerichts D. sind zur Begründung der Aussetzung zur Bewährung keine näheren Ausführungen zu entnehmen. Von strafgerichtlichen Entscheidungen über eine Strafaussetzung zur Bewährung geht aber im Übrigen keine Bindungswirkung für die Frage der Gefahr für die Allgemeinheit aus. Diese begründet auch keine Vermutung für das Fehlen einer Rückfallgefahr im Sinne einer Beweiserleichterung (vgl. BVerwG, U. v. 02.09.2009 Az. 1 C 2.09; U. v. 16.11.2000 Az. 9 C 6.00). Für eine nach wie vor bestehende erhebliche kriminelle Energie des Klägers spricht außerdem, dass der Kläger sich augenscheinlich die Verurteilung zu einem Jahr Freiheitsstrafe nicht als Warnung hat gereichen lassen. Schließlich ist er auch nach dieser Verurteilung weiterhin straffällig gewesen und wurde wegen unerlaubten vorsätzlichen Erwerbs von Betäubungsmitteln, Führen eines Kraftfahrzeugs unter Alkoholeinflusses sowie wegen Betrugs verurteilt. Zwar ist dem Klägerbevollmächtigten dahingehend zuzustimmen, dass diese Taten dem § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG nicht unterfallen, sie sind jedoch sehr wohl im Hinblick auf die Gefahrenprognose zu berücksichtigen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung nicht mal ansatzweise Reue bezüglich seiner Taten gezeigt. Im Hinblick auf die Misshandlung seiner Tochter gab der Kläger an, dass er in Syrien erlebt habe, dass Leute des IS ihre Frauen schlecht behandeln würden. Er habe die Regeln in Deutschland nicht gekannt. Weiter gab er an, dass er aus seinen Fehlern gelernt habe. Er wisse mittlerweile, dass Schlägereien verboten seien und auch, wo man parken dürfe und wo nicht. Diese Äußerungen sowie seine Ausführungen im Behördenverfahren und im Gerichtsverfahren zeigen nach Auffassung des erkennenden Gerichts, dass dem Kläger bezüglich seiner Taten jegliches Unrechts- und Werteverständnis fehlt. Besonders schwer wiegt nach Auffassung des Gerichts der Umstand, dass sich die gefährliche Körperverletzung gegen die eigene Tochter gerichtet hat, weil diese ihm laut der Sachverhaltsdarstellung im Strafbefehl nicht den notwendigen Respekt gezollt hat. Weiterhin ist im Hinblick auf die Ausführungen der zuständigen Ausländerbehörde auch nicht von einer erfolgreichen Integration des Klägers auszugehen. Der Kläger hat auch selbst in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass sein deutsch noch nicht so gut sei. Weiterhin ist er derzeit arbeitslos. Eine günstige Sozialprognose vermag das Gericht insoweit nicht zu erkennen. Insgesamt ist das erkennende Gericht unter Berücksichtigung aller Umstände davon überzeugt, dass vom Kläger nach wie vor eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht.
III. Die Beklagte hat auch das ihr nach dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dahingehend ausgeübt, dass sie dem durch die Neueinführung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zum Ausdruck gebrachten besonderen öffentlichen Interesse am Schutz der Allgemeinheit vor straffällig gewordenen Asylbewerbern den Vorrang vor dem privaten Interesse des Klägers an dem Erhalt der Flüchtlingseigenschaft eingeräumt hat. Rechtsfehler bei der vom Bundesamt ausgeübten Ermessensentscheidung bezüglich der Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG sind insoweit nicht erkennbar.
B. Der Bescheid ist auch in Ziffer 2. rechtmäßig. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor. Damit hat auch der Hilfsantrag keinen Erfolg.
Vorliegend kann offen bleiben, ob die dem Widerruf zugrunde gelegte Tat eine „schwere Straftat“ i.S.d. § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG darstellt. Jedenfalls rechtfertigen vorliegend nach Auffassung der erkennenden Einzelrichterin schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt (§ 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AsylG). Von einer Gefahr für die Allgemeinheit ist bei einer Rechtsgutsgefährdung auszugehen, die nicht nur eine Einzelperson betrifft und für das gesellschaftliche Zusammenleben in Sicherheit und Freiheit eine Gefährdung darstellt (vgl. BeckOK, Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 26. Edition, § 4 AsylG Rn. 38. Dies ist hier mit Blick auf die fortgesetzte hohe kriminelle Energie des Klägers der Fall. Insoweit kann auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG verwiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 84 Abs. 3 Hs. 1, § 167 VwGO, §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).
Die Höhe des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 30 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG).


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