Verwaltungsrecht

Die Corona-Pandemie begründet grundsätzlich kein Abschiebungsverbot bezüglich Italien im Rahmen eines Dublin-Verfahrens

Aktenzeichen  RO 11 K 20.50422

Datum:
11.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16423
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a
AufenthG § 60 Abs. 7, § 60a Abs. 1
Dublin III-VO Art. 17 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG stehen die Verhältnisse in Italien mit Blick auf die Corona-Pandemie nicht entgegen (vgl. ebenso VG Würzburg BeckRS 2020, 39902; VG Augsburg BeckRS 2020, 31388; VG München BeckRS 2020, 29602; VG Karlsruhe BeckRS 2020, 26239). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Beurteilung einer extremen Gefahrenlage ist auf die tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalles abzustellen, um zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür aufzuzeigen, dass der Betreffende in seinem Einzelfall mit einer Ansteckung, einschließlich eines schweren Verlaufs, rechnen muss. Zu berücksichtigen sind unter anderem die örtlichen Gegebenheiten im Zielland und auch die Frage, welche Schutzmaßnahme der Staat zur Eindämmung der Pandemie getroffen hat (vgl. OVG Münster BeckRS 2020, 13678). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Versorgungslage für die Bevölkerung in Italien – einschließlich international Schutzsuchender bzw. Schutzberechtigter – auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen ist nicht derart desolat, dass auch nur annähernd von einer allgemeinen Gefahrenlage iSd § 60a Abs. 1 AufenthG gesprochen werden könnte (vgl. insbesondere VG Würzburg BeckRS 2020, 34820; VG Karlsruhe BeckRS 2020, 26239). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.   

Gründe

Da der Kläger rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt hat, gilt der Gerichtsbescheid vom 29. Dezember 2020 als nicht ergangen, § 84 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die zulässige Klage ist unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid auch im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Die Beklagte geht zu Recht davon aus, dass Italien für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig ist und keine systemischen Mängel des Asylverfahrens vorliegen. Der Kläger kann auch keinen Anspruch auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) geltend machen. Die Abschiebungsanordnung ist rechtmäßig ergangen, da weder inlands- noch zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse vorliegen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und insbesondere Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) sind weder erkennbar noch wurden sie – substantiiert – geltend gemacht. Die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG und dessen Befristung begegnen ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf diesen Bezug, § 77 Abs. 2 AsylG. Ferner nimmt es auf den Beschluss vom 27. November 2020 in dem Verfahren Az. RO 11 S 20.50421 Bezug.
Das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung bietet keine Veranlassung für eine von dem Beschluss vom 27. November 2020 und dem Gerichtsbescheid vom 29. Dezember 2020 abweichende Entscheidung. Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass der Kläger sich nach seinen Angaben vier Jahre und neun Monaten in Italien aufgehalten und in einem Restaurant gearbeitet hat. Er ist gesund, jung und spricht italienisch, so dass erwartet werden kann, dass er trotz der – auch durch Corona – wirtschaftlich angespannten Situation in Italien nicht in eine Situation extremer materieller Not geraten wird. Hinzu kommt, dass er in Italien nach der in der mündlichen Verhandlung übergebenen Bescheinigung der Schule Angelo Pescarini vom 27. August 2020 im Bereich der Installation elektrischer und thermohydraulischer Elementen theoretisch und praktisch ausgebildet wurde. Dies verbessert seine beruflichen Aussichten bei einer Rückkehr nach Italien. Soweit er angab, er sei von Mitgliedern des „Kults der Arobaga“ überfallen worden und solle diesem beitreten, ist der Kläger darauf zu verweisen, dass er sich bei kriminellen Machenschaften an die italienischen Behörden und insbesondere an die Polizei wenden kann. Es ist weder erkennbar noch nachvollziehbar vorgebracht, dass diese nicht schutzbereit und/oder „korrupt“ sind.
Im Übrigen nimmt das Gericht auf die folgenden überzeugenden Ausführungen der Verwaltungsgerichts Würzburg Bezug und schließt sich ihnen an (vgl. VG Würzburg vom 21.12.2020 Az. W 8 S 20.50319):
„Eine andere Beurteilung der Aufnahmebedingungen in Italien ist auch nicht vor dem Hintergrund der zwischenzeitlichen Entwicklung im Zuge der COVID-19-Pandemie („Corona-Krise“) angezeigt (vgl. ebenso VG Würzburg, B.v. 14.12.2020 – W 8 S 20.50305; VG Augsburg, U.v. 10.11.2020 – Au 3 K 20.31390 – juris; VG München, B.v. 15.10.2020 – M 1 S7 20.50551 – juris; VG Gera, B.v. 13.10.2020 – 6 E 1148/20 Ge – juris; VG Karlsruhe, B.v. 14.9.2020 – A 9 K 3639/18 – juris).
Das Gericht geht nicht davon aus, dass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG die Verhältnisse in Italien mit Blick auf das „Coronavirus“ entgegenstehen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der Antragsteller in Italien aufgrund der voraussichtlichen Lebensverhältnisse in eine Lage extremer Not geraten würde. Dies gilt aber wegen des oben näher erläuterten Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens nur in Extremfällen (vgl. Günther in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 27. Edition Stand: 1.7.2020, § 29 AsylG Rn. 22-24). Das Gericht hat – auf der Basis des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und auch angesichts der in Italien getroffenen Maßnahmen – keine substantiierten Erkenntnisse, die die Annahme eines solchen Extremfalles in der Person des Antragstellers oder allgemein das Vorliegen systemischer Mängel in Italien begründen könnten. Im System des gegenseitigen Vertrauens ist für Italien vielmehr weiter von einem die Grundrechte sowie die Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden, wahrenden Asylsystem auszugehen.
Italien hat während der COVID-19-Krise die Registrierung neuer Asylanträge formell nicht suspendiert, wenn auch die Quästuren in der Praxis geschlossen gewesen sind. Versorgungsmaßnahmen sind bis zum Ende der Pandemie verlängert worden, auch für Personen, die das Recht auf Unterstützung eigentlich verloren hätten. Asylbewerber können bis längstens 31. Januar 2021 auch in Unterbringungseinrichtungen der zweiten Stufe untergebracht werden und erhalten dort auch Versorgung. Des Weiteren sind Quarantäneschiffe und sonstige Quarantäneeinrichtung geschaffen worden. Über das Mittelmeer kommende Asylbewerber müssen – wie auch der Antragsteller – für 14 Tage in Quarantäne. Dublin-Überstellungen nach Italien sind derzeit suspendiert (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11.11.2020, S. 4).
Nach alledem ist auch nicht erkennbar, dass die Antragsgegnerin rechtsfehlerhaft nicht von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch gemacht hat.
Des Weiteren hat der Antragsteller weder einen Anspruch auf die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG – bezogen auf Italien – noch liegen inlandsbezogene Vollzugshindernisse vor.
Insbesondere führt die derzeitige COVID-19-Pandemie, ausgelöst durch das SARS-CoV-2-Virus, in Italien nicht zur Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein und in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.
Nur wenn eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 2 AufenthG fehlt, kann die Klägerin in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise Abschiebungsschutz beanspruchen, wenn sie bei Überstellung aufgrund der herrschenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60a Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8). Diese Voraussetzungen liegen beim Antragsteller nicht vor, denn es fehlt an einer derart extremen Gefahrenlage.
Denn nur, wenn im Einzelfall die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden, etwa wenn das Fehlen eines Abschiebungsstopps dazu führen würde, dass ein Ausländer im Zielstaat der Abschiebung sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet würde, wird die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG durchbrochen und es ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen (vgl. Koch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 27. Edition Stand: 1.7.2020, § 60 AufenthG Rn. 45 m.w.N.).
Für das Vorliegen einer derartigen Gefahrenlage bestehen für das Gericht auch aufgrund der in Italien getroffenen Maßnahmen auch konkret mit Blick für Asylbewerber und Asylberechtigte (vgl. etwa https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/italiensicherheit/ 211322 sowie BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation vom 11.11.2020, S. 4; Schweizerische Flüchtlingshilfe/pro Asyl Auskunft an den HessVGH v. 29.10.2020) keine greifbaren Anhaltspunkte.
Der Antragsteller gehört offensichtlich nicht zu einer Personengruppe für einen schweren, möglicherweise lebensbedrohlichen Verlauf der Covid-19-Erkrankung.
Im Übrigen genügt nicht eine allgemeine Behauptung mit Hinweis auf die Covid-19-Pandemie, dass eine Gefahr bestünde. Denn für die Beurteilung ist auf die tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalles abzustellen, um zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür aufzuzeigen, dass der Betreffende in seinem Einzelfall mit einer Ansteckung, einschließlich eines schweren Verlaufs, rechnen muss. Zu berücksichtigen sind unter anderem die örtlichen Gegebenheiten im Zielland und auch die Frage, welche Schutzmaßnahme der Staat zur Eindämmung der Pandemie getroffen hat (vgl. OVG NRW, B.v. 23.6.2020 – 6 A 844/20 A – juris). Dahingehend hat der Antragsteller nichts vorgebracht.
Darüber hinaus bestehen – wie auch in anderen Staaten, wie etwa in Deutschland – individuelle persönliche Schutzmöglichkeiten, wie das Tragen einer Gesichtsmaske, die Einhaltung der Hygieneregeln (z.B. Hände waschen) oder die Wahrung von Abstand zu anderen Personen, um das Risiko einer Ansteckung durch eigenes Verhalten zu minimieren.
Des Weiteren ist die Versorgungslage für die Bevölkerung in Italien – einschließlich international Schutzsuchender bzw. Schutzberechtigter – auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen nicht derart desolat, dass auch nur annähernd von einer allgemeinen Gefahrenlage im Sinne des § 60a Abs. 1 AufenthG gesprochen werden könnte (vgl. die schon oben zitierte Rechtsprechung, insbesondere VG Würzburg, B.v. 13.11.1020 – W 10 K 19.31019 – juris; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 – A 9 K 3639/18 – juris,).“
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.
Die Höhe des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.


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