Verwaltungsrecht

Erfolglose Beschwerde gegen Ablehnung von Prozesskostenhilfe

Aktenzeichen  10 C 20.51

Datum:
27.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9502
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 2 Nr. 9

 

Leitsatz

1. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Generalpräventiv begründete Ausweisungen sind zulässig. Dies ist höchstrichterlich bestätigt. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 19.1656 2019-12-12 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Mit der Beschwerde verfolgt der Kläger, ein nigerianischer Staatsangehöriger, seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, ihm für seine beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Klage (Au 6 K 19.1656) Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihm seinen Rechtsanwalt beizuordnen. Die Klage richtet sich gegen den Bescheid des Beklagten vom 5. September 2019, mit dem der Kläger unter der Bedingung, dass das Asylverfahren ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne Zuerkennung internationalen Schutzes abgeschlossen werde, aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von zwei Jahren angeordnet worden ist.
Die Beschwerde ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt, weil die Voraussetzungen dafür nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist. Im vorliegenden Fall ist der maßgebliche Zeitpunkt der Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 12. Dezember 2019, das unmittelbar nach Eingang der Klagebegründung sowie der Stellungnahme des Beklagten entschieden hat.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, da die Ausweisung des Klägers voraussichtlich rechtmäßig ist. Es hat dabei auch nicht die Anforderungen an die Erfolgsaussichten überspannt und im Rahmen der Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits eine abschließende und präjudizierende Beurteilung vorgenommen.
Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 4 Satz 1) AufenthG. Durch seine Verurteilung zu einer Geldstrafe von 170 Tagessätzen wegen Körperverletzung in zwei Fällen und Sachbeschädigung hat der Kläger ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG verwirklicht, das aus generalpräventiven Gründen auch noch fortbesteht. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Ausweisung des Klägers konkret geeignet ist, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten, namentlich von gewalttätigen Übergriffen auf Mitbewohner und Sicherheitsbedienstete in Anker-Zentren, abzuhalten.
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bejaht. Nach dieser Vorschrift wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Diese Vorschrift ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift (stRspr, siehe z.B. BayVGH, B.v. 19.9.2017 – 10 C 17.1434 – juris Rn. 6). Im Gegensatz zur Meinung des Klägers bestehen auch keine Zweifel an der Anwendbarkeit des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, wenn das in § 54 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG geforderte Strafmaß nicht erreicht ist; Wertungswidersprüche bestehen insofern nicht. Die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG konkretisierten und als besonders schwerwiegend bzw. schwerwiegend kategorisierten Ausweisungsinteressen betreffen jeweils Tatbestände, die ersichtlich nicht gleichartig und auch in unterschiedlicher Weise mit Sanktionen bedroht sind, so dass es kaum möglich ist, bereits bei der Bestimmung des tatbestandlichen Anwendungsbereiches der jeweils in den Katalogen des § 54 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AufenthG aufgeführten Ausweisungsinteressen in sich ein Gleichgewicht herzustellen. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist durch den Gesetzgeber ausdrücklich eine Auffangfunktion zuerkannt worden (BT-Drs. 18/4097, S. 52). Erst in der nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG vorzunehmenden Abwägung aller Umstände des Einzelfalles ergibt sich, ob das Interesse an der Ausreise letztendlich überwiegt; dabei ist das sich aus § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ergebende Ausweisungsinteresse mit dem ihm in dem jeweiligen Einzelfall angemessenen Gewicht einzustellen. Aufgrund dessen besteht für eine „Typenkorrektur“ in der Weise, dass ein in § 54 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG „vertypter“ Tatbestand aufgrund besonderer Umstände herabgestuft wird, kein Raum und keine Notwendigkeit. Im Rahmen der Abwägung ist nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft, vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39; NdsOVG, B.v. 20.6.2017 – 13 LA 134/17 – juris Rn. 9 ff.; OVG NW, B.v. 11.1.2019 – 18 A 4750/18 – juris Rn. 6 ff., 22 ff.; SächsOVG, B.v. 20.5.2019 – 3 B 420/18 – juris Rn. 23; Tanneberger/Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.8.2019, § 54 Rn. 109 ff.; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 54 Rn. 91 ff.).
Der Kläger wurde mit Strafbefehl vom 15. März 2019 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen und Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 170 Tagessätzen verurteilt. Er hatte in der Asylunterkunft mit Sicherheitsbediensteten aggressiv Streit gesucht und diese in der anschließenden Auseinandersetzung geschlagen bzw. zu schlagen versucht sowie gebissen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht ausgeführt, dass es sich dabei keineswegs um einen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften handelt und dass hierin ein noch aktuelles Ausweisungsinteresse aus generalpräventiven Gründen liegt. Dass generalpräventiv begründete Ausweisungen zulässig sind, ist auch keineswegs umstritten, wie der Kläger meint, sondern höchstrichterlich bestätigt (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 16 ff.; BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 16 ff.; ebenso z. B. BayVGH, B.v. 6.3.2020 – juris Rn. 5). Im Übrigen dürften – was das Verwaltungsgericht (noch) nicht geprüft hat – auch spezialpräventive Ausweisungsgründe vorliegen, da angesichts der bei der Tat zutage getretenen hohen Aggressivität und Gewaltbereitschaft des Klägers (siehe Auszug aus der Strafakte, Bl. 335-388 der Behördenakte) durchaus auch von einer beträchtlichen Wiederholungsgefahr auszugehen sein dürfte. Der Vortrag des Klägers, es habe sich um eine einmalige Tat mit einem „gruppendynamischen Hintergrund“ gehandelt, erscheint demgegenüber als erhebliche Verharmlosung.
Die vom Kläger aufgeworfene Frage, „ob bei Nichtvorliegen einzelner Tatbestandsmerkmale der in § 54 AufenthG aufgeführten Fallgruppen auf die Auffangnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG zurückgegriffen werden kann“, stellt sich hier somit nicht.
Auch im Hinblick auf die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet hat das Verwaltungsgericht zu Recht hinreichende Erfolgsaussichten der Klage verneint. Es hat dabei insbesondere die vom Kläger begangene Straftat konkret mit dem ihr zukommenden Gewicht eingestellt und dabei darauf hingewiesen, dass die Tat sich gegen die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen und damit gegen höchstrangige Rechtsgüter gerichtet hatte. Damit wiegt der Rechtsverstoß auch im konkreten Einzelfall schwer, ohne dass es auf die abstrakte Bewertung in § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ankommt. Unzutreffend ist das Vorbringen, die familiären Beziehungen des Klägers zur Mutter des gemeinsamen Kindes seien „gänzlich unbeachtet geblieben“. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr darauf hingewiesen, dass das Kind des Klägers und dessen Mutter ebenso wie der Kläger sich unerlaubt im Bundesgebiet aufhalten, aber die gleiche Staatsangehörigkeit besitzen, so dass es ihnen zumutbar sei, ihr Privat- und Familienleben im gemeinsamen Herkunftsland fortzusetzen (BA Rn. 32-34).
Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf zwei Jahre (§ 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1 AufenthG) begegnet voraussichtlich keinen Bedenken. Das Verwaltungsgericht hat auch hier darauf abgestellt, dass der Kläger über keine besonders schützenswerten familiären oder persönlichen Bindungen zu in der Bundesrepublik aufenthaltsberechtigten Personen verfüge.
Seit der Entscheidungsreife eingetretene tatsächliche oder rechtliche Entwicklungen, die das Verwaltungsgericht bei der Entscheidung über die Klage zu berücksichtigen haben würde und die nunmehr hinreichende Erfolgsaussichten begründen könnten, sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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