Verwaltungsrecht

Coronavirus, SARS-CoV-2, Zulassungsantrag, Abschiebungsverbot, Asylverfahren, Berufung, Arbeitsleistung, Zulassung, Existenzminimum, Aserbaidschan, Staatsanwaltschaft, Verletzung, Divergenz, Bedeutung, Berufungsverfahren, Tatsachenfrage, Bedeutung der Rechtssache, Zulassung der Berufung, erniedrigende Behandlung

Aktenzeichen  2 ZB 22.30041

Datum:
3.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1983
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 16 K 17.30764 2021-11-18 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG), der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) und eines qualifizierten Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO) nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wurden oder nicht vorliegen.
1. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG liegt nicht vor bzw. wurde nicht hinreichend dargelegt.
Der Tatbestand der grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich wäre, bisher höchstrichterlich oder – bei tatsächlichen Fragen oder nicht revisiblen Rechtsfragen – durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 78 AsylG Rn. 11ff.).
Die Kläger halten die Fragen für grundsätzlich bedeutsam,
ob sich die tatsächliche Lage in Aserbaidschan aufgrund der Corona Pandemie derart verschlechtert hat, dass leistungsfähigen erwachsenen Männern bzw. einer mehrköpfigen Familie ohne oder mit Unterhaltspflichten und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht, hilfsweise mit familiären Netzwerk ebenso (Zulassungsantrag S. 13),
ob mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für eine mehrköpfige Familie in Aserbaidschan eine reale Chance besteht, nach Rückkehr eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden (Zulassungsschriftsatz S. 17),
Insoweit ist eine grundsätzliche Bedeutung jeweils nicht gegeben, denn die hier inmitten stehenden Fragestellungen lassen sich nur für den Einzelfall klären.
Die Kläger werfen weiterhin die Fragen auf,
ob für Rückkehrer das Existenzminimum auf Dauer gesichert sein muss oder nicht (Zulassungsschriftsatz S. 11) und
ob der vom Verwaltungsgericht angenommene Maßstab der „zwingenden humanitären Gründe“ anzuwenden ist (Zulassungsschriftsatz S. 12).
Die Kläger legen schon nicht konkret dar, inwiefern das Erstgericht den von ihnen beanstandeten Maßstab der „zwingenden humanitären Gründe“ angewendet haben soll. Im Übrigen verweist das Verwaltungsgericht im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthaltG (i.V.m. Art. 3 EMRK) auf den Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2017. In diesem Zusammenhang wird dort das Vorliegen von so schlechten humanitären Bedingungen in Aserbaidschan, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK anzunehmen ist, verneint. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ferner werden auch bei der Anwendung von Art. 3 EMRK individuelle Gründe geprüft.
Die Frage,
ob für einen Rückkehrer das Existenzminimum auf Dauer gesichert sein muss,
stellen die Kläger im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Das Erstgericht hat ausgeführt, wie insbesondere die Kosten der Behandlung des Klägers zu 1 durch die Eltern der Kläger aufzubringen sein können. Es verweist hierzu auf die zumutbare eigene Arbeitsleistung der Eltern sowie die Unterstützung durch die Großfamilie (UA S. 12). Dabei handelt sich aber um keine grundsätzlichen Fragen. Diese lassen sich wiederum nur im jeweiligen Einzelfall beantworten.
2. Die Kläger sind wohl der Auffassung, dass der Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG gegeben sei. Das Urteil weiche von der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts ab (Zulassungsschriftsatz S. 1). Außerdem werde von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 25.4.2018 abgewichen (Zulassungsschriftsatz S. 21). Unabhängig davon, dass der Hessische Verwaltungsgerichtshof bereits kein Divergenzgericht ist, fehlt es an einer hinreichenden Darlegung des Zulassungsgrunds (§ 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Denn es wird kein Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts aufgezeigt und einer abweichenden Rechtsmeinung des Erstgerichts gegenübergestellt.
3. Die gegen das erstinstanzliche Urteil insgesamt gerichteten Verfahrensrügen nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG gehen fehl.
Der Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) wurde nicht verletzt. Dieser ist ein prozessuales Grundrecht und außerdem ein rechtsstaatliches konstitutives Verfassungsprinzip, das mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in funktionalem Zusammenhang steht. Er sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1.02 – BVerfGE 107, 395). Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann allerdings nur dann festgestellt werden, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte von ihnen entgegengenommenes Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986.91 – BVerfGE 86, 133). Die Behauptung, die richterlichen Tatsachenfeststellungen seien falsch oder der Richter habe einem Umstand nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen, vermag grundsätzlich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu begründen (vgl. BVerfG, E.v. 19.7.1967 – 2 BvR 639.66 – BVerfGE 22, 267).
In diesem Zusammenhang rügen die Kläger unter verschiedenen Aspekten die Verletzung rechtlichen Gehörs.
a) Nach Auffassung der Kläger ist ihnen das rechtliche Gehör versagt worden, weil die Annahmen des Verwaltungsgerichts aufgrund fehlender Protokollierung nicht feststünden. Es sei insbesondere ausgeschlossen, dass sich das Verwaltungsgericht für die Annahme mangelnder Substantiierung der Verfolgung mit bloßen Zweifeln an der Glaubhaftigkeit der Sachangaben der Kläger begnüge (Zulassungsantrag S. 2). Das Erstgericht sei einem Beweisantrag nicht nachgegangen (Zulassungsschriftsatz S. 4). Die Ablehnung des Beweisantrags sei prozessordnungswidrig.
Dieser Vortrag ist jedoch nicht geeignet, einen Gehörsverstoß zu begründen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend und auch nicht ordnungsgemäß vertreten waren. Das Verwaltungsgericht ist den schriftsätzlich gestellten Beweisanträgen nicht weiter nachgegangen, weil es dahinstehen könne, ob das vom Kläger zu 1 vorgelegte Gerichtsurteil vom 26. Oktober 2015 sowie die Vorladung zur Meldung bei der Staatsanwaltschaft am 13. Mai 2016 echt seien. Eine Verfolgung des Klägers sei für das Gericht nicht ersichtlich. Dies wird vom Verwaltungsgericht näher begründet (UA S. 10). Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts sind nicht zu beanstanden. Eine weitere Sachaufklärung musste sich dem Erstgericht nicht aufdrängen. Im Ergebnis kritisieren die Kläger, dass das Erstgericht einzelnen Umständen nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen habe, was aber grundsätzlich gerade keinen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör darstellt.
b) Die Kläger rügen, das Erstgericht habe den Schriftsatz vom 4. August 2021 nicht zur Kenntnis genommen (Zulassungsschriftsatz S. 6). Dies ist nicht zutreffend. Denn das Verwaltungsgericht hat sich zunächst den Ausführungen der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid angeschlossen (UA S. 9). Den dortigen Ausführungen seien die Kläger nach Auffassung des Erstgerichts auch im gerichtlichen Verfahren durch die vorgelegten Schriftsätze nicht substantiiert entgegengetreten. Damit ist auch der Schriftsatz vom 4. August 2021 gemeint. Das Erstgericht ist in Kenntnis der Schriftsätze zur Überzeugung gelangt, dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem Schutzbereich des § 3 Abs. 1 AsylG unterfallende Gefährdungen drohen.
c) Den Klägern zufolge ist das Verwaltungsgericht der streiterheblichen Frage, ob die Corona Pandemie Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse in Aserbaidschan haben werde, nicht näher nachgegangen (Zulassungsantrag S. 11). Auch dieser Vortrag ist nicht geeignet, einen Gehörsverstoß zu begründen. Das Erstgericht hat das allgemeine oder krankheitsbedingte Abschiebungsverbot im Sinn von § 60 Abs. 5 AufenthG und vor allen Dingen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geprüft (UA S. 11 ff.). Insbesondere hat es sich auch mit den Behauptungen des Klägervertreters zur Covid 19-Pandemie auseinandergesetzt (UA S. 14). Letztlich machen die Kläger im Gewand einer Gehörsrüge ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung geltend. Dies stellt im Asylverfahren anders als § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO keinen Berufungszulassungsgrund gemäß § 78 AsylG dar.
Gleiches gilt für den Vorwurf der Kläger, das Verwaltungsgericht habe für die Frage, ob die Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, eine Reihe von relevanten Faktoren nicht erörtert (Zulassungsschriftsatz S. 16).
d) Ferner bleibt die Rüge der Kläger, dass das Erstgericht Erkenntnismittel nicht eingeführt habe, ohne Erfolg. Denn Art. 103 Abs. 1 GG gebietet zwar, dass ein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Für die Einführung in das Verfahren reicht es aber grundsätzlich aus, dass das Gericht den Beteiligten eine Liste der betreffenden Erkenntnismittel übersendet (vgl. BVerwG, B.v. 19.7.2012 – 1 B 6.12 – juris). So liegt der Fall hier. Ausweislich der Gerichtsakten hat das Gericht der Klägerseite vorab eine Erkenntnismittelliste übersandt (VG-Akte Bl. 81- 82). Die im Urteil erwähnten Erkenntnismittel sind auch in der Auskunftsliste enthalten.
Die Kläger sind zudem der Auffassung, das Verwaltungsgericht habe sich auf einen allgemeinen Erfahrungssatz gestützt, den es nicht in das Verfahren eingeführt habe (Zulassungsschriftsatz S. 20). Dieser Erfahrungssatz sei, dass eine mehrköpfige Familie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit trotz Corona überleben könne. Indes hat das Erstgericht einen solchen Erfahrungssatz überhaupt nicht gebildet. Vielmehr hat es die Behauptungen des Klägervertreters zur Covid-19-Pandemie bereits für unsubstantiiert gehalten (UA S. 20). Im Übrigen gebe es keine Erkenntnisse darüber, dass die Bevölkerung aufgrund der Covid-19-Pandemie überdurchschnittlich wirtschaftlich leiden würde. Dem sind die Kläger nicht substantiiert entgegengetreten.
e) Darüber hinaus rügen die Kläger in verschiedenen Zusammenhängen, dass das Urteil nicht ausreichend begründet sei (vgl. Zulassungsschriftsatz S. 2).
Soweit die Kläger damit einen Verfahrensfehler im Sinn von § 138 Nr. 6 VwGO rügen, dringen sie damit nicht durch. Nach dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Juni 1998 (9 B 412.98 – NJW 1998, 3290) ist ein Begründungsmangel im Sinn von § 138 Nr. 6 VwGO – abgesehen von einem vollständigen Fehlen von Gründen – nur dann anzunehmen, wenn die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, so dass sie in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgeblich gewesen sind. Davon kann hier ersichtlich nicht die Rede sein. Die Kläger wenden sich in Wirklichkeit gegen die aus ihrer Sicht unzutreffende Darstellung der Gründe; daraus lässt sich ein Begründungsmangel im Sinn von § 138 Nr. 6 VwGO aber nicht herleiten.
f) Soweit die Kläger mit ihren Einwänden auf die Verletzung der gerichtlichen Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO), insbesondere auch im Hinblick auf den von den Klägern gestellten Beweisermittlungsantrag, abzielen, kann das ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung führen. Ein – unterstellter – Aufklärungsmangel begründet weder einen Gehörsverstoß noch gehört er zu den sonstigen Verfahrensmängeln im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO; das gilt auch insoweit, als der gerichtlichen Aufklärungsverpflichtung verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2016 – 21 ZB 16.30144 – juris).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtkosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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