Verwaltungsrecht

Einstweiliger Rechtsschutz im Falle der Ablehnung einer verspätet beantragten Verlängerung eines Aufenthaltstitels, Einstweiliger Rechtsschutz gegen Abschiebungsandrohung, Abschiebungsverbote bei sog. faktischen Inländern

Aktenzeichen  M 2 S 21.3973

Datum:
14.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 10523
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80, § 123
AufenthG § 25a, § 81 Abs. 4 Satz 1, § 84 Abs. 4 Satz 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,– Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller möchte im Wege des Eilrechtsschutzes erreichen, dass er sich bis zum Abschluss eines auf die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis gerichteten verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten darf.
Der Antragsteller ist bosnisch-herzegowinischer Staatangehöriger. Er wurde in der Bundesrepublik Deutschland am … Juli 2000 geboren, reiste kurz nach seiner Geburt mit seinen Eltern aus, kehrte aber mit diesen bereits am 4. April 2001 zurück. Seither verfügte der Antragsteller über eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug als Kind. Die zuletzt am 3. September 2018 erteilte Aufenthaltserlaubnis war bis zum 2. September 2020 befristet; eine Niederlassungserlaubnis war dem Antragsteller im Jahr 2018 deshalb nicht erteilt worden, weil er sich nicht in Ausbildung befand und gegen ihn ein Strafverfahren durchgeführt wurde.
Da der Antragsteller – trotz mehrfacher Aufforderung durch die Antragsgegnerin – einen Verlängerungsantrag hinsichtlich seiner Aufenthaltserlaubnis erst am 1. März 2021 stellte, beabsichtigte sie, den Antrag abzulehnen und dem Antragsteller die Abschiebung anzudrohen. Im Rahmen der hierzu durchgeführten Anhörung trug der Antragsteller vor, dass eine Fortgeltungswirkung wegen unbilliger Härte – nicht zuletzt mit Blick auf seinen langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik, sein fehlendes Bewusstsein hinsichtlich der Wichtigkeit eines fristgemäßen Verlängerungsantrags und seine fehlenden Verwandtschaftsbeziehungen in seinem Heimatland – nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG anzuordnen sei.
Mit Bescheid vom 22. Juni 2021, dem (damals) Bevollmächtigten des Antragstellers ausweislich des in der Akte befindlichen Empfangsbekenntnisses am 25. Juni 2021 zugegangen, lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab (Nr. 1) und forderte den Antragsteller auf, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bis zum 15. August 2021 zu verlassen (Nr. 2 Satz 1) und drohte für den Fall der Nichtbefolgung dieser Verpflichtung die Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina an (Nr. 1, gemeint wohl Nr. 2.1). Zugleich wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von zwei Jahren erlassen (Nr. 2, gemeint wohl Nr. 2.2).
Zur Begründung der Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde ausgeführt, dass weder die Voraussetzungen des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG noch die des § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG beim Antragsteller vorlägen. Zum einen sei der Antrag zu spät gestellt worden, zum anderen läge u.a. deshalb kein Fall der unbilligen Härte vor, weil die Überschreitung der Frist nicht nur geringfügig und auch nicht nur fahrlässig sei. Im Übrigen habe der Antragsetller keinen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19c Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 26 Abs. 2 BeschV i.V.m. § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Ebenso wenig lägen die Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25a oder § 32 AufenthG vor. U.a. bestehe ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, weil der Antragsteller durch Urteil des Amtsgerichts Rosenheim vom 26. März 2021 rechtskräftig wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 25,00 EUR verurteilt worden sei. Die Ausreiseaufforderung sei Folge der Ausreisepflicht des Antragstellers, die ihren Rechtsgrund in § 50 Abs. 1 AufenthG habe. Die gesetzte Ausreisefrist von zwei Monaten sei ausreichend, sie ermögliche dem Antragsteller seine bestehenden Bindungen und Angelegenheiten zu regeln. Die Abschiebungsandrohung stütze sich auf § 58 Abs. 1 AufenthG, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf § 11 AufenthG.
Am 26. Juli 2021 erhob der Antragsteller durch eine bevollmächtigte Rechtsanwaltskanzlei Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, mit der er die Aufhebung des Bescheids und die Verpflichtung der Antragsgegnerin begehrte, dem Verlängerungsantrag vom 1. März 2021 stattzugeben oder – hilfsweise – unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts positiv zu verbescheiden (M 2 K 21.3972).
Gleichzeitig beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich der Antragsteller nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis anhaltend in einem psychischen Ausnahmezustand befunden habe, der darin gründe, dass er seit der Trennung seiner Eltern kurz nach seiner Geburt keinen Kontakt zum Vater mehr gehabt habe, dann aber später in das Nebengebäude des Wohnsitzes des Vaters gezogen sei, der dort mit seiner neuen Lebensgefährtin wohne. Die ständige Konfrontation mit dieser Situation habe ihn „aus der Bahn geworfen“. Es liege daher ein Fall der unzumutbaren Härte vor; der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gälte daher wegen § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG als rechtzeitig gestellt. Zudem lägen die Voraussetzungen des § 25a AufenthG vor. Die vorsätzliche Straftat des Antragstellers sei Ausdruck einer Reifeverzögerung gewesen und hinderte nicht seine Integration. Außerdem verfügte der Antragsteller über das Angebot eines Arbeitsfestvertrages.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schreiben vom 9. September 2021,
den Antrag abzulehnen.
Sie verwies auf die Begründung des Bescheids und führte darüber hinaus aus, dass die familiäre Situation des Antragstellers erstmals mit der Antragsschrift vorgetragen worden und daher als bloße Schutzbehauptung einzuordnen sei. Ein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel nach § 25a AufenthG bestehe schon deshalb nicht, weil der Antragsteller ersichtlich keinen Anspruch auf die Ausstellung einer Duldung habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 2 K 21.3972, Bezug genommen.
II.
Der Eilantrag ist im Ergebnis zulässig, aber unbegründet.
A. Ausdrücklich ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Teilweise ist dieser Antrag statthaft und auch im Übrigen zulässig, teilweise muss er zur Vermeidung der Unzulässigkeit als Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ausgelegt werden.
I. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist statthaft, soweit er sich gegen die Abschiebungsandrohung richtet. Diese stellt eine belastende Regelung dar, der hiergegen statthaften und erhobenen Anfechtungsklage kommt jedoch nach § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 VwZVG von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung zu. Die im Bescheid (Nr. 2 Satz 1) festgelegte Ausreisefrist bis zum 15. August 2021 ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zwar bereits abgelaufen; Erledigung nach Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG tritt hierdurch aber nicht ein, weil der Ablauf der Frist noch Rechtsfolgen – als Voraussetzung für eine Abschiebung – zeitigt. Statthaft ist der Antrag wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG auch, soweit er sich (bei sachgerechter Auslegung) auch gegen die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots richtet (vgl. VG München, B.v. 5.7.2021 – M 25 S 21.2428 – juris Rn. 34)
II. Soweit der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung aber offenbar auch im Hinblick auf Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheids erstreckt wird, um zu erreichen, dass der Antragsteller bis zum Abschluss des Hauptsachverfahrens in der Bundesrepublik verbleiben darf, ist er nicht statthaft.
Der Verlängerungsantrag des Antragstellers hinsichtlich seines Aufenthaltstitels hat keine Fiktionswirkung ausgelöst. Er verfügt daher nicht über ein seinen Status verstärkendes Bleiberecht, das durch die Ablehnung in Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheids zu seinem Nachteil beendet werden konnte und folglich Raum für die Anordnung einer aufschiebenden Wirkung bieten würde (vgl. VG Aachen, B.v. 24.5.2016 – 8 L 1025/15 – juris Rn. 5). Es liegt weder ein Fall des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vor, da der Verlängerungsantrag erst nach dem Ablauf der bisherigen Aufenthaltserlaubnis gestellt wurde, noch hat die Antragsgegnerin die Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG angeordnet. In dem angefochtenen Bescheid hat sie eine solche Anordnung wegen Verneinung des Vorliegens einer unbilligen Härte ausdrücklich abgelehnt.
III. Der Antrag ist jedoch als (umgedeuteter) Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zulässig. Der Antragsteller hat im Ergebnis zumindest plausibel dargelegt, dass es möglich sein kann, dass ein Fall der unbilligen Härte im Sinne von § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG vorgelegen hat (die Behörde deshalb die Fortgeltung seines bisherigen Aufenthaltstitels hätte anordnen müssen) und ihm ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zusteht. Insoweit hat der Antragsteller auch einen Anordnungsgrund (Abwendung eines wesentlichen Nachteils) gelten gemacht (vgl. allgemein zu diesen Anforderungen der Antragsbefugnis Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: EL 26, März 2014, § 123 Rn. 107).
1. Zwar ist es nicht möglich, die Antragsgegnerin durch gerichtlichen Beschluss zur Anordnung der Fortgeltungswirkung zu verpflichten, auch wenn hierauf offenbar der Antragsteller mit seinen Ausführungen zur unbilligen Härte nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG zielt. Mit einer ablehnenden Entscheidung der Behörde endet stets die Fiktionswirkung (vgl. VGH BW, B.v. 21.2.2020 – 11 S 2/20 – juris Rn. 18). Aus § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergibt sich (nicht nur für den Fall einer zunächst bestehenden Fortgeltung, sondern erst recht für den hier gegebenen Fall der verweigerten Anordnung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG), dass der Aufenthalt eines Ausländers nach Antragsablehnung während des behördlichen und gerichtlichen Überprüfungsverfahrens unabhängig von einer gerichtlichen Eilentscheidung rechtswidrig und der Ausländer zur Ausreise verpflichtet ist (vgl. Kluth in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 32. Ed., 1.10.2020, § 81 AufenthG Rn. 49). Deshalb ist ein auf die Anordnung der Fortgeltungswirkung gerichteter Anordnungsanspruch von vorherein ausgeschlossen und ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO unzulässig (anders wohl VG Aachen, B.v. 24.5.2016 – 8 L 1025/15 – juris Rn. 6).
2. Allerdings ist es vorliegend ausnahmsweise zulässig, zu beantragen, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Abschiebung des Antragstellers vorläufig bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über die beantragte Aufenthaltserlaubnis auszusetzen.
a) Zwar ist für einen solchen Anordnungsanspruch von vorherein kein Raum – so dass insoweit ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO regelhaft nicht zulässig ist (anders wohl VG München, B.v. 24.2.2020 – M 4 E 19.6044 – juris Rn. 56; VG Aachen, B.v. 24.5.2016 – 8 L 1025/15 – juris Rn. 14: jeweils unbegründet) -, wenn ein nicht gemäß § 81 Abs. 3 bzw. Abs. 4 AufenthG geschützter Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels begehrt. Denn dieser muss die Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich im Ausland abwarten (vgl. OVG NW, B.v. 11.1.2016 – 17 B 890/15 – juris Rn. 8; VG Düsseldorf, B.v. 8.7.2021 – 2 L 1096/21 – juris Rn. 15; VG Aachen, B.v. 24.5.2016 – 8 L 1025/15 – juris Rn. 11).
b) Allerdings ist vorliegend gerade streitig, ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Fortgeltungsanordnung wegen unbilliger Härte zugestanden hätte. Bejahendenfalls hätte die Behörde diesen Anspruch erfüllt und der Antragsteller hätte bei Erlass des die Titelerteilung ablehnenden Bescheids mittels eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung mit den (begrenzten) Wirkungen des § 84 Abs. 2 AufenthG erreichen können, wenn er auf Ebene der Zulässigkeit insbesondere seine Antragsbefugnis behaupten kann. Folgerichtig muss bei verweigerter Fortgeltungsanordnung der Antragsteller einen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO stellen können, wenn es jeweils möglich erscheint, dass ein Fall der unbilligen Härte vorliegt und er einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat (Antragsbefugnis). Es ist jedenfalls nicht offensichtlich ausgeschlossen, dass dem Antragsteller mit Blick auf seinen langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik die Ausreise nicht zumutbar ist und insoweit ein Fall der unbilligen Härte vorliegt; auch ist mit Blick auf die Art der konkreten Straftat nicht ausgeschlossen, dass diese der Bejahung der Voraussetzungen des § 25a AufenthG nicht entgegenstehen.
b) Ob dessen ungeachtet ein Antrag deshalb zulässig sein muss, weil dies zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nötig ist, wenn und weil ansonsten einem möglichen Begünstigten die Inanspruchnahme einer ausländerrechtlichen Regelung vereitelt würde, die einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt (BayVGH, B.v. 18.3.2021 – 19 CE 21.363 – juris Rn. 7 und Rn. 12; OVG NW, B.v. 11.1.2016 – 17 B 890/15 – juris Rn. 9 ff.) – hier käme es insoweit auf § 25a AufenthG, der einen ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet verlangt, nicht aber auf § 19c Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 26 Abs. 2 BeschV an – kann offenbleiben.
c) Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls geltend gemacht. Der nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderliche andernfalls drohende wesentliche Nachteil liegt in den mit einer Ausreise verbundenen Nachteilen für die Lebensgestaltung im Bundesgebiet trotz des möglicherweise im Zeitpunkt der Antragstellung bei der Behörde bestehenden Fortgeltungsanspruchs (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat insoweit auch für § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO Bedeutung, vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 23).
3. Dem umgedeuteten Antrag kann kein Antrag auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis entnommen werden; dieser wäre unzulässig. Zwar wäre ein solcher Anspruch in Ausnahmefällen (vgl. Rn. 24) mit der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes vereinbar und würde auch nicht mit dem Verbot der endgültigen Vorwegnahme der Hauptsache kollidieren (a. A. VG München, B.v. 10.11.2021 – M 10 S 21.5765 – juris Rn. 34 f.), da eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis gerade nur vorübergehend, aber nicht endgültig die Hauptsache vorwegnehmen würde (vgl. hierzu Buchheister in Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 123 Rn. 33 f.; Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, EL 26, März 2014, § 123 Rn. 153). Jedoch ist eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis zur Abwendung des behaupteten drohenden wesentlichen Nachteils angesichts der Möglichkeit der Verpflichtung zur Aussetzung der Abschiebung von vornherein nicht nötig im Sinne von § 123 Abs. 1 Satz 2 a.E. VwGO und stellte mit Blick auf § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auch keinen zulässigen Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung dar.
B. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung und gegen die Entscheidung nach § 11 AufenthG ist unbegründet, weil beide Regelungen voraussichtlich rechtmäßig sind.
I. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung einer Klage ganz oder teilweise anordnen, wenn eine Abwägungsentscheidung des Gerichts ergibt, dass das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids überwiegt. Maßgeblich kommt es insoweit auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache an.
II. Die im Eilverfahren gebotene summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, dass die Klage des Antragstellers voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Die Androhung der Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina unter Bestimmung einer zweimonatigen Frist für die freiwillige Ausreise ist rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er keinen erforderlichen Aufenthaltstitel (mehr) besitzt. Nach § 58 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint. Die Abschiebung ist nach Maßgabe des § 59 AufenthG anzudrohen.
a) Der Antragsteller ist vollziehbar ausreisepflichtig, da er über keinen Aufenthaltstitel verfügt. Die Ausreisepflicht ist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch vollziehbar, weil trotz Stellung eines Antrags auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels die Wirkungen des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht eingetreten sind (vgl. Rn. 18).
b) Soweit sich der Antragsteller auf das Vorliegen von Gründen für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung wegen seiner familiären Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland beruft (§ 60a AufenthG), stehen diese der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht entgegen.
aa) Zwar greift die Regelung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dann nicht ein, wenn hinreichend sicher ist, dass auf unabsehbare Zeit ein Abschiebungshindernis bestehen wird, weil dann die Abschiebungsandrohung erkennbar ihren Zweck verfehlen würde (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 22.11.2021 – 2 M 124/21 – juris Rn. 16; Zimmerer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 10. Ed., 15.1.2022, § 59 AufenthG Rn. 21).
bb) Vorliegend besteht jedoch ein solches Hindernis nicht. Es liegt insbesondere keine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor, weil sich weder aus unmittelbar anwendbarem Unionsrecht, innerstaatlichem Verfassungsrecht oder einfachem Gesetzesrecht noch aus in innerstaatliches Recht inkorporiertem Völker- und Völkervertragsrecht ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ergibt (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 29; Hoppe in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 10 Rn. 8 ff.). Vorliegend bestehen weder tatsächliche noch rechtliche Abschiebungshindernisse (1), insbesondere steht der Abschiebung nicht das Recht auf Wahrung des Ehe- und Familienlebens in der Bundesrepublik mit den dort aufhältigen Familienangehörigen entgegen (2) noch lässt eine sog. „faktische Inländerschaft“ die Abschiebung als unverhältnismäßig erscheinen (3).
(1) Von vornherein ausgeschlossen ist die Ableitung eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses aus dem Umstand, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geltend macht; eine Antragstellung verleiht für sich genommen keinen Duldungsanspruch. Dies gilt auch für die vom Bevollmächtigte angeführte „faktische Duldung“. Der Bevollmächtigte scheint anzunehmen, dass allein aus dem Umstand des Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet im Zeitraum zwischen Ablauf seines Aufenthaltstitels (zum 2.9.2020) und dem Erlass des Bescheids eine die Abschiebung hindernde (eben faktische) Duldung vorliegt. Das ist indes nicht richtig. Die Figur der „faktischen Duldung“ ist rechtlich nur dort relevant, wo die Ausländerbehörde trotz Vorliegens von materiellen Duldungsgründen keine Duldungsbescheinigung erteilt (vgl. OVG SH, B.v. 14.1.2019 – 4 MB 126/18 – juris Rn. 8). Materielle Duldungsgründe liegen jedoch nicht vor (Rn. 36 f.).
(2) Mit Blick auf die in Deutschland befindliche Familie des Antragstellers ergibt sich kein Abschiebungshindernis. Es sind vorliegend keine unzumutbaren Beeinträchtigungen der Familieneinheit ersichtlich. Der Antragsteller ist volljährig und führt nicht erkennbar eine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft, in die in unzumutbarer Weise durch Abschiebung eingegriffen würde. Die allein in Rede stehende Beziehung eines Volljährigen zu seinen Eltern bewirkt grundsätzlich kein Abschiebehindernis.
(3) Aus dem Umstand, dass der Antragsteller vorträgt, dass er nur „wenige Brocken“ seiner Heimatsprache spreche und deshalb „faktisch Inländer“ sei (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 10.1.2022 – 19 ZB 21.2053 – juris Rn. 30), resultiert ebenfalls kein rechtliches Abschiebungshindernis (insbesondere nicht aus Art. 8 EMRK). Auch für sog. „faktische Inländer“ – wie der Antragsteller wegen seines seit der Geburt weitgehend ununterbrochenen Aufenthalts in der Bundesrepublik einer ist – besteht kein generelles Ausweisungsverbot, auch wenn der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen ist (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 – 19 ZB 21.2053 – juris Rn. 30). Erst wenn infolge eines langjährigen Aufenthalts der Ausländer über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum Aufnahmestaat verfügt, dass ihm ein Leben in dem Land seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann (vgl. OVG Saarl, B.v. 19.6.2001 – 2 B 318/09 – juris Rn. 6; s. a. BVerwG, B.v. 19.1.2010 – 1 B 25/09 – juris Rn. 4) ist von rechtlicher Unmöglichkeit im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszugehen. Die Anforderungen sind insoweit streng (vgl. Endres de Oliveira in Huber/Eichenhofer/Endres de Oliveira, Aufenthaltsrecht, 1. Aufl. 2017, Rn. 1206; Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016 Rn. 22). Das Berufen auf eine Verwurzelung in diesem Sinn setzt ferner einen rechtmäßigen Aufenthalt und ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand des Aufenthalts voraus (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2012 – 10 CE 12.778 – juris Rn. 4). Vorliegend wusste der Antragsteller um die Befristung seines Aufenthaltsrechts und durfte damit nicht auf den Fortbestand seines Aufenthalts vertrauen. Insoweit muss er die Folgen einer zurechenbaren sprachlichen Entwurzelung aus seinem Heimatland hinnehmen. Unabhängig davon verfügt der Antragsteller offenbar immerhin über geringe Kenntnisse seiner Heimatsprache (vgl. die vorgelegte eidesstaatliche Versicherung des Vaters vom 2.11.2021), deren Vertiefung ihm zuzumuten ist.
cc) Zur weiteren Begründung, auch hinsichtlich der Länge der gesetzten Ausreisefrist, gegen die der Antragsteller auch keine Einwände vorgetragen hat, folgt das Gericht den Ausführungen der Antragsgegnerin im streitgegenständlichen Bescheid und nimmt insoweit darauf Bezug (§ 117 Abs. 5 VwGO).
2. Das durch die Antragsgegnerin erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Der Antragsteller hat insoweit auch nichts vorgetragen. Zur weiteren Begründung nimmt das Gericht auch hier auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids Bezug (§ 117 Abs. 5 VwGO).
C. Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist unbegründet. Der Antragsteller hat den Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
I. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Antragsteller hat demnach sowohl die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung – ZPO).
Vorliegend hat der Antrag Erfolg, wenn neben dem Anordnungsgrund für den Antragsteller ein Fall der unbilligen Härte im Sinne von § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG gegeben ist und er – nach der im Eilrechtsschutz genügenden – summarischen Prüfung einen Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis hat. Da der Anspruch auf Aufenthaltserteilung nach der Rechtsprechung als drittes Merkmal der unbilligen Härte ohnehin zu prüfen ist, ist es für die Bejahung des Anordnungsanspruchs im Ergebnis ausreichend, wenn ein Fall der unbilligen Härte – und zwar im Zeitpunkt der Stellung des Antrags bei der Ausländerbehörde – vorgelegen hat.
II. Der Antragsteller hat den Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Ein Fall der unbilligen Härte liegt nicht vor. Eine unbillige Härte wird angenommen, wenn für den Ausländer im Rahmen einer Betrachtung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere wegen einer nur geringfügigen Überschreitung der Frist zur (Verlängerungs-)Antragstellung und eines geringen Grades des Verschuldens dieser Fristüberschreitung, unverhältnismäßig wäre, ihn – unter Abbruch gewichtiger familiärer, wirtschaftlicher und sozialer Bindungen – auf eine Ausreise und ein nachfolgendes Visumverfahren zu verweisen; eine solche Unverhältnismäßigkeit kann bejaht werden, wenn bei einer summarischen Prüfung davon ausgegangen werden kann, dass – eine rechtzeitige Antragstellung vorausgesetzt – die beantragte Verlängerung des Aufenthaltstitels erteilt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 9.5.2019 – 10 CS 19.757 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Die sechsmonatige Fristüberschreitung bis zur Antragstellung nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis ist nicht kurzfristig (so schon für eine dreimonatige Überschreitung BayVGH, B.v. 21.9.2016 – 10 ZB 16.1296 – Rn. 8).
Auch hat der Antragsteller nicht nur fahrlässig gehandelt. Fahrlässig handelt, allgemein gesprochen, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Das vorwerfbare Handlungsunrecht des Verhaltens liegt im hiesigen Fall darin, dass der Antragsteller trotz der zumindest durch die Erinnerungsschreiben der Ausländerbehörde verschafften Kenntnis vom bevorstehenden Gültigkeitsverlust der erteilten Aufenthaltserlaubnis keinen (Verlängerungs-)Antrag gestellt hat. Der eingetretene Erfolg – Verlust seines Aufenthaltsrechts – war für den Antragseller daher vorhersehbar. Es durfte von ihm auch billigerweise erwartet werden, dass er den Antrag rechtzeitig stellt. Von dieser Erwartung entbinden den Antragsteller auch nicht seine – erstmals im gerichtlichen Verfahren und schon daher wenig glaubhaft – vorgetragenen psychischen Probleme. Diese sind weder ausreichend ärztlich belegt noch auch nur plausibel geschildert. Der Vortrag des Bevollmächtigten des Antragstellers bleibt vage und blass. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Antragsteller, dessen Eltern offenbar schon geraume Zeit getrennt sind, durch eine Wohnsitzverlagerung in die Nähe seines Vaters und das Wahrnehmen von dessen neuen Lebensumständen (insbesondere das Zusammenwohnen mit einer neuen Lebensgefährtin) als derart belastend empfunden haben soll, dass er nicht zu einer Antragstellung in der Lage gewesen sein soll. Die vorgelegte psychotherapeutische Stellungnahme vom 21. Juli 2021, die auf einem Erstgespräch vom 19. Juli 2021 beruht, referiert diesen Vortrag, verifiziert ihn aber nicht und kann ihm daher keine zusätzliche Glaubhaftigkeit verleihen. Auch die diagnostischen Äußerungen auf Basis eines einzigen Gesprächs lassen den an den Antragsteller gerichteten Fahrlässigkeitsvorwurf nicht entfallen.
Vor diesem Hintergrund liegt kein Fall vor, in dem dem Antragsteller die Folgen einer Fristversäumung – insbesondere die Pflicht zur Ausreise – nicht zugemutet werden können. Auch die nur untergeordnete Familienbindung und die defizitären Kenntnisse der Sprache des Heimatlandes führen – insoweit ist die oben getroffene Bewertung im Rahmen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu übertragen – nicht zur Annahme einer Unzumutbarkeit und damit auch nicht zur Annahme eines Falls der unbilligen Härte.
D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
E. Die Entscheidung über den Streitwert ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, 2 GKG i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffern 1.5, 8.1 des Streitwertkatalogs und beträgt für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO und für den Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO jeweils 2.500 EUR.


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