Verwaltungsrecht

Erfolglose Asylklage (Pakistan, interner Schutz, PTBS)

Aktenzeichen  M 5 K 17.37624

Datum:
24.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 37351
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

1. In Bezug auf die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfordert diese nicht nur eine spezifische Symptomatik, sondern auch ein traumatisches Lebensereignis als Auslöser für die Symptomatik. Es ist ausschließlich Sache des Tatrichters sich selbst die notwendige Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Parteivortrags zu verschaffen. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
2. In Pakistan können potentiell Strafverfolgte in einer Stadt, die weit genug von ihrem Heimatort entfernt liegt, unbehelligt leben. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein erwachsener, arbeitsfähiger Mann mit ausreichender Berufserfahrung kann in den pakistanischen Städten grundsätzlich seinen Lebensunterhalt sicherstellen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eventuelle notwendige – auch psychiatrische – medizinische Behandlungen sind in Pakistan grundsätzlich möglich. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen war und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung/VwGO).
2. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom … April 2017 ist auch bei Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und 5 Satz 1 VwGO, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG).
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland/Grundgesetz (GG), da er nach eigenen Angaben auf dem Landweg einreiste. Nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG kann sich auf das Asylrecht nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Dies ist vorliegend der Fall. Zudem liegt keine Ausnahme nach § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylG vor. Auch hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) liegen ebenfalls nicht vor. Auch gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung und des festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG bestehen keine rechtlichen Bedenken.
Zur Begründung wird vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes verwiesen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG). Lediglich ergänzend wird ausgeführt:
b) Auch die vorgetragene strafrechtliche Verfolgung auf Grund eines vor der Ausreise in Pakistan durchgeführten Suizidversuchs stellt keinen Asylgrund dar. Der Kläger hat diesbezüglich im Rahmen seiner informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung am 17. November 2021 ausgeführt: „Auch ist die Polizei gekommen und hat mich darauf hingewiesen, dass es eine Anzeige geben würde, falls ich dies nochmals tun würde.“ Es hat direkt nach dem Suizidversuch in Pakistan demnach keine strafrechtliche Verfolgung gegeben. Erst Recht ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan nach mehr als sieben Jahren auf Grund dieses Vorfalls keine Strafverfolgung in Pakistan droht.
c) Selbst unterstellt, der klägerische Vortrag träfe zu, stehen dem Kläger die geltend gemachten Ansprüche nicht zu. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) oder des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) vorliegen, da dem Kläger jedenfalls eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht (§§ 3e, 4 Abs. 3 AsylG).
Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Bestehen zum Zeitpunkt der Ausreise und zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung unverändert innerstaatliche Fluchtalternativen fort, führt dies auch unter Geltung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU des europäischen Parlaments und des Rates v. 13.12.2011) zur Versagung der Anerkennung (BVerwG, U.v. 19.1.2009 – 10 C 52/07 – juris Rn. 29).
In den Städten Pakistans – vor allem in den Großstädten R…, L…, K… oder M… – leben potentiell Verfolgte nach den vorliegenden Erkenntnissen aufgrund der dortigen Anonymität sicherer als auf dem Lande. Selbst Personen, die wegen Mordes von der Polizei gesucht werden, können in einer Stadt, die weit genug von ihrem Heimatort entfernt liegt, unbehelligt leben (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Pakistan vom 29. September 2020, Stand: Juni 2020, S. 19). In einem flächen- und bevölkerungsmäßig großen Land wie Pakistan ist es grundsätzlich möglich, bei Aufenthalt in einer der größeren Städte dauerhaft der Aufmerksamkeit der lokalen Behörden zu entgehen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme an VG Leipzig vom 15.1.2014). Gemäß der Auskunft von Accord vom 5. Februar 2015 führt der Ermittlungsbericht des Vertrauensanwalts der österreichischen Botschaft in I… vom Juli 2013 aus, dass selbst eine Person, die von einem Konfliktherd mit Taliban fliehe, durchaus in einer pakistanischen Stadt in den Provinzen S… oder P… Zuflucht finden können. Hinsichtlich der Sicherheit würden in Pakistan – schon aufgrund der Größe des Landes – interne Fluchtalternativen bestehen (vgl. allgemein zur Annahme einer inländischen Fluchtalternative: VG Augsburg, U.v. 23.6.2020 – Au 3 K 18.30182 – juris Rn. 27; U.v. 30.3.2015 – Au 3 K 14.30437 – juris Rn. 49 ff.; VG Regensburg…, U.v. 24.7.2020 – RN 7 K 16.30085 – juris Rn. 44; U.v. 9.1.2015 – RN 3 K 14.30674 – juris Rn. 23; U.v. 10.12.2013 – RN 3 K 13.30374 – juris Rn. 30; VG Ansbach, U.v. 7.8.2014 – AN 11 K 14.30589 – juris Rn. 27; VG Würzburg, U.v. 20.7.2020 – W 7 K 19.30370 – juris Rn. 17; VG Köln, U.v. 10.9.2014 – 23 K 6317/11.A – juris Rn. 25; VG Göttingen, U.v. 7.2.2017 – 2 A 304/15 – juris Rn. 28; VG München, U.v. 19.5.2016 – M 23 K 14.31121 – juris Rn. 46; U.v. 12.6.2015 – M 23 K 13.31345 – juris Rn. 22 ff.; U.v. 29.10.2019 – M 19 K 17.30256 – juris Rn. 22). Eine nachhaltige und ein anderes Ergebnis rechtfertigende Änderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in Pakistan zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt legen die verfahrensgegenständlichen Erkenntnismittel nicht nahe.
Vor diesem Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass der Kläger nach einer Wiedereinreise nach Pakistan in einer dieser Millionenstädte sicher vor dem Zugriff seiner Verfolger wäre. Es ist nicht davon auszugehen, dass seine Verfolger ihn finden werden, wenn sich der Kläger in einer anderen pakistanischen Großstadt niederlässt. In einem flächen- und bevölkerungsmäßig großen Land wie Pakistan (Fläche: 880.000 m², ca. 208 Mio. Einwohner) ohne funktionierendem Meldewesen ist es grundsätzlich möglich, in einer der größeren Städte dauerhaft der Aufmerksamkeit der lokalen Behörden oder eines potentiellen Verfolgers zu entgehen. Soweit der Kläger eine Verfolgung durch die Familie des Ehemanns seiner getöteten Cousine sowie durch gegnerische Gruppen vorgetragen hat, ist ein landesweites Verfolgungsinteresse nicht dargelegt und auch nicht anderweitig erkennbar. Letztlich sind seit seiner Ausreise aus Pakistan bereits über sieben Jahre vergangen, sodass nicht davon auszugehen ist, dass nach dem Kläger (noch) gesucht wird. Gründe, die es ihm nicht zumutbar erscheinen ließen, außerhalb seiner Heimatregion zu leben, hat der Kläger nicht vorgetragen. Der Kläger hat diesbezüglich im Rahmen seiner informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung am 17. November 2021 lediglich ausgeführt, dass es ohne Bekannte oder Verwandte vor Ort schwer sei eine Wohnung und auch Arbeit zu finden; versucht habe er dies aber nicht. Der Kläger kann sich also der behaupteten Bedrohung dadurch entziehen, dass er sich in einem anderen Landesteil niederlässt. Der Kläger hat auch nichts dazu vorgetragen, aus welchem Grund er in einer Großstadt gefunden werden könnte. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger so exponiert ist, dass ihm eine landesweite Verfolgung drohen würde.
Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist dem Kläger auch zumutbar, insbesondere stehen wirtschaftliche Gründe nicht entgegen, selbst wenn hierfür mehr zu fordern ist, als die bloße Sicherung des Existenzminimums. Zwar ist festzustellen, dass die wirtschaftliche Situation in Pakistan schwierig, aber dennoch relativ stabil ist. Insbesondere in den Städten, die hier als verfolgungsfreier Landesteil zur Verfügung stehen, gibt es Beschäftigungsmöglichkeiten (vgl. Home Office, Pakistan: Background Information, including actors of protection and internal relocation, Juni 2017, Seite 35; EASO, Pakistan Länderüberblick, 2015, Seite 43; vgl. zu den Anforderungen an die Sicherung des Existenzminimums auch BVerwG, U.v. 1.2.2007 – 1 C 24/06 – juris Rn. 11). Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger als erwachsener, arbeitsfähiger Mann mit ausreichender Berufserfahrung in diesen Städten bzw. in anderen Landesteilen seinen Lebensunterhalt sicherstellen kann. Gründe, warum er keine Arbeit finden sollte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Kläger sich nicht in Anonymität verstecken, sondern allenfalls in seinem Heimatgebiet eine gewisse Vorsicht walten lassen muss, sodass insbesondere die Teilnahme am Erwerbsleben möglich ist.
d) Die Voraussetzungen für ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Insbesondere ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nicht erkennbar. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus solchen Gründen liegt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vor. Nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt dabei der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur möglich sein, sondern sie muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Ferner ist eine wesentliche Verschlechterung nicht schon bei einer zu befürchtenden ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustands zu bejahen, sondern nur bei erwartbaren schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland eintreten wird, etwa weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2.99 – juris Rn. 8).
aa) Es besteht kein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Dabei hat das Gericht keinen Zweifel an der beim Kläger bestehenden psychischen Erkrankung, die in dem vorgelegten Attest vom … Februar 2021 belegt ist. Allerdings kann bei objektiver Betrachtung nicht festgestellt werden, dass die beim Kläger vorliegende Erkrankung in Pakistan nicht behandelt werden könnte. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes betreffend Pakistan vom 29. September 2020 (Stand: Juni 2020) besteht generell eine ausreichende medizinische Behandlungsmöglichkeit für die meisten Krankheiten – ausgenommen schwierige Operationen wie Organtransplantationen. Für Bedürftige ist diese kostenlos (IV. 1.2). Daher ist eine eventuell notwendige – auch psychiatrische – Behandlung in Pakistan möglich (ausdrückliche Behandelbarkeit von Depression und posttraumatischer Belastungsstörung: VG Augsburg, U.v. 9.4.2018 – Au 3 K 17.34319 – juris Rn. 21). Das Gericht ist davon überzeugt, dass eine Fortführung der Behandlung und Einnahme der möglicherweise erforderlichen Medikamente – aktuell nimmt der Kläger keine Medikamente zur Behandlung seiner psychischen Erkrankung ein – auch in Pakistan möglich ist.
Etwas Anderes lässt sich auch nicht dem ärztlichen Attest sowie den Schilderungen des Klägers im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung entnehmen.
bb) Suizidgefahren kraft psychischer Belastung wegen anstehender Abschiebung oder deren Vollzug im Bundesgebiet sind nicht als zielstaatsbezogen zu bewerten (vgl. hierzu auch Marx Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Auflage 2020, § 7 Rn. 381: „Die Gefahren, die etwa bei Suizidgefahren im Anschluss an den Abschluss des technischen Vorgangs der Abschiebung eintreten können, sind inlandsbezogen.“).
Wird vorgetragen, dass sich unmittelbar durch die Rückführung als solche der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, wird kein zielstaatsbezogenes, sondern ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis geltend gemacht (vgl. BayVGH, B.v. 5.7.2017 – 19 CE 17.657 – BeckRS 2017, 119326; VG München, B.v. 11.6.2018 – M 10 S 17.46934; VG München, B.v. 25.2.2016 – M 21 S 16.30147; B.v. 11.7.2019 – M 23 S 18.30508). Dies gilt insbesondere in Bezug auf das Bestehen einer ernsthaften Suizidgefahr (OVG NW, B.v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris).
Bezüglich nicht auszuschließender Suizide nach Rückkehr in das Heimatland handelt es sich zum einen in der Regel um ein ungewisses und nicht konkretes Ereignis, das regelmäßig allein an die Person des Ausländers anknüpft. (Vgl. OVG NW, B.v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris, Rn. 84 f.; VG Aachen, U.v. 22.6.2005 – 9 K 511/02.A – juris, Rn. 76 ff; VG Arnsberg U.v. 11.9.2018 – 6 K 6323/16, BeckRS 2018, 40753), zudem steht ein in unmittelbarem Anschluss an die Abschiebung geplanter Suizid noch in direktem Zusammenhang mit derselben.
Diese Gefahr des Suizids würde daher kein zielstaats-, sondern allenfalls (noch) ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis darstellen.
Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, wie sie hier vorgetragen werden, sind aber bei der Ausländerbehörde als der mit dem Vollzug der Abschiebung betrauten Stelle geltend zu machen; diese hat von Amts wegen in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung tatsächliche Abschiebungshindernisse zu beachten und gegebenenfalls durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung durch Erteilung einer Duldung abzuwehren oder durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen (BVerfG, B.v. 26.2.1998 – 2 BvR 185/98 – juris). Insbesondere bei psychischen Erkrankungen mit suizidalen Tendenzen ist sie gehalten, die Abschiebung durch präventive Maßnahmen so zu gestalten, dass einer Eigengefährdung des betroffenen Ausländers wirksam begegnet werden kann (BayVGH, B.v. 5.7.2017 – 19 CE 17.657 – BeckRS 2017, 1193269; ärztliche Begleitung; Bereitstellung ggf. erforderlicher Medikation im Zielstaat auch für einen längeren Zeitraum).
cc) Psychische Erkrankungen einschließlich einer PTBS, können zu einem Abschiebungsverbot führen, selbst wenn diese Krankheiten im Heimatland prinzipiell behandelbar sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Abschiebung aus in der Erkrankung selbst liegenden Gründen für den Betroffenen unzumutbar ist. Dies ist etwa bei Gefahr einer zu irreparablen Gesundheitsschäden führenden (Re-) Traumatisierung anerkannt (vgl. etwa BayVGH, U.v. 9.9.2013 – 9 B 10.30261 – juris; NdsOVG, B.v. 26.6.2007 – 11 LB 398/05 – juris). Unter dem Begriff der Retraumatisierung wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen (Trigger), die dem zu Grunde liegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln, oder Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (VG Sigmaringen, U.v. 10.3.2017 – A 3 K 3493/15 – juris Rn. 51 m.w.N.).
Soweit vom ausreisepflichtigen traumatisierten Ausländer vorgebracht wird, eine Rückkehr an den Ort seiner Traumatisierung sei unzumutbar und führe zu einer Retraumatisierung oder Verschlimmerung der Traumafolgen, führt das ebenfalls nicht zur Annahme überwiegend wahrscheinlicher Leibes- und Lebensgefahren von der beschriebenen Schwere. Auch insoweit ist es ihm zumutbar, seinen Lebensmittelpunkt an einem Ort, wo diese Folgen nicht drohen, zu begründen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, jeder Ort des Heimatlandes sei insoweit ungeeignet und löse bei dem Rückkehrer die gleichen Folgen aus. Dies hätte zur Konsequenz, dass jeder traumatisierte Mensch nur außerhalb seines Heimatlandes erfolgreich therapiert werden könnte (vgl. zum Ganzen: OVG NW, B.v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris Rn. 82).
Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG, welche gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechend gelten, muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
In Bezug auf die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfordert diese nicht nur eine spezifische Symptomatik, sondern auch ein traumatisches Lebensereignis als Auslöser für die Symptomatik (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v.13.12.2018 – 13a ZB 13.33056 – juris Rn. 9 ff.; B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 8). Die Glaubwürdigkeit des Betroffenen bei Schilderung der Umstände eines eventuell traumatisierenden Ereignisses ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht als „verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (vgl. ICD-10: F.43.1, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme). Die Störung ist also stets die direkte Folge der akuten schweren Belastung; ihr Beginn folgt dem Trauma (vgl. ICD-10: F.43 Info und 11.43.1). Auch geklärt ist insoweit, dass der Nachweis des Ereignisses, „das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“, nicht Gegenstand der gutachtlichen (fachärztlichen) Untersuchung einer posttraumatischen Belastungsstörung ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.10.2012 – 9 ZB 10-30390 – juris Rn. 8 m.w.N). Mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln kann ohnehin nicht sicher geschlossen werden, ob tatsächlich in der Vorgeschichte ein Ereignis vorlag und wie dieses geartet war (vgl. Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, S. 41 ff.). Nach medizinisch-fachlichen Stellungnahmen wäre es überdies fatal, „einem Patienten mit einer PTBS nicht zu glauben bzw. Zweifel dahingehend entgegen zu bringen, dass seine geschilderten Erlebnisse sich so nicht zugetragen haben“; daher stelle „die Überprüfung der vorgebrachten Inhalte eine juristische Fragestellung“ dar, im Zusammenhang mit fachärztlicher Beratung würden das Leiden und die Bedürftigkeit des Patienten grundsätzlich nicht in Frage gestellt (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 8.10.2019 – 7 B 19.31952, juris Rn. 17; v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 8 f.; v. 15.2.2017 – 9 ZB 14.30433 – juris Rn. 12).
Dementsprechend ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch geklärt, dass es ausschließlich Sache des Tatrichters ist, sich selbst die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO notwendige Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Parteivortrags zu verschaffen (BVerwG, B.v. 22.2.2005 – 1 B 10.05 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 17.1.2018 – 10 ZB 17.30723 – juris Rn. 5). Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers gehört – auch in schwierigen Fällen – zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung (BVerwG, B.v. 18.7.2001 – 1 B 118.01 – juris Rn. 3). Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung umfasst dabei sowohl die Würdigung des Vorbringens der Partei im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren einschließlich der Beweisdurchführung als auch die Wertung und Bewertung vorliegender ärztlicher Atteste sowie die Überprüfung der darin getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit. Der Sachverständige begutachtet demgegenüber lediglich als „Gehilfe“ des Richters einen grundsätzlich vom Gericht festzustellenden (Mindest-)Sachverhalt aufgrund seiner besonderen Sachkunde auf einem Fachgebiet (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.1985 – 8 C 15.84 – juris Rn. 16). Die Feststellung der Wahrheit von Angaben des Asylbewerbers oder der Glaubhaftigkeit einzelner Tatsachenbehauptungen unterliegt als solche nicht dem Sachverständigenbeweis (BVerwG, B.v. 22.2.2005 – 1 B 10.05 – juris; zum Ganzen: BayVGH, B.v. 8.10.2019 – 7 B 19.31952, juris Rn. 18; v. 17.1.2018 – 10 ZB 17.30723 – juris Rn. 5).
Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass eine etwaige Rückkehr nach Pakistan zu einer Retraumatisierung und Verschlimmerung der Krankheit führt. Das nervenärztliche Gutachten vom … Februar 2021 kommt auf Seite 25 zu dem Schluss, dass infolge der fehlender psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten sowie der Gefahr der Retraumatisierung auf Grund der existenziellen Bedrohung durch die feindliche Familie ein zielstaatsbezogenes Abschiebeverbot bestünde, da eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Zielland eintreten werde.
Entgegen der – im Gutachten vom … Februar 2021 behaupteten und nicht näher belegten – fehlenden psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten in Pakistan ist zur Überzeugung des Gerichts eine Behandelbarkeit – wie unter Nr. 2 d) aa) ausgeführt – gegeben.
Einer Behandelbarkeit der psychischen Erkrankung des Klägers in Pakistan steht schließlich auch nicht eine Gefahr der Retraumatisierung im ganzen Gebiet des Landes Pakistan entgegen. Das nervenärztliche Gutachten vom … Februar 2021 ist insoweit nicht plausibel, zumal das vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen einen klaren lokalen Bezug zu seinem alten Wohnort und den dort bestehenden Familienstreitigkeiten sowie Streitigkeiten mit einer gegnerischen Gruppe auf Grund von Grundstücksstreitigkeiten aufgewiesen hat und für das Gericht nicht im Ansatz zu erkennen ist, warum der Kläger überall in Pakistan eine Retraumatisierung erleiden könnte. Vielmehr ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger eine inländische Fluchtalternative – wie unter Nr. 2 c) ausgeführt – auch unter Berücksichtigung seiner psychischen Erkrankungen zu Verfügung steht und er sich an einem Ort niederlassen kann, an dem ihm keine Retraumatiserung droht.
dd) Trotz seiner Erkrankung kann der Kläger seine Existenz absichern in dem Sinne, dass ihm in Pakistan ein Überleben möglich ist. Aus den vorgelegten Attesten folgt nicht, dass der Kläger so erheblich in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sein könnte, dass ihm die Sicherung seiner Existenz bei einer Rückkehr nach Pakistan voraussichtlich unmöglich wäre (vgl. BayVGH. B.v. 16.10.2018 – 6 ZB 18.32616). Der Kläger geht aktuell einer Beschäftigung nach. Dies unterstreicht, dass der Kläger trotz seiner Erkrankungen voraussichtlich in der Lage sein wird, seine Existenz auch in Pakistan sichern zu können.
e) Auch gegen die Rechtmäßigkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG bestehen keine Bedenken.
3. Der Kläger hat als unterlegener Beteiligter nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).
Nach § 83 b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.


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