Verwaltungsrecht

Erfolglose Asylklage eines Afghanen mit langjährigem (15 Jahre) Aufenthalt in Iran

Aktenzeichen  M 6 K 16.36476

Datum:
25.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 4548
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Es ist davon auszugehen, dass die Situation in der Zentralregion mit Kabul und auch sonst in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung der EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot anzunehmen wäre. (redaktioneller Leitsatz)
2. Arbeitsfähige, gesunde junge Männer sind auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage besteht. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Beteiligte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweils andere Beteiligte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Über den Rechtsstreit konnte in der mündlichen Verhandlung am 25. Februar 2018 entschieden werden, obwohl keiner der Beteiligten erschienen ist.
Die Klagepartei wurde ausweislich des Empfangsbekenntnisses vom 24. Januar 2019 zum Termin ordnungsgemäß geladen. Die Sache wurde erst um 12:49 Uhr und damit knapp 20 Minuten später als in der Ladung vorgesehen aufgerufen. Bis zum Sitzungsende um 13:21 Uhr ist seitens der Klagepartei niemand erschienen.
Der Termin musste auch nicht wegen der erneuten Betreuung des Klägers durch Herrn Rechtsanwalt T. auf dessen Antrag hin verlegt werden. Das Gericht hatte nicht das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet, sodass auch das persönliche Erscheinen des Betreuers entbehrlich war. Der Kläger hatte zu einem Zeitpunkt, als er nicht unter Betreuung stand einen Prozessbevollmächtigten mit der Wahrnehmung in Sachen Asyl- und Aufenthaltsrecht beauftragt. Das Mandatierungsverhältnis bestand auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch fort und war auch vom Betreuer des Klägers nicht gekündigt worden.
Auch die Beklagte wurde zum Termin ordnungsgemäß geladen. Sie hat gegenüber dem Gericht mit allgemeiner Prozesserklärung auf förmliche Ladung und Zustellungsnachweis verzichtet.
Mit der Ladung wurden die Beteiligten darauf hingewiesen, dass im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
2. Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.
Zur Begründung verweist das Gericht voll umfänglich auf die rechtlichen Ausführungen der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid vom 22. November 2016 und macht diese zum Gegenstand der Begründung des vorliegenden Urteils (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Lediglich ergänzend wird auf folgendes hingewiesen:
Der Kläger ist nach eigenen Angaben ohne Vorverfolgung i.S.d. § 3 AsylG bereits als Kleinkind ausgereist. Eine Verfolgung droht ihm bei seiner Rückkehr nach Afghanistan auch nicht als Zugehöriger der Volksgruppe der Hazara.
Volkszugehörige der Hazara unterliegen in Afghanistan zwar noch einer gewissen Diskriminierung, sind aber weder in ganz Afghanistan noch in der Heimatprovinz des Klägers einer an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden, gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure ausgesetzt (BayVGH, B.v. 20.1.2017 – 13a ZB 16.30996 – juris Rn. 11 m.w.N.; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris Rn. 6; B.v. 19.12.2016 – 13a ZB 16.30581 – juris Rn. 4). Gemäß der aktuellen Auskunftslage, insbesondere nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes, hat sich die Lage für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara grundsätzlich verbessert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016, S. 9; vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 24.01.2018 – A 11 S 1265/17- juris).
Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liegen nicht vor.
Konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht ersichtlich.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dem das erkennende Gericht insoweit folgt, geht weiterhin davon aus, dass die Situation in der Zentralregion mit Kabul und auch sonst in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 12.4.2018 – 13a ZB 18.30135 – juris; B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris m.w.N.). Zumindest für die Personengruppe des Klägers stellt nach Auffassung des erkennenden Gerichts die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan nach wie vor keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Zwar können schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167; BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris m.w.N.; vgl. auch ausführlich VGH Baden-Württemberg, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 1729/17 – juris). Hieran hält das Gericht auch in Würdigung des aktuellen UNHCR Berichts vom 30. August 2018 fest.
Die individuelle Situation des Klägers erfordert bzw. rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Für das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist in Bezug auf den Kläger als arbeitsfähigen, gesunden jungen Mann unter den in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen nichts ersichtlich (vgl. zur Reichweite der Schutznorm des § 60 Abs. 5 AufenthG BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 und die darin zit. obergerichtliche Rspr.). Er hat bereits im Iran gearbeitet und wird auch in Afghanistan – gegebenenfalls als Tagelöhner – seinen Lebensunterhalt sichern können.
Einen anderweitigen Schutz vor Abschiebung durch verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat der Kläger ebenfalls nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. u.a. B.v. 8.4.2002 – 1 B 71/02 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 59). Nur dann gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG – als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards -, jedem betroffenen Ausländer trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 5, § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (BVerwG, B.v. 23.8.2006 – 1 B 60/06 u.a. – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 19).
Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 16). Auch müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – NVwZ 2011, 48).
Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich für den Kläger nach Überzeugung des Gerichts nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist.
Arbeitsfähige, gesunde junge Männer sind auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage besteht (BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris Rn. 5; B.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30929 – juris Rn. 2; B.v. 22.12.2016 – 13a ZB 16.30684 – juris Rn. 7; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 60) siehe auch: EASO „Country Guidance: Afghanistan“ June 2018, Seite 30. Auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG wird Bezug genommen.
Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger seit seiner Kindheit fast ausschließlich im Iran gelebt und gearbeitet hat. Auch für Afghanen, die sich nicht in Afghanistan aufgehalten haben, besteht, jedenfalls dann, wenn sie eine der Landessprachen beherrschen, die Chance, insbesondere in Kabul durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen. Maßgeblich ist, dass der Betreffende den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen (Dari und Paschto) beherrscht, nicht, ob ein spezielles „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ gegeben ist (BayVGH, B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris Rn. 7; B.v. 20.12.2016 – 13a ZB 16.30129 – juris Rn. 10).
Nachdem die Anhörung vor dem Bundesamt in der Sprache Dari ohne Verständigungsschwierigkeiten des Klägers erfolgt ist, ist davon auszugehen, dass der Kläger Dari beherrscht, auch wenn er in der Anhörung „Hazaragi“ als seine Hauptsprache angegeben hat. Der Kläger hat die Möglichkeit gegebenenfalls seine Sprachkenntnisse in Afghanistan noch zu perfektionieren.
Nach alledem ist vorliegend davon auszugehen, dass der Kläger in dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsjobs in der Herkunftsregion bzw. einer Großstadt, ein Einkommen zu erzielen, das ihm ein Leben über dem Existenzminimum und die allmähliche Wiederintegration in die afghanische Gesellschaft ermöglicht.
Nach alledem ist auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtmäßig.
Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des Bescheids vom 1. Dezember 2016 begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Ermessenserwägungen der Beklagten sind im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, zumal die Klägerseite diesbezüglich keine Einwendungen vorgebracht hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben