Verwaltungsrecht

Drohende Verfolgung im Irak wegen Konversion zum Christentum

Aktenzeichen  Au 5 K 16.31843

Datum:
12.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 2, § 3c Nr. 3, § 28 Abs. 1a
RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 1

 

Leitsatz

Ein Glaubensangehöriger ist auch dann verfolgt, wenn er zu unzumutbaren Ausweichhandlungen genötigt ist, um einer staatlichen Repression zu entkommen (OVG NRW BeckRS 2009, 39325). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 8. September 2016 wird in Nrn. 1, 4, 5, 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage es Klägers entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 9. Januar 2017 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 8. September 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid in den Nrn. 1, 4, 5 und 6 aufzuheben.
Es besteht im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung für den Kläger ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Danach ist ein Ausländer Flüchtling i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Der Anwendungsbereich der Bestimmungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vormals nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG, nunmehr nach § 3 Abs. 1 AsylG) ist weitgehend deckungsgleich mit dem des Asylgrundrechts, für dessen Auslegung sich das Bundesverfassungsgericht schon bisher an der Genfer Flüchtlingskonvention orientiert hat (vgl. BVerwG, B.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u.a. – BVerwGE 80, 315).
Teilweise geht der Internationale Flüchtlingsschutz im Ergebnis der Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU über den Schutz des Asylgrundrechts hinaus. So begründen nach Maßgabe des § 28 Abs. 1a AsylG auch selbstgeschaffene Nachfluchtgründe sowie gemäß § 3c Nr. 3 AsylG eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, etwa in Bürgerkriegssituationen, in denen es an staatlichen Strukturen fehlt, ein Abschiebungsverbot. Ferner stellt § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG klar, dass eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn Anknüpfungspunkt allein das Geschlecht ist. Schließlich umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG der Schutz vor Verfolgung wegen der Religion im Ergebnis der Umsetzung von Art. 10 Abs. 1b der Richtlinie 2011/95/EU auch die Religionsausübung im öffentlichen Bereich sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen, die sich auf eine religiöse Betätigung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder nicht staatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft und der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung mehr (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 – 10 C 7/11 – juris). An dessen Stelle gilt nunmehr nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Hierdurch wird den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigemessen (vgl. EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. V 175/08 u.a., Abdulla). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich verfolgungsbegründende bzw. schadensstiftende Umständen bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden.
Dessen ungeachtet ist es Sache des Ausländers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen, § 25 Abs. 1 und 2 AsylG, Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU. Der Ausländer hat dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich schlüssigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht. Hierzu gehört u.a., dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung abgibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen.
Beruft sich der Ausländer indes zur Begründung seiner Verfolgungsfurcht auch auf Vorgänge und Geschehensabläufe nach dem Verlassen seines Herkunftsstaates, so gilt die das Maß der Darlegungsanforderungen bestimmende Beweiserleichterung nicht, weil nicht mehr davon auszugehen ist, dass die für Vorgänge in dem „Verfolgerstaat“ bestehenden Beweisschwierigkeiten außerhalb des Herkunftsstaates fortbestehen. Der Flüchtling hat vielmehr die Umstände, aus denen er seine begründete Furcht vor Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ableitet, zu beweisen. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn die Nachfluchtgründe in einem Verhalten des Ausländers bestehen, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung und Ausrichtung ist, § 28 Abs. 1a AsylG. Durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ in § 28 Abs. 1a AsylG ist es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass auch Nachfluchttatbestände ohne eine entsprechende Vorprägung im Heimatland beachtlich sein können.
Dies zugrunde legend hat der Kläger einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
Das Gericht ist auf der Grundlage der vorgelegten Unterlagen und der persönlichen Einvernahme des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Kläger jedenfalls nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland aus innerer Überzeugung dem christlichen Glauben zugewandt hat, ihn aus innerer Überzeugung praktiziert und ihm aus diesem Grund eine Rückkehr in den Irak nicht zuzumuten ist.
Wird im Herkunftsland eines Asylbewerbers auf dessen Entschließungsfreiheit, seine Religion in einer bestimmten Weise zu praktizieren, durch die Bedrohung mit Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit eingewirkt, ist dies als Eingriff in die Religionsfreiheit zu prüfen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 21). Eine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie 2011/95/EU kann unter Berücksichtigung an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 5. September 2012, Rs. C 7 1/11 und C-99/11, nicht nur in der schwerwiegenden Verletzung der Freiheit liegen, seine Religion im privaten Rahmen zu praktizieren (Forum Internum), sondern auch in der Freiheit, den Glauben öffentlich zu leben (Forum Externum) (BVerwG – a.a.O. Rn. 24). Schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung kann eine beachtliche Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU darstellen, und zwar unabhängig davon, ob sich der davon betroffene Glaubensangehörige tatsächlich religiös betätigen wird oder auf die Ausübung aus Furcht vor Verfolgung verzichtet (BVerwG – a.a.O. Rn. 26). Ein solches Verbot hat aber nur dann die für eine Verfolgungshandlung erforderliche objektive Schwere, wenn dem Ausländer durch die Ausübung seiner Religion mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (BVerwG – a.a.O. Rn. 28). Das Verbot weist nur dann die darüber hinaus erforderliche subjektive Schwere auf, wenn die Befolgung der verbotenen religiösen Praxis für den Einzelnen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar ist (BVerwG – a.a.O. Rn. 29).
Nach Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger aufgrund eines subjektiven Nachfluchtgrundes, nämlich wegen seiner Konversion zum Christentum und der Glaubensbetätigung im Falle einer Rückkehr in den Irak mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure.
Wann eine Verfolgung wegen der Religion droht, ergibt sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nicht theistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten und öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mi anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Demnach ist es dem Religionswechsler nicht mehr zuzumuten, öffentliche praktizierte Riten seiner Glaubensgemeinschaft – etwa Gottesdiensten – fernzubleiben, um der-gestalt staatliche Sanktionen zu vermeiden. Der Glaubensangehörige ist auch dann verfolgt, wenn er zu unzumutbaren Ausweichhandlungen genötigt ist, um einer staatlichen Repression zu entkommen (vgl. OVG NRW, B.v. 30.7.2009 – 5 A 1999/07.A – juris).
Ist der Schutzsuchende – wie hier – unverfolgt ausgereist, so muss er glaubhaft machen, dass ihm wegen seiner Nachfluchtgründe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei der zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den gegen eine Verfolgung sprechenden Umständen überwiegen. Beruft sich der Schutzsuchende auf eine Verfolgungshandlung mit der Begründung, er sei in Deutschland zu einer in seinem Herkunftsland bekämpften Religion übergetreten, so muss er die inneren Beweggründe glaubhaft machen, die ihn zu seiner Konversion veranlasst haben. Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernsthaft gemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht lediglich auf Opportunitätserwägungen zur Erlangung eines Bleiberechtes in der Bundesrepublik Deutschland beruht. Erst wenn der Glaubenswechsel die religiöse Identität des Schutzsuchenden in dieser Weise prägt, ist es für den Schutzsuchenden unzumutbar, in sein Heimatland zurückzukehren und auf die ihm garantierten Rechte zur Religionsausübung zu verzichten, nur um Verfolgungsmaßnahmen zu entgegen. Bei Annahme der christlichen Religion genügt es dabei im Regelfall nicht, dass der Schutzsuchende lediglich formal zum Christentum übergetreten ist, in dem er getauft wurde. Von einem Erwachsenen, der sich zum Bekenntniswechsel entschlossen hat, darf im Regelfall erwartet werden, dass er mit den wesentlichen Grundzügen seiner neuen Religion vertraut ist. Überdies wird regelmäßig nur dann anzunehmen sein, dass der Konvertit ernstlich gewillt ist, seine christliche Religion auch in seinem Heimatstaat auszuüben, wenn er seine Lebensführung bereits in Deutschland dauerhaft an den grundlegenden Geboten der neu angenommenen Konfession ausgerichtet hat (vgl. OVG NRW, B.v. 30.7.2009, a.a.O.; VG Würzburg, U.v. 8.11.2011 – W 4 K 09.30154 – juris Rn. 34).
Ausgehend von diesen Maßstäben droht dem Kläger eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus den folgenden Gründen.
Nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnen Überzeugung, hat sich der Kläger zwischenzeitlich vom muslimischen Glauben ab und dem christlich-evangelischen Glauben ernsthaft und mit innerer Überzeugung zugewandt. Das Gericht ist ferner aufgrund des in der mündlichen Verhandlung vom 9. Januar 2017 gewonnen Bildes der Persönlichkeit des Klägers davon überzeugt, dass dieser aufgrund seiner religiösen Prägung das unbedingte Bedürfnis hat, seinen Glauben in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen auszuüben und dass er ihn auch tatsächlich praktiziert. Der Einzelrichter hat in der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck gewonnen, dass sich der Kläger lediglich aus opportunistischen, asyltaktischen Gründen dem Christentum zugewandt hat. Der Kläger konnte insbesondere schlüssig, nachvollziehbar und ohne Widersprüche seinen Weg zum christlichen Glauben schildern. Es ist auch zum Ausdruck gelangt, dass der Kläger diesen Glauben zwischenzeitlich vertieft hat und seinen Glaubensweg als langfristige Entwicklung sieht und lebt. Die Aussagen über die Zuwendung des Klägers zum christlichen Glauben werden bekräftigt durch die am 28. März 2016 erfolgte Taufe. Auch nach der Taufe ist der Kläger seinen Weg im christlichen Glauben weitergegangen. Er praktiziert nach Überzeugung des Gerichts den Glauben in der Form, dass er an Gottesdiensten, Bibelkreisen und Jugendgruppen teilnimmt. Durch diesen von der Evangelischen,, bestätigten Werdegang des Klägers im christlichen Glauben, hat sich die Entwicklung des Klägers fortgesetzt und gefestigt. Darüber hinaus wies der Kläger detaillierte Kenntnisse über Glaubensinhalte der christlichen Religion auf. Zusammenfassend lässt dies eine ehrliche Konversion vom muslimischen zum christlichen Glauben glaubhaft machen und erwarten lassen, dass der Kläger bei einer angenommenen Rückkehr in den Irak seine neugewonnene Religionsidentität entsprechend leben würde. Dies insbesondere auch deshalb, weil der Kläger glaubhaft in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, dass er den Austausch über Glaubensinhalte mit Andersgläubigen sucht und gerne an entsprechenden Diskussionen teilnimmt.
Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass dem Kläger wegen der Umstände des Einzelfalles seiner Konversion zum christlichen Glauben und wegen der damit einhergehenden Abkehr vom Islam zwar keine asylrelevante Verfolgung von staatlicher Seite, sehr wohl mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aber schwere asylrelevante Rechtsverletzungen durch nichtstaatliche Akteure drohen. Zwar erwähnt das irakische Strafgesetz keine Strafe für die Konversion vom Islam zu einem anderen Glauben. Jedoch kann in Fällen, in denen das Gesetz keine ausdrückliche Regelung vorsieht, auf die inhaltlich nächstliegende Regelung des islamischen Rechts (Scharia) zurückgegriffen werden. Nach der Scharia wird ein Muslim, der den Islam verlässt, als Apostat bezeichnet. Nach der Scharia gilt für die Abkehr vom muslimischen Glauben und den Übertritt zum Christentum bzw. einer anderen nichtislamischen Religionsgemeinschaft grundsätzlich die Todesstrafe. Zwar sind nach den ins Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln keine Fälle bekannt geworden, in denen Todesurteile wegen Abfalls vom islamischen Glauben oder wegen Konversion zum Christentum ausgesprochen worden wären.
Allerdings ist festzuhalten, dass Konvertiten im Irak von der Familie hart sanktioniert und getötet werden können. Der Staat leitet im Wesentlichen keine Strafverfolgung gegen die Familie oder gegen islamistische Gruppen ein, die einen Konvertiten getötet haben (vgl. Stellungnahme Schweizerische Flüchtlingshilfe, November 2009, S. 11).
Nach der allgemeinen Sicherheitslage existiert ein ausreichender staatlicher Schutz vor den Übergriffen nichtstaatlicher Akteure im Irak nicht (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 18. Februar 2016 – Stand: Dezember 2015, S. 12). Weiter ist davon auszugehen, dass die Tatsache des Übertritts des Klägers zum Christentum bei einer Rückkehr in den Irak bekannt werden würde. Dies zum einen bereits deshalb, weil der Kläger – wie er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen hat – seine Familie von seinem Glaubensübertritt in Kenntnis gesetzt hat. Zum anderen aber auch deswegen, weil das Gericht der Überzeugung ist, dass die christliche Religion den Kläger so stark prägt, dass sein aktives Christsein durch Nichtteilnahme an islamischen Riten bekannt wird und der Kläger das Bedürfnis hat, seinen Glauben öffentlich zu leben, indem er z.B. christliche Gottesdienste besucht oder anderen den christlichen Glauben näher bringen will. Das Gericht hat diese Bestrebungen des Klägers als durchaus wesensbestimmend wahrgenommen.
Das Gericht ist weiter der Überzeugung, dass der Kläger durch seine Konversion bei einer Rückkehr in den Irak in eine ausweglose Lage geraten würde. Dem Kläger drohen auch in seiner Herkunftsregion, in der kurdisch verwalteten autonomen Region Kurdistan/Irak (Erbil) erhebliche Gefahren. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ist nicht ersichtlich, warum islamistische Gruppierungen im Nordirak die Konversion eines Irakers vom Islam zum Christentum insbesondere im nichtstaatlichen Bereich toleranter beurteilen sollten, als in übrigen Teilen des Irak. Überdies setzt sich der Kläger einer erheblichen Gefahr bei einer Rückkehr in den Familienverband aus. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 9. Januar 2017 glaubhaft vorgetragen hat, lehnen seine Eltern die vorgenommene Abkehr vom muslimischen Glauben ab. Die Situation für den Kläger verschärft sich aufgrund der Einzelumstände des Falles erheblich. Da der Kläger gerade einmal 19 Jahre alt ist und über keine berufliche Ausbildung verfügt, wäre es für ihn bei einer Rückkehr in den Irak geradezu zwangsläufige Folge, dass er in seinen nach wie vor vorhandenen Familienverbund zurückkehren müsste. Gerade dort dürfte der Kläger auf eine erhebliche Intoleranz stoßen. Auch berichten Konvertierte häufig von spürbarer alltäglicher Intoleranz und massiver Diskriminierung bis hin zu physischen Übergriffen der mehrheitlich islamischen Bevölkerung gegen Konvertierte selbst und gegen Personen, die der Mitwirkung an Konversionshandlungen bezichtigt werden. Konvertierte werden von der kurdisch-muslimischen Bevölkerung als „Abtrünnige“ des islamischen Glaubens oder als „Gefahr für die Gesellschaft“ angesehen und oftmals von ihren „muslimischen“ Familien verstoßen. Nennenswerter staatlicher Schutz gegen derartige Übergriffe ist ebenfalls nicht zu erwarten, da die Behörden ebenfalls mehrheitlich aus kurdischen Muslimen bestehen.
Nach allem kann dem Kläger derzeit eine Rückkehr in den Irak nicht zugemutet werden, weil er aufgrund seines Abfalls vom muslimischen Glauben mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten muss, schwerwiegenden Eingriffen und Übergriffen auf seine körperliche Unversehrtheit von Seiten nichtstaatlicher Akteure ausgesetzt zu sein. Dies hat zur Folge, dass das Bundesamt zur Feststellung verpflichtet ist, dass bei dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 AsylG) gegeben ist. Insoweit war auch der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes in den Nrn. 4 – 6, die dieser Feststellung entgegenstehen, aufzuheben.
Da die Klage nach allem im Hauptantrag erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung mehr über den Hilfsantrag des Klägers hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) (§ 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG in entsprechender Anwendung).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


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