Verwaltungsrecht

Erfolglose Asylklage ukrainischer Staatsangehöriger

Aktenzeichen  RO 9 K 17.34870

Datum:
20.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 141767
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 3, § 4

 

Leitsatz

1 Personen, die den Wehrdienst nicht aus Gewissensgründen, sondern aus anderen Gründen verweigern, stellen keine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar (ebenso BayVGH BeckRS 2016, 42593). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es droht in der Ukraine bei Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen Wehrdienstentziehung keine menschenrechtswidrige Behandlung (ebenso BayVGH BeckRS 2017, 124704). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben gesamtschuldnerisch die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Kläger haben weder Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes noch Feststellung eines Abschiebungsverbotes (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Vielmehr ist die vom Bundesamt getroffene Entscheidung auch im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt nicht zu beanstanden. Das Gericht folgt dabei zunächst den Feststellungen und der Begründung des streitbefangenen Verwaltungsakts und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf diesen Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Vorbringen im Klageverfahren veranlasst keine anderweitige Beurteilung der Sach- und Rechtslage:
1. Soweit die Klägerseite kritisiert, dass beim Bundesamt anhörende und entscheidende Person auseinandergefallen sind, begründet dieser Umstand für sich genommen nicht schon die mit der vorliegenden Verpflichtungsklage geltend gemachte Zuerkennung eines materiellen Schutzstatus. Selbst wenn der Klägerseite insoweit in ihrer Argumentation zu folgen wäre, würde die bloße Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides noch nicht zur Zuerkennung eines Schutzstatus führen. Indes bestünde für eine isolierte Anfechtungsklage – welche im Übrigen auch nicht erhoben worden ist – kein Rechtsschutzbedürfnis. Vielmehr sind im vorliegenden gerichtlichen Verfahren die zur erstrebten Begründung eines Schutzstatus aufgeworfenen Sach- und Rechtsfragen zu klären.
2. Zum Themenkomplex „Wehrdienst“:
2.1 Eine Einberufung des Klägers zu 2. ist nicht zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich gemacht. Vielmehr hat er ausdrücklich vorgetragen, dass ihm zu keinem Zeitpunkt ein Einberufungsbefehl persönlich ausgehändigt worden ist. Nicht zuletzt der Kläger zu 2. hatte bereits bei der Anhörung selbst erkannt, dass er bei persönlicher Entgegennahme wegen Wehrdienstentziehung bestraft werden könnte, wenn er sich nicht gemeldet hätte (Bl. 106 d.A.).
Zudem ist den aktuellen Erkenntnismitteln zu entnehmen, dass keine neue Mobilisierungswelle geplant ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 7.2.2017, Stand: Januar 2017 – Lagebericht 2017 – Nr. II.1.6, S. 9), sondern dass verstärkt Berufssoldaten in die Armee aufgenommen werden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Fact Finding Mission Report Ukraine, May 2017 – BFA-Report – Chapter 3.1.2, S. 24 f. und Chapter 3.1.3.3, S. 31). Für den Kläger zu 2. besteht daher bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland auf absehbare Zeit keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass er eingezogen wird (vgl. dazu BayVGH, U.v. 24.8.2017 – 11 B 17.30392 – juris, Rn. 18).
2.2 Ungeachtet dessen würde eine Einberufung des Klägers zu 2. zum Dienst in den ukrainischen Streitkräften als solche bzw. die Strafbewehrung einer etwaigen Wehrdienstentziehung nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen (vgl. dazu BayVGH, U.v. 24.8.2017 – 11 B 17.30392 – juris).
Eine Einberufung stellt für sich genommen deshalb keine flüchtlingsschutzrechtlich relevante Verfolgung dar, weil die Heranziehung zum Militärdienst ausweislich der Regelung in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG flüchtlingsschutzrechtlich schon grundsätzlich nicht dem Schutzversprechen des § 3 AsylG unterfällt. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG definiert lediglich Verfolgungshandlungen im Zusammenhang mit einer Verweigerung des Militärdienstes nur in einem Konflikt als relevante Verfolgungshandlungen, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Kriegsverbrechen; schwere nichtpolitische Straftaten, Zuwiderhandlungen gegen die Grundsätze der Vereinten Nationen). Demgegenüber vermag die Einberufung zum Wehrdienst als solche grundsätzlich kein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungsschicksal zu begründen (vgl. BVerwG, B.v. 2.6.2017 – 1 B 108.17 – juris Rn. 10; B.v. 10.9.1999 – 9 B 7/99 – juris Rn. 3).
2.3 Als Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG kann aber nach § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten. Mit Blick auf den Themenbereich „Wehrdienstverweigerung/-entziehung“ führt der BayVGH in einem Beschluss vom 15. Februar 2016 (11 ZB 16.30012 – juris Rn. 13) dazu u.a. aus:
„Eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG kann dabei auch in einer unverhältnismäßigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung bestehen (vgl. EuGH, U. v. 26.2.2015 – C-472/13 – Shepherd – Abl EU 2015 C 138, S. 7 = juris Rn. 56; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, 1. Aufl. 2009, § 9 Rn. 178). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass jeder Staat ein legitimes Recht hat, eine Streitkraft zu unterhalten, seine Staatsangehörigen zum Wehrdienst in dieser Streitkraft heranzuziehen und Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, angemessen zu bestrafen. Eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen einer Wehrdienstentziehung kann regelmäßig nur dann angenommen werden, wenn der Betreffende durch die fehlende Möglichkeit der Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen und die daraus folgende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung, in seinem Recht aus Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 (EMRK), zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 14 vom 13. Mai 2004, verletzt wird (vgl. EGMR, U. v. 7.7.2011 – 23459/03 – BeckRS 2012 80059). Dabei kommt es insbesondere auch darauf an, ob der Betreffende eine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Wehr- oder Kriegsdienst glaubhaft machen kann (Marx a. a. O. Rn. 192).“
Eine Gewissensentscheidung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jede ernste, sittliche, an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne schwere seelische Not bzw. nicht ohne ernstliche Gewissensnot handeln kann (BVerfG, E.v. 20.12.1960 – 1 BvL 21/60 – juris Rn. 30). Zur Feststellung einer solchen Gewissensentscheidung im Rahmen der insoweit vergleichbaren Konstellation des Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 GG führt das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 21. Juni 2005 (2 WD 12/04 – juris Rn. 159 f.) u.a. aus:
„Da die Gewährleistung der Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht durch das normierte (Verfassungs-)Recht erfolgt und eine Gewissensentscheidung nach Art. 4 Abs. 1 GG Tatbestandsvoraussetzung dafür ist, dass die vom Grundrecht vorgesehenen und vom konkreten Grundrechtsträger geltend gemachten Rechtsfolgen eintreten, müssen die rechtlichen Voraussetzungen dafür im Einzelfall erfüllt sein. Nur dann besteht die in Art. 4 Abs. 1 GG normierte Verpflichtung staatlicher Hoheitsträger, gewissenschonende Handlungsalternativen zur Verfügung zu stellen (vgl. dazu u.a. R. Eckertz, a.a.O., 1981, S. 23). Denn das „Ob“ einer Gewissensentscheidung muss im Streitfalle – gegebenenfalls im Wege der Beweisaufnahme – positiv festgestellt werden. Damit ist die Anwendung und Beachtung dieses Rechts, mithin auch die Bestimmung seiner Grenzen, im Streitfall notwendigerweise Sache des zuständigen Gerichts, dessen Richterinnen und Richtern nach Art. 92 GG die rechtsprechende Gewalt, also die verbindliche Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts anvertraut ist.
Das Vorliegen einer von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Gewissensentscheidung als interner geistig-seelischer Vorgang der Persönlichkeit lässt sich allerdings von außen in aller Regel nur schwer ermitteln. Denn der Gewissensappell als „innere Stimme“ des Menschen ist in der äußeren Umwelt nicht unmittelbar wahrnehmbar, sondern kann nur mittelbar aus entsprechenden Indizien und Signalen, die auf eine Gewissensentscheidung und Gewissensnot hinweisen, erschlossen werden. Da das Medium solcher Signale und Indizien vornehmlich die Sprache ist, können der Ernst, die Tiefe und Unabdingbarkeit der vom Grundrechtsträger im oder für den konkreten Konfliktfall geltend gemachten Gewissensentscheidung in diesem Medium Ausdruck finden (vgl. H.H. Rupp, NVwZ 1991, 1033 [1034]). Deshalb wird im Fachschrifttum (vgl. u.a. Bäumlin, VVDStRL 28 , 3, 8 f.; Denninger in AK-GG, Bd. 1, 1. Aufl. 1984, Art. 4 RNr. 51 [ebenso Preuß in der 2. Aufl. 1989, RNr. 51]; H.H. Rupp, a.a.O.) und in der Rechtsprechung (Urteil vom 3. Februar 1988 – BVerwG 6 C 31.86 – ) für eine positive Feststellung – gerade auch wegen der damit verbundenen rechtlichen Folgen zu Recht – der Sache nach eine nach außen tretende, rational mitteilbare und nach dem Kontext intersubjektiv nachvollziehbare Darlegung der Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit der Gewissensentscheidung gefordert. Dabei bezieht sich die rationale Nachvollziehbarkeit der Darlegung nicht auf die Frage, ob die Gewissensentscheidung selbst etwa als „irrig“, „falsch“ oder „richtig“ gewertet werden kann (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1960 – 1 BvL 21/60 – ; Urteil vom 2. April 1970 – BVerwG 8 C 61.68 – ; Adolf Arndt in NJW 1957, 361 [362]), sondern allein auf das „Ob“, also auf die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins des Gewissensgebots und seiner Verhaltensursächlichkeit.“
Für eine verbindliche und unbedingte Gewissensentscheidung des Betroffenen müssen konkrete Anhaltspunkte anhand seiner persönlichen Entwicklung, seiner Lebensführung, seines bisherigen Verhaltens und der Einflüsse, denen er ausgesetzt war und ist, sowie der Motivation seiner Entscheidung festgestellt werden (VG Minden, U.v. 27.11.2015 – 10 K 759/14 – juris Rn. 30 m.w.N.).
Vorliegend konnte der Kläger zu 2. das Vorhandensein einer Gewissensentscheidung im vorstehend beschriebenen Sinn nicht glaubhaft machen. Vielmehr lassen seine Ausführungen beim Bundesamt und bei Gericht allein darauf schließen, dass er zwar Angst vor einem Kriegseinsatz hat und nicht auf Russen oder Ukrainer schießen möchte (S. 2 der Niederschrift). Gleichzeitig betont er aber ausdrücklich, dass er nichts gegen den Wehrdienst habe (Bl. 107 d.A.). Im Termin hob er dazu ausdrücklich hervor, dass er Dienst an der Waffe leisten würde, würde die Ukraine von einem anderen Land angegriffen werden (S. 2 der Niederschrift). Eine rational mitteilbare und nachvollziehbare ausführliche Darlegung der Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit der ins Feld geführten Gewissensentscheidung gegen den Dienst mit der Waffe ist demnach nicht erkennbar. Dem Kläger zu 2. geht es letztlich darum, nicht in der aktuellen Auseinandersetzung in der Ostukraine gegen Russen oder Ukrainer kämpfen zu müssen. Mit seinem Bekenntnis zur Wehrpflicht als solcher und zur Dienstleistung im Kriegsfall mit anderen Staaten wendet er sich aber nicht aus pazifistischen Gewissensgründen gegen das Töten von Menschen als solches, zumal er noch vor Ausbruch des Krieges nichts gegen die Ableistung des Wehrdienstes gehabt hatte (Bl. 106 d.A.)
Letztlich kann aber offen bleiben, ob der Kläger zu 2. Gewissengründe im Sinne von Art. 9 EMRK geltend machen kann. Denn ihm droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung, weil keine strafbare Wehrdienstentziehung vorliegt. Bereits nach eigener Schilderung wurde ihm persönlich bislang kein Einberufungsbefehl zugestellt. Das beschriebene Vorgehen der Militärbehörden zu Einberufungsbefehlen steht dabei in Einklang mit einer Auskunft des Auswärtigen Amts vom 24. Mai 2017 an das Bundesamt. Hiernach dürfen solche dem Betroffenen nur persönlich mit Empfangsbestätigung übergeben werden. Die nicht erfolgte Aushändigung kann also keine rechtlichen Konsequenzen für den Betroffenen nach sich ziehen.
2.4 Unabhängig davon setzt eine Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG aufgrund eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals im Sinne von § 3b AsylG voraus. Die zwangsweise Heranziehung zum Wehrdienst bzw. eine Strafverfolgung bzw. Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung schlägt allerdings nur dann in Verfolgung um, wenn sie zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt wird, die dadurch wegen ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals getroffen werden sollen (BVerwG a.a.O.). Eine solche Anknüpfung an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal ist vorliegend nicht festzustellen. Vielmehr lässt sich den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen entnehmen, dass Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung bei der Heranziehung keine Rolle spielen (AA, Lagebericht vom 7.2.2017, S. 9). Personen, die den Wehrdienst nicht aus Gewissensgründen, sondern aus anderen Gründen verweigern, stellen zudem keine soziale Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bzw. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU dar (BayVGH, B.v. 15.2.2016 –11 ZB 16.30012, juris Rn. 21). Ein Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG ist mithin nicht ersichtlich.
2.5 Selbst wenn sich der Kläger zu 2. einer Wehrdienstentziehung schuldig gemacht haben sollte, wäre aber jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zu rechnen, in deren Vollzug unter dem Blickwinkel des § 4 AsylG oder § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK eine menschenrechtswidrige Behandlung drohen würde. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt hierzu in einem Urteil vom 24. August 2017 (11 B 17.30392 – juris, Rn. 28, 29 und 31ff.) aus:
„Nach Art. 337 des Ukrainischen Strafgesetzbuchs (UStGB) kommen für die Vermeidung der militärischen Registrierung nur Geldstrafe, Arbeitsstunden oder Freiheitsstrafe für bis zu sechs Monate in Betracht (Lagebericht 2017, Nr. II.1.6, S. 10). Dem Kläger ist aber keines der beiden Schreiben persönlich zugestellt worden und es können daraus keine Rechtswirkungen folgen. Ein gleichwohl angestrengtes Strafverfahren müsste mangels Nachweises einer Straftat eingestellt werden.
Im Übrigen haben nach der Auskunftslage im März/April 2014 z.B. 70 Prozent der Reservisten in Kiew die Ladungen ignoriert und sind nicht bei den Rekrutierungsbüros erschienen (BFA-Report, Chapter 3.3.3.1, S. 35 ff.). Um 1.000 Männer zu mobilisieren, seien bis zu 40.000 Ladungen notwendig gewesen (BFA-Report a.a.O. S. 37). Angesichts dieser Zahlen erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass fast ein Jahr nach der Demobilisierung aller tatsächlich eingezogenen Soldaten im Oktober 2016 (Lagebericht 2017, Nr. II.1.6, S. 9) nunmehr ein großer Teil der männlichen Bevölkerung mit Strafverfahren überzogen wird, weil sie die Ladungsschreiben nicht entgegen genommen haben. Den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass eine solche Vorgehensweise der Strafverfolgungsbehörden bisher erfolgt oder noch zu erwarten ist, sondern es wird berichtet, es seien zahlreiche Strafverfahren gegen solche Personen eingeleitet worden, die vom Militärdienst desertiert sind oder sich der Einberufung entzogen haben (vgl. Home Office, Country Policy and Information Note Ukraine: Militäry Service, Version 4.0 April 2017, Nr. 9.2.4 ff.).
(…)
Zwar kann nach Art. 336 UStGB eine Mobilisierungsentziehung mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden (Lagebericht 2017, Nr. II.1.6, S. 10) und eine Strafverfolgung von Fahnenflüchtigen findet auch statt (vgl. BFA-Report, Chapter 3.3.3, S. 39). Auch Verurteilungen zu Freiheitsstrafen wegen Mobilisierungsentziehung werden berichtet, die in einzelnen Fällen auch nicht zur Bewährung ausgesetzt werden (vgl. BFA-Report a.a.O. S. 39 f.; UNHCR, International Protection Considerations related to developments in Ukraine – Update III, September 2015, Nr. 34, S. 13; Anfrage des Bundesamt an das Auswärtige Amt vom 28.7.2016 [Gz. 9206-230; 7406-374/16; UKR-454]). Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass in jedem konkreten Fall das Gericht die Schwere der Schuld des Betreffenden unter den aktuellen Gegebenheiten feststellt und bei Personen, die mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren, keine Freiheitsstrafen ohne Aussetzung zur Bewährung verhängt werden (vgl. BFA-Report a.a.O. S. 40). Angesichts der Umstände, dass der Kläger bei seiner Ausreise noch sehr jung war und immer noch ist, seine Ausreise zur Vermeidung des Militärdienstes nicht politisch motiviert war und er nicht vorbestraft ist, erscheint es dem Senat nicht hinreichend wahrscheinlich, dass er zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt werden würde.
Darüber hinaus erscheint es auch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass bei der Vollstreckung einer kurzen Freiheitsstrafe eine menschenrechtswidrige Behandlung droht. Zwar sind trotz erheblicher Fortschritte in den Haftanstalten, da aufgrund einer Reform der Ukrainischen Strafprozessordnung die Zahl der Insassen stark rückläufig ist, schlecht bezahltes und unzureichend ausgebildetes Wachpersonal, überbelegte Großraumzellen, mangelhafte Ernährung, unzureichende medizinische Betreuung, unzulängliche hygienische Verhältnisse sowie unverhältnismäßig starke Beschränkungen von Kontakten zur Außenwelt weiterhin nicht völlig verschwunden (Lagebericht 2017, Nr. II.4, S. 14) und in einigen Untersuchungshaft- und psychiatrischen Einrichtungen herrschen weiterhin sehr schlechte Zustände (Lagebericht 2017 a.a.O.). Auch ist der Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 11. Februar 2016, Stand Januar 2016, noch davon ausgegangen, die Missstände in den Gefängnissen seien in der Regel anzutreffen. Die Änderung der Formulierung im Lagebericht 2017 legt jedoch eine spürbare Verbesserung zumindest in Haftanstalten zur Verbüßung kürzerer Freiheitsstrafen nahe. Die Bedingungen im Polizeigewahrsam sowie in Untersuchungshaft sind schlechter als in Gefängnissen mit niederer oder mittlerer Sicherheitsstufe (vgl. USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2016 Ukraine, USDOS Country Report, Section 1.c., S. 4) und stellen manchmal eine ernsthafte Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Gefangenen dar. Auch zu lebenslanger Haft Verurteilte erleiden oft erhebliche Rechtsverletzungen (USDOS Country Report a.a.O.). Das Auswärtige Amt hat auch seit 2013 in neun Fällen „Monitoring“ durch die Botschaft Kiew nach erfolgter Auslieferung veranlasst. Die Auslieferungen erfolgen jeweils nach Einzelfallprüfungen und Abgabe von Zusicherungen, u.a. hinsichtlich EMRK-konformer Behandlung und Unterbringung (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt vom 30.8.2016, Gz. 508-516.80/48541). Demgegenüber ist es aber für die Häftlinge und ihre Familienangehörigen möglich, beim Ombudsmann für Menschenrechte eine Beschwerde zu erheben und es finden auch unabhängige Kontrollen der Gefängnisse durch internationale und lokale Menschenrechtsorganisationen statt (USDOS Country Report a.a.O. S. 4 f.). Nach Auskunft des Foreign and Commonwealth Office soll jedes Gefängnis über eine medizinische Abteilung verfügen, in der medizinische Hilfe gewährleistet ist (vgl. Home Office, Country Policy and Information Note, Ukraine: Prison conditions, Version 2.0, April 2017, Chapter 7.1.4 und 7.2.3, S. 11 f.). Vom 21. bis 30. November 2016 hat das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe die Ukraine besucht und festgestellt, dass durch die Gefängnisreform die Auslastung der Haftanstalten stark zurückgegangen ist. Die Gesundheitsversorgung sowie die Personalausstattung seien weiterhin verbesserungsbedürftig. In den besuchten Haftanstalten seien aber keine aktuellen Misshandlungen der Gefangenen durch das Personal festgestellt worden und die Ausstattung sei überwiegend in Ordnung gewesen. In den besuchten Untersuchungsgefängnissen sei es jedoch zu Misshandlungen durch Mitgefangene gekommen. Hinsichtlich der zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefängnisinsassen komme es immer wieder zu inakzeptablen Maßnahmen (vgl. insgesamt Council of Europe, Report to the Ukrainian government on the visit to Ukraine carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 21 to 30 November 2016, Straßburg 19.6.2017).
Angesichts dieser Auskunftslage wäre nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass dem Kläger eine unmenschliche Behandlung in Haft drohen würde. Zum einen käme wohl nur eine kurze Haftstrafe in Betracht, die in einem Gefängnis mit niederer oder mittlerer Sicherheitsstufe verbüßt werden könnte. Solche Haftanstalten weisen – wie ausgeführt – einen besseren Standard auf. Dass der Kläger in Untersuchungshaft oder Polizeigewahrsam genommen werden oder eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden würde, in denen die Zustände weit schlechter sind, ist demgegenüber nicht zu erwarten. Zum anderen haben sich die Verhältnisse in den ukrainischen Gefängnissen in den von der Regierung kontrollierten Landesteilen durch die Reform der Prozessordnung und der Gefängnisreform verbessert und die Zahl menschenrechtswidriger Verstöße ist zurückgegangen.“
Soweit sich das zitierte Urteil des Bayerische Verwaltungsgerichtshofes mit Art. 336 UStGB (Mobilisierungsentziehung; Strafrahmen bis zu 5 Jahre) auseinandersetzt, gelten die dortigen Ausführungen nach Einschätzung des Gerichts für den hier mangels zuvor geleisteten Wehrdienstes fehlender Reservistenstellung des Klägers zu 2. allein denkbaren Vollzug des Art. 335 UStGB (Wehrdienstentziehung; Strafrahmen bis zu 3 Jahre) entsprechend.
3. Andere greifbare Anhaltspunkte für die Zuerkennung subsidiären Schutzes oder die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes sind nicht ersichtlich.
3.1 Vielmehr wird im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend herausgearbeitet, dass die Kläger in einer Zusammenschau aus bereits vor Ausreise erbrachter eigener Arbeitskraft (Kl. zu 2: Elektromechaniker; Kl. zu 1.: Verkäuferin/Verkaufsberaterin), familiärer Unterstützung (Kl. zu 2.: Mutter, Schwester, Cousins und Cousinen; Kl. zu 1.: Eltern, Tante, Schwester, Nichte) und ggf. staatlicher Hilfe das Existenzminimum für sich und ihren Sohn zu sichern können.
3.2 Soweit die Kläger Befürchtungen bezüglich anti-russischer Bewegungen in der Westukraine hegen, kann dem Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 7. Februar 2017 und anderen Erkenntnismitteln nicht entnommen werden, dass russischsprachige Staatsbürger der Ukraine, die ca. 30 Prozent der Bevölkerung stellen, einer Verfolgung ausgesetzt wären (vgl. BayVGH, B.v. 30.5.2017 – 11 ZB 17.30523 – juris). Ungeachtet dessen wären die Kläger auf staatlichen Schutz zu verweisen. Schließlich stünde es ihnen frei, sich ggf. in einem Oblast der Westukraine niederzulassen, der einen signifikant hohen Anteil russischstämmiger Bevölkerung aufweist (wie etwa Charkow).
Kosten: § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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