Verwaltungsrecht

Die unechte Rückwirkung des § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG ist verfassungsrechtlich zulässig

Aktenzeichen  20 ZB 17.30673

Datum:
11.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 128928
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 73 Abs. 1 S. 1, Abs. 2a S. 5, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4
AufenthG § 60 Abs. 8 S. 3

 

Leitsatz

Die Rechtsfolgen der für das Absehen von der Anwendung des Flüchtlingsschutzes und damit für dessen Widerruf maßgeblichen Kriterien gelten erst nach dem Inkrafttreten des § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG und knüpfen lediglich tatbestandlich auch an Ereignisse vor diesem Zeitpunkt an (BVerfG BeckRS 2013, 54080; BVerwG BeckRS 2007, 24601, BeckRS 2011, 23148). (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 4 K 16.31646 2016-12-01 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Zulassungsantrag bleibt ohne Erfolg. Er wird abgelehnt, weil der Kläger die von ihm geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) hat oder diese nicht vorliegt.
Der Kläger meint, nachdem die dem Widerruf zugrunde liegende strafrechtliche Verurteilung vom 29. Juli 2015 stamme, die angewandte Fassung von § 60 Abs. 8 AufenthG aber erst am 17. März 2016 in Kraft getreten sei, würde die Anwendung dieser Fassung eine unzulässige Rückwirkung bedeuten. Nach dem Wortlaut des Gesetzes sei eine Rückwirkung nicht vorgesehen, deshalb unzulässig. Es ist bereits zweifelhaft, ob der Kläger mit diesem Vortrag die Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erfüllt hat. Die vom Kläger sinngemäß aufgeworfene Frage, ob sich § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eine unzulässige Rückwirkung beimisst, lässt sich aber ohne weiteres durch Auslegung des Gesetzes unter Heranziehung der gängigen Auslegungsmethoden beantworten. Nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG kann von der Anwendung des § 60 Abs. 1 abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist. Aus dem Wortlaut des Gesetzes und den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 18/7538 S. 18 f.) ergibt sich eindeutig, dass Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG nur dann nicht gewährt wird, wenn festgestellt wird, dass der Ausländer aufgrund seines persönlichen Verhaltens eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, die bloße rechtskräftige Verurteilung wegen einer Straftat genügt hierfür jedoch nicht. Damit ist aber auch klar, dass es bei Anwendung dieser Vorschrift auf eine im Einzelfall zu treffende Prognoseentscheidung ankommt und nicht auf die Gestaltung eines abgeschlossenen Sachverhalts, so dass sich § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG keine echte unzulässige Rückwirkung beimisst. Die Rechtsfolgen der Änderung der für das Absehen von der Anwendung des Flüchtlingsschutzes und damit für dessen Widerruf maßgeblichen Kriterien gelten erst nach dem Inkrafttreten des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG und knüpfen lediglich tatbestandlich auch an Ereignisse vor diesem Zeitpunkt an (vgl. BVerfG, B.v. 11.7.2013 – 2 BvR 2302/11, 2 BvR 1279/12 – BVerfGE 134, 33; BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 6 C 24.06 – NVwZ 2007,1201; U.v. 14.4.2011 – 3 C 20.10 – BVerwGE 139, 323). Eine derartige „unechte“ Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Anderes kann aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit folgen. Das ist namentlich dann der Fall, wenn bei der gebotenen Abwägung zwischen dem enttäuschten Vertrauen des Betroffenen und der Bedeutung der Neuregelung für das Wohl der Allgemeinheit den Interessen des Betroffenen ein höheres Gewicht einzuräumen ist (vgl. z.B. BVerfG, B. v. 20.6.1978 – 2 BvR 71/76 – BVerfGE 48, 403 und vom 15.10.1996 – 1 BvL 44,48/92 – BVerfGE 95,64). Davon geht auch die Begründung des Gesetzesentwurfs zum Änderungsgesetz vom 4. November 2016 (BT-Drs. 18/9097 S. 33) aus. Ein solches Übergewicht der Interessen des Betroffenen lässt sich hier jedoch nicht feststellen. Vielmehr überwiegt das Interesse der Allgemeinheit an der möglichst weitgehenden Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung sowie der weitestgehenden Minimierung der prognostizierten Gefahr durch den betreffenden Ausländer für die Allgemeinheit. Im Hinblick auf die zu prognostizierende hohe Gefährdung für das besondere Schutzgut des Art. 2 Abs. 2 GG hat das Interesse des Betroffenen an der Aufrechterhaltung seines Schutzstatus zurückzutreten. Zudem handelt es sich bei der Entscheidung nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG um eine Ermessensentscheidung, bei der die Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigt werden müssen, was einer grundsätzlichen Klärung im Berufungsverfahren jedoch nicht zugänglich ist.
Für grundsätzlich klärungsbedürftig (§ 78 Abs. 2 Nr. 1 AsylG) hält der Kläger auch, dass das Erstgericht nicht berücksichtige, dass der Kläger Erstverbüßer sei. Damit hat der Kläger jedoch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht dargelegt. Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erfordert, dass der Rechtsmittelführer eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufzeigt, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist. Ferner muss dargelegt werden, weshalb der Frage eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. Dies ist darzulegen. „Darlegen“ bedeutet schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als lediglich ein allgemeiner Hinweis; „etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (BVerwG, B. v. 2.10.1961 – BVerwG 8 B 78.61 – BVerwGE 13, 90, 91; v. 9.3.1993 – 3 B 105.92 – NJW 1993, 2825). Der Kläger macht mit seiner Rüge in Wahrheit ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts geltend, was im Asylprozess jedoch keinen Grund für die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 AsylG darstellt. Soweit er meinen sollte, dass bei erstmaliger Verurteilung wegen einer der genannten Straftaten die Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ausgeschlossen sei, lässt sich diese Frage ohne weiteres verneinen, weil auch von demjenigen, der zum ersten Mal wegen einer solchen Straftat verurteilt worden ist, eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehen kann.
Der Kläger rügt weiter, dass das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt habe, dass er yezidischer Glaubenszugehörigkeit sei und er aus Mahad, welches ca. 45 km von Mossul entfernt liege, und nicht aus der kurdischen Autonomieregion stamme. Damit macht der Kläger wiederum ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts geltend, welches nach § 78 Abs. 3 AsylG keinen Grund für die Zulassung der Berufung darstellt.
Der vom Kläger schließlich geltend gemachte Verfahrensfehler (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) wurde nicht dargelegt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, entscheidungserhebliche Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen. Die Rüge, das rechtliche Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) sei verletzt, erfordert aber regelmäßig, dass substantiiert dargelegt wird, welches entscheidungserhebliche Vorbringen das Verwaltungsgericht nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen haben soll (BVerwG, B.v. 27.10.1998 – 8 B 132.98 – NJW 1999, 1493) oder zu welchen entscheidungserheblichen Tatsachen oder Beweisergebnissen der Kläger sich nicht hat äußern können. Sie erfordert außerdem, dass substantiiert dargelegt wird, was der Kläger vorgetragen hätte, wenn ihm ausreichendes Gehör gewährt worden wäre, und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (BVerwG, B.v. 9.10.1984 – 9 B 138.84 – InfAuslR 1985, 83; B.v. 19.8.1997 – 7 B 261.97 – NJW 1997, 3328). Aus dem Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist jedenfalls nicht ersichtlich, warum sein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes anders zu bewerten gewesen wäre, wenn das Verwaltungsgericht berücksichtigt hätte, dass der Kläger aus der Region außerhalb der kurdischen Autonomieprovinzen stamme.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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