Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  Au 2 K 19.30113

Datum:
12.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 31211
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e
AsylG § 4, § 34, § 38
AufenthG § 59, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen steht generell in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz zur Verfügung (Anschluss an VGH München BeckRS 2015, 41003 Rn. 34). (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über die Klage konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten mit der Ladung hierauf hingewiesen wurden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Das Gericht kann durch den Einzelrichter entscheiden, nachdem ihm das Verfahren durch Beschluss der Kammer vom 23. Oktober 2019 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylG).
I.
Die zulässige Klage führt in der Sache nicht zum Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. Januar 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Sie haben nach der zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die Gewährung subsidiären Schutzes noch auf die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).
1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S. des § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK -), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft nach Abs. 4 der genannten Vorschrift zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG.
Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 3 Abs. 1 AsylG vorliegt, ist auf die §§ 3a ff. AsylG zurückzugreifen, die die Vorgaben der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt der zu gewährenden Schutzes (sog. Anerkennungsrichtlinie) umsetzen.
Unter dem Begriff der politischen Verfolgung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es nicht maßgeblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder der religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von dem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Eine Verfolgung kann nicht nur ausgehen vom Staat oder von Parteien oder von Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
Die Furcht vor einer Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten als Verfolgung solche Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Abs. 1 Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich die Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form vorzutragen. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung gewinnen. Auf Grund der Beweisschwierigkeiten, in denen sich der Schutzsuchende hinsichtlich der asylbegründenden Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, muss sich das Gericht jedoch mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig ausgeschlossen werden können (BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – NVwZ 1990, 171). Das Asylverfahren ist eine Einheit, so dass ein gegenüber den Angaben vor der Verwaltungsbehörde im gerichtlichen Verfahren vorgetragener neuer Sachverhalt regelmäßig Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens wecken wird. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Asylsuchenden nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 8 C 27.85 – InfAuslR 1986, 79). Der Schutzsuchende muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen und plausible, wirklichkeitsnahe Angaben machen. Auch unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstandes und Alters ist von dem Asylbewerber eine im Wesentlichen gleichbleibende, möglichst detaillierte und konkrete Schilderung der Fluchtgründe zu verlangen.
Nach diesen Maßstäben können die Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht beanspruchen.
Das Gericht geht nicht davon aus, dass den Klägern bei einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG droht.
Insoweit ist festzustellen, dass es hier bereits an einem Verfolgungsgrund i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG und Art. 10 QRL fehlt. Denn eine Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hat die Klägerin zu 1 weder in der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen. Die von ihr geschilderten Handlungen ihres Ex-Mannes erreichen (noch) nicht die Qualität einer Verfolgung. So hat die Klägerin zu 1 berichtet, dass ihr Ex-Mann ihrer Familie und ihr „zwar“ nachgestellt und sie zur Rückkehr aufgefordert habe. Tätliche Angriffe oder vergleichbare Handlungen hat die Klägerin jedoch nicht geschildert. Es ist nunmehr auch nicht davon auszugehen, dass der Ex-Mann die Intensität seiner Handlungen steigern würde, nachdem die Klägerin zu 1 mit ihren beiden Kindern von 2015 bis 2018 an bei ihren Eltern wohnte, ihr Ex-Mann hiervon Bescheid wusste und bis zu ihrer Ausreise keine gewalttätigen Übergriffe ausgeführt hat. Das Gericht erkennt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich dies bei einer Rückkehr der Kläger ändern würde.
Es handelt sich vorliegend auch nicht um eine flüchtlingsrechtlich relevante mittelbare staatliche Verfolgung. Zwar wird eine von nichtstaatlicher Seite – also insbesondere von Privatpersonen oder nicht-staatlichen Organisationen – ausgehende Verfolgung dem Staat zugerechnet, wenn er die Verfolgung billigt oder fördert, ferner, wenn er grundsätzlich nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Betroffenen gegen Übergriffe effektiv zu schützen (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG). Die erforderliche flüchtlingsrechtliche Gerichtetheit ist jedoch nur vorhanden, wenn entweder die Privaten bei Begehung der Übergriffe „wegen“ eines flüchtlingsrechtlich relevanten Persönlichkeitsmerkmals handeln oder bei unpolitischem Charakter der von den Privaten begangenen Übergriffe der Staat „wegen“ flüchtlingsrechtlich relevanter Persönlichkeitsmerkmale der Opfer den gebotenen Schutz versagt (vgl. § 3a Abs. 3 AsylG; vgl. auch BVerwG, B.v. 24.3.1995 – 9 B 747/94 – juris Rn. 5 – zu Art. 16a GG). Hiervon ausgehend kann im vorliegenden Kontext offenbleiben, ob die russische Polizei grundsätzlich hinreichend schutzbereit hinsichtlich einer durch den Ex-Mann drohende Nachstellung wäre. Denn jedenfalls fehlt es im hiesigen Fall – wie ausgeführt – auch an der erforderlichen Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Persönlichkeitsmerkmale i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG seitens des Ex-Mannes bzw. des Staates (§ 3a Abs. 3 AsylG).
2. Auch die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes aus § 4 AsylG sind im Fall der Kläger nicht gegeben.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 QRL die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG kann die Verfolgung i.R.v. § 4 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die (staatlichen bzw. quasistaatlichen) Akteure einschließlich internationaler Organisationen (§ 3c Nr. 1 und 2 AsylG) erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung i.S.v. § 3d AsylG zu bieten. Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG wird dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt, wenn inländische Fluchtalternativen i.S.v. § 3e AsylG bestehen.
Auch im Rahmen von § 4 AsylG ist bei der Prognose, ob für einen Kläger im Abschiebezielstaat die konkrete Gefahr besteht, der Todesstrafe, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2010 – 10 C 11/09 – juris Rn. 14).
a. Nach den Erkenntnismitteln stellt sich die Situation im Falle häuslicher Gewalt für Betroffene in der Russischen Föderation wie folgt dar:
Häusliche Gewalt kommt vor. Es gibt kein System zur Prävention von häuslicher Gewalt und nur sehr wenige Einrichtungen, in denen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können. Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügendem Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach. Die orthodoxe Kirche erklärte, dass körperliche Züchtigung ein gottgegebenes Recht sei, sofern sie im vernünftigen Maße und mit Liebe durchgeführt werde. 2017 trat ein Gesetz zur Entkriminalisierung und Herabstufung von häuslicher Gewalt zur Ordnungswidrigkeit in Kraft. Infolge der Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt werden voraussichtlich immer weniger Frauen Gewalttaten der Polizei melden, die solche Anzeigen bereits heute schon sehr widerstrebend aufnimmt. Währenddessen gehen die potentiellen Täter straffrei aus. Vorher mussten sie zumindest befürchten, dass der entsprechende Artikel des Strafgesetzbuches angewendet werden würde, was somit eine wichtige Abschreckung darstellte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 16. Dezember 2019, Stand Oktober 2019, S. 10).
Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. In Tschetschenien genießen bestimmte Gruppen keinen effektiven Rechtsschutz. Hierzu gehören neben Oppositionellen, Regimekritikern und Menschenrechtlern auch Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 16. Dezember 2019, S. 12). Ähnliches dürfte für die Lage in Dagestan gelten, wonach sich der traditionelle Rechtspluralismus, also das Neben- und Miteinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht bis heute erhalten hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 16. Dezember 2019, S. 14). Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu gibt es kaum. Die Gewalt gegen Frauen bleibt in der Region ein Thema, dem vonseiten der Regional- und Zentralbehörden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach „Traditionen“ als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramzan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer „Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit“. Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Die Behandlung von Frauen, wie sie heute existiert, soll aber nie eine Tradition in Tschetschenien gewesen sein. Frauen sind sowohl unter islamischem Recht als auch im Adat hochgeschätzt Allerdings ist die Realität in Tschetschenien, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet und die Situation im Allgemeinen für Frauen schwierig ist. Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position. Diese Entwicklungen erfolgten in den letzten Jahren. Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird auch berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont – sich in letzter Zeit eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.03.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 78f.).
Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag. Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich der Unterstützung nordkaukasischer Frauen und bieten etwa psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: z.B. die Organisationen „Women for Development“ und „SINTEM“ in Tschetschenien und „Mat‘ i Ditja“ (Mutter und Kind) in Dagestan. Im Jahr 2019 eröffnete in Tschetschenien die Organisation Women for Development – eine der ältesten und angesehensten Organisationen in Tschetschenien – mit Unterstützung des Zuschussprogramms für NGOs ein Krisenzentrum für Frauen. Es gab auch Pläne, ein Frauenhaus zu eröffnen; aufgrund der engen familiären Bindungen, die in der Republik herrschen, wäre es aber schwierig gewesen, die Einrichtung vor Männern und ihren Familien geheim zu halten, darum scheiterte dieses Vorhaben. Beamte haben das hohe Maß an Scheidung und häuslicher Gewalt anerkannt und ein Komitee zur Verhütung von Familienkonflikten unter dem Spirituellen Ausschuss der Muslime der Republik Tschetschenien eingerichtet. Mehrere NGOs, die Teil der Koalition der Frauen-NGOs im Nordkaukasus sind, arbeiten an den Themen häusliche Gewalt und Unterstützung für Frauen. „Zulässige“ Themen müssen jedoch in die allgemeine Logik traditioneller, kultureller, spiritueller, religiöser und nationaler Bräuche und Werte passen. Es ist auch wichtig anzumerken, dass die Mehrheit der NGO-Direktoren und Mitarbeiter in Tschetschenien Frauen sind. Der Ausweg aus der humanitären Nachkriegskrise lag direkt auf den Schultern der Frauen, da sich die Mehrheit der männlichen Bevölkerung nicht frei bewegen konnte und ständigen Bedrohungen und Kontrollen ausgesetzt war. Da Frauen in Tschetschenien, als Folge der lokalen traditionellen Kultur, als verantwortlich für Empathie und Fürsorge angesehen werden, sind sie diejenigen, die die meisten gemeinnützigen und sozialen Projekte zusammenstellen, als Psychologinnen arbeiten, sich freiwillig für Kinder engagieren und sich mit den Themen von Familien mit niedrigem Einkommen und Menschen mit Behinderungen beschäftigen (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.03.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 79f.).
In Dagestan werden Geschlechterfragen und Frauenrechte in der Arbeit von Malikat Jabirowas Organisation „Mat i Ditja“ (Mutter und Kind) sowie von der unabhängigen Journalistin Swetlana Anochina mit ihrem „Daptar“-Projekt und ihrer Gruppe „Väter und Töchter“ behandelt, obwohl diese Initiativen nicht die einzigen sind, die in diesem Bereich aktiv sind (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.3.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 80).
b. Ob ausgehend von den obigen Erkenntnismitteln im vorliegenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass die Klägerin zu 1 bei einer Rückkehr nach Tschetschenien bzw. Dagestan effektiven Rechtsschutz gegen weitere Nachstellungen bzw. Belästigungen durch ihren Ex-Mann zu befürchten hat, kann jedoch letztlich offenbleiben.
Grund hierfür ist, dass den Klägern jedenfalls eine inländische Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation zur Verfügung steht (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e AsylG).
(1) Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3d AsylG hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. Art. 8 Abs. 1 QRL). Somit darf ein Ausländer nur dann auf ein verfolgungsfreies Gebiet seines Heimatstaates als inländische Fluchtalternative verwiesen werden, wenn er dieses tatsächlich in zumutbarer Weise erreichen kann (vgl. BVerwG, U.v. 29.5.2008 – 10 C 11/07 – juris Rn. 19). Ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG vorliegen, ist im Falle einer Vorverfolgung unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 QRL zu ermitteln; die Vermutung einer auch künftigen Verfolgung kann als widerlegt erachtet werden, soweit in einem Landesteil bei tatrichterlicher Würdigung des Vorbringens des Ausländers und der maßgeblichen Erkenntnismittel keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.2009 – 10 C 20/08 – juris Rn. 15 f.). Am Ort des internen Schutzes muss unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Betroffenen die Existenzgrundlage derart gesichert sein, dass vom Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält; dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer i.R.v. § 60 Abs. 5 AufenthG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog beachtlichen existenziellen Notlage hinaus und erfordert eine Einzelfallprüfung (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20; BayVGH, B.v. 5.8.2014 – 13a ZB 14.30188 – juris Rn. 6).
(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG erfüllt, sind nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 QRL zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen; zu diesem Zweck sind gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen – wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) – einzuholen (vgl. Art. 8 Abs. 2 QRL).
(3) Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze können die Kläger vorliegend auf inländischen Fluchtalternativen in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens verwiesen werden (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e AsylG).
(a) In diesem Zusammenhang ist zunächst klarzustellen, dass vorliegend zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) davon auszugehen ist, dass im Falle einer Abschiebung die Klägerin zu 1 mit ihren minderjährigen Kindern in die Russische Föderation zurückkehren würde.
(b) Politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen steht generell in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz zur Verfügung (vgl. BayVGH, U.v. 7.1.2015 – 11 B 12.30471 – juris Rn. 34 m.w.N.; OVG Berlin-Bbg, U.v. 3.3.2009 – OVG 3 B 16/08 – juris; VG Leipzig, U.v. 11.12.2017 – 6 K 2256/16.A – juris Rn. 26 ff.; s. auch Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 16.12.2019, S. 14). Für die Klägerin zu 1 und ihre Familie besteht die Möglichkeit einer legalen Einreise in die Russische Föderation. Zwar mag der Kontrolldruck gegenüber „kaukasisch aussehenden“ Personen aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus erheblich sein. In diesem Zusammenhang erfolgende Personenkontrollen und häufig ohne Durchsuchungsbefehle stattfindende Hausdurchsuchungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 16. Dezember 2019, S. 22) weisen jedoch trotz ihres teilweise durchaus diskriminierenden Charakters nicht eine derartige Intensität auf, dass ein Aufenthalt außerhalb des Kaukasus generell als unzumutbar eingestuft werden müsste (vgl. ebenso VG Berlin, U.v. 24.3.2015 – VG 33 K 229/13 A – juris Rn. 21). Was die Gefahr fremdenfeindlicher und rassistischer Übergriffe aus Teilen der Bevölkerung anbelangt, so sind solche zwar ebenfalls nicht zu leugnen (vgl. dazu z.B. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 24.1.2017, S. 12). Angesichts der im Verhältnis zur kaukasischen Bevölkerung in der Russischen Föderation (allein in Moskau sollen über 200.000 Tschetschenen leben, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.5.2018, S. 14) geringen Opferzahlen kann aber nicht angenommen werden, dass Kaukasier außerhalb ihrer Heimatregionen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Opfer gewalttätiger Übergriffe werden (vgl. auch VGH BW, U.v. 15.2.2012 – A 3 S 1876/09 – juris Rn. 55). Ebenso wenig liegen gesicherte Erkenntnisse dafür vor, dass Personen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach einer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt wären oder allein deshalb staatlich verfolgt werden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 16.12.2019, S. 22; vom 24.1.2017, S. 20 und vom 5.1.2016, S. 28).
Das Gericht geht insoweit davon aus, dass die Klägerin zu 1 außerhalb von Tschetschenien bzw. Dagestan hinreichend sicher davor wäre, dass ihr Ex-Mann ihr weiter nachstellen kann. Insbesondere könnte die Klägerin zu 1 insoweit den Schutz der russischen Polizei in Anspruch nehmen. Die Klägerin zu 1 hat bislang nicht vorgetragen, dass sie sich bereits erfolglos an die Polizei wendete. Es ist überdies weder vorgetragen noch ersichtlich, dass ihr Ex-Mann besondere Kontakte zur Polizei oder den Sicherheitsbehörden hätte, die es ihm ermöglichen könnten, ihren Aufenthaltsort in der Russischen Föderation über die obligatorische Registrierung ausfindig zu machen (vgl. hierzu VG Hamburg, U.v. 4.5.2017 – 17 A 7520/16 – UA S. 12).
(c) Nach Überzeugung des Gerichts ist für die Klägerin zu 1 und ihre beiden Kinder auch der erforderliche Lebensunterhalt in anderen Teilen der Russischen Föderation in zumutbarer Weise gewährleistet.
(d) Nach den Erkenntnismitteln stellt sich die Versorgungslage in der Russischen Föderation für alleinstehende Frauen mit Kindern wie folgt dar:
Laut dem Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Russischen Föderation aus dem Jahr 2017 verschlechtere sich nach Jahren stetiger Verbesserung der allgemeine Lebensstandard seit 2012 wieder. Zwar seien das Durchschnittseinkommen und die Durchschnittsrente gestiegen, bedingt durch die hohe Inflationsrate seien jedoch die real verfügbaren Einkommen gesunken, die Armut sei angewachsen. Während 2012 noch 10,7 v.H. der Bevölkerung unter die offizielle Armutsgrenze gefallen seien, sei die Anzahl der Menschen mit einem Einkommen unterhalb des Existenzminimums weiter gestiegen und habe im 1. Quartal 2016 22,7 Mio. oder 15,7 v.H. der gesamten Bevölkerung betragen. Die staatliche Unterstützung reiche häufig nicht zur Deckung des Grundbedarfs (siehe zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 22.6.2017, S. 19). Mittlerweile würden ca. 14 v.H. der gesamten Bevölkerung unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminium (12.130 RUB – 2. Quartal) entspreche, wobei nach Berechnungen der russischen Akademie der Wissenschaft das tatsächlich erforderliche Existenzminimum sogar eher bei 33.000 RUB läge (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 16.12.2019, S. 20). Für Einkommen unter dem Existenzminimum bestehe die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 16.12.2019, S. 20).
Die erfolgte Registrierung legalisiere den Aufenthalt und ermögliche den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 7.3.2011, S. 36; vgl. BayVGH, U.v. 23.7.2014 – 19 B 12.1073 – juris Rn. 87).
Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen Frauen mit kleinen Kindern gehören einer sozialen Gruppe an, die besonders von sozialer Unterstützung wie Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes und dem sogenannten „Mutterschaftskapital“, einer Beihilfe, Nutzen ziehen (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.3.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 75).
Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen. Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.03.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 100).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2017). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, denen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:
– Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);
– Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);
– Familien mit geringem Einkommen;
– Studenten, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien. 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.3.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 100f.).
Familien können auch in den Erhalt sog. „Familienbeihilfen“ kommen. Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei RUB 3.120 (ca. EUR 44). Bei einem zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei RUB 6.131 (ca. EUR 87). Der maximale Betrag liegt bei RUB 22.120 (ca. EUR 313), Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums. Ab 2020 soll der Kreis der berechtigten Familien erweitert werden (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.3.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 101).
Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich – innerhalb von zehn Jahren stiegen sie inflationsbereinigt von RUB 250.000 auf 453.026, also von EUR 4.152 auf mehr als EUR 7.500. Ab dem 1.1.2020 wird das Mutterschaftskapital in Russland erhöht. Familien, in denen das zweite Kind geboren wird, erhalten RUB 470.000 (ca. EUR 6.100) statt der derzeitigen 453.000. Dies teilte der Minister für Arbeit und soziale Sicherheit mit. Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil das zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen. Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden und auf die Geburt des ersten Kindes ausgeweitet werden. Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.3.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 101f.).
Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindesthöhe pro Monat beträgt RUB 850 (EUR 12) und die Maximalhöhe RUB 4.900 (EUR 70). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zweimal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.3.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 102).
Bürgerinnen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (min. 12%). Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Im Jahr 2018 lag dieser Zuschuss bei RUB 453.026 (ca. EUR 6.618). Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei RUB 3.200 (EUR 45) (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 27.3.2020, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 102f.).
(e) Die Rechtsprechung zur Versorgungslage in der Russischen Föderation für alleinstehende Frauen mit Kindern stellt sich – soweit ersichtlich – wie folgt dar:
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat im Jahr 2006 entschieden, dass einer alleinstehenden Tschetschenin mit Kleinkind eine zumutbare inländische Fluchtalternative in den meisten Teilen der Russischen Föderation zur Verfügung stehe. Der Verwaltungsgerichtshof ließ jedoch ausdrücklich offen, ob die damalige Klägerin in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind bestreiten könne. Grund hierfür war, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten für die damalige Klägerin und ihr Kind in noch in weitaus größerem Umfang auch in Tschetschenien bestanden hätten (siehe hierzu BayVGH, U.v. 19.6.2006 – 11 B 02.31598 – juris Rn. 89-91). Die genannte Entscheidung ist noch zur Rechtslage vor § 3e AsylG ergangen; das für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof damals maßgebliche Erfordernis des landesinternen Vergleichs zum Ausschluss nicht-verfolgungsbedingter Gefahren und Nachteile ist i.R.v. § 3e AsylG nicht mehr von Relevanz (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 29.5.2008 – 10 C 11.07 – juris Rn. 31 f.).
Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat zu inländischen Fluchtalternativen für tschetschenische Volkszugehörige in der Russischen Föderation im Jahr 2007 entschieden, dass einiges dafür spreche, dass ältere und schwer kranke Personen sowie alleinstehende Frauen mit Kleinkindern ohne verwandtschaftlichen Rückhalt den Anforderungen und Belastungen einer Rückkehr in sonstige Landesteile der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht immer gewachsen seien; in diesen Fällen sei daher stets der konkrete Einzelfall zu prüfen (vgl. hierzu NdsOVG, B.v. 16.1.2007 – 13 LA 67/06 – juris Rn. 7; in diese Richtung auch VG Lüneburg, U.v. 6.2.2003 – 2 A 310/01 – juris; offen gelassen in BayVGH, U.v. 31.1.2005 – 11 B 02.31597 – juris Rn. 49; VG Berlin, U.v. 18.3.2008 – 38 X 87.08 – juris Rn. 90).
Das VG Karlsruhe im Jahr 2007 hat eine inländische Fluchtalternative in den sonstigen Landesteilen der Russischen Föderation für eine alleinstehende Tschetschenin mit Kind verneint, da sie dort aufgrund ihrer persönlichen Umstände nicht in der Lage sei, innerhalb eines absehbaren Zeitraums eine Registrierung zu erlangen, und sie ohne eine solche Registrierung ihr Existenzminimum nicht bestreiten könne (siehe zum Ganzen: VG Karlsruhe, U.v. 13.2.2007 – A 11 KL 11805/05 – juris Rn. 37).
Das Verwaltungsgericht Göttingen war im Jahr 2013 der Auffassung, dass auch einer alleinerziehenden Mutter tschetschenischer Herkunft mit zwei betreuungsbedürftigen Kindern zugemutet werden könne, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation niederzulassen und dort durch Erwerbstätigkeit ein bescheidenes Auskommen zu finden. Zur Begründung wurde maßgeblich auf die im IOM-Informationsblatt Russische Föderation genannten Hilfen gerade für alleinstehende Mütter mit Kindern verwiesen (siehe zum Ganzen: VG Göttingen, U.v. 10.9.2013 – 2 A 192/11 – juris Rn. 50 f. unter Bezugnahme auf VG Braunschweig, U.v. 24.2.2003 – 8 A 308/02; so im Ergebnis auch VG Berlin, B.v. 2.11.2015 – 33 L 312.15 A – juris Rn. 13; U.v. 21.11.2013 – 33 K 207.13 A – UA S. 9-11).
(f) Unter Berücksichtigung der genannten Erkenntnismittel und Rechtsprechung geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin zu 1 in der Lage sein wird, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetschenien bzw. Dagestans für sich und ihre beiden Kinder den Lebensunterhalt auf einem noch zumutbaren Niveau zu bestreiten (vgl. in diesem Sinne: VG Göttingen, U.v. 10.9.2013 – 2 A 192/11 – juris Rn. 50 f. unter Bezugnahme auf VG Braunschweig, U.v. 24.2.2003 – 8 A 308/02; VG Berlin, B.v. 2.11.2015 – 33 L 312.15 A – juris Rn. 13; U.v. 21.11.2013 – 33 K 207.13 A – UA S. 9-11). Der Aufenthalt in anderen Teilen der Russischen Föderation (wie z.B. Moskau) ist den Klägern auch zumutbar (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). So hat die Klägerin zu 1 vorgetragen, dass sie ein Studium als Grundschullehrerin erfolgreich abgeschlossen und Arbeitserfahrung als Näherin erlangt hat. Zudem wohnt auch noch die Großfamilie in Dagestan bzw. der Russischen Föderation, sodass eine auch von einer Unterstützung im Rahmen des Familienverbandes auszugehen ist. Im Übrigen ist auch zu berücksichtigen, dass den im Fall der freiwilligen Ausreise Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm gewährt wird, die ihr die Reintegration in ihr Heimatland in der Anfangsphase erleichtert. Im vorliegenden Fall wird neben der Übernahme der Reisekosten eine Reisebeihilfe i.H.v. EUR 200,–, gewährt. Zudem wird eine Startbeihilfe geleistet, die im Fall der Russischen Föderation für die Klägerin EUR 1000,– beträgt. (siehe zum Ganzen: https://www.returningfromger-many.de/de/programmes/reag-garp; vgl. hierzu allg. BayVGH, U.v. 17.4.2012 – 11 B 11.30469 – juris Rn. 29). Hinzukommen Hilfen im Rahmen des ERIIN- und des Starthilfe-Plus Programmes (vgl. https://www.re-turningfromgermany.de/de/coun-tries/rus-sian-federation).
Für die Kläger besteht daher – als politisch unverdächtige Personen – eine zumutbare interne Schutzalternative i.S.d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG in anderen Teilen der Russischen Föderation.
3. Es liegen auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 bzw. 60 Abs. 7 AufenthG vor.
a. Im Fall der Klägerin zu 1 und ihrer Kinder sind auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots i.S.v. § 60 Abs. 5 AufenthG nicht gegeben.
(1) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Verbürgt sind insoweit u.a. das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 3 EMRK) sowie das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK).
Für den Begriff der Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 5 AufenthG gilt ebenfalls der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, B.v. 22.7.2010 – 10 B 20/10 – juris Rn. 6). § 60 Abs. 5 AufenthG erfasst nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 35). Gefahren i.S.v. § 60 Abs. 5 AufenthG müssen grundsätzlich landesweit drohen, um ein Abschiebungsverbot zu begründen; etwas anderes gilt nur, soweit der Betroffene bei lediglich in Gebietsteilen drohenden Gefahren das sichere Gebiet in seinem Heimatstaat nicht erreichen kann (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 26; B.v. 15.9.2006 – 1 B 116.06 – Rn. 4).
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG können in besonderen Ausnahmefällen auch vorliegen, soweit aufgrund der allgemeinen Lebensbedingungen im Herkunftsland humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Maßgeblich ist dabei die Perspektive des abschiebenden Staates, aus dessen Sicht zu prüfen ist, ob der Betroffene durch die Abschiebung tatsächlich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 19) Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Dies wäre insbesondere der Fall, soweit das erforderliche Existenzminimum im Abschiebungszielstaat nicht gewährleistet wäre (vgl. vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 28). Bei dieser Prüfung ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23/26).
Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 VwGO im Fall der Klägerin zu 1 und ihrer Kinder nicht gegeben. Eine relevante Gefährdungslage für die Klägerin zu 1 und ihre Kinder ist bei einer Rückkehr in Landesteile der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens bzw. Dagestans – wie ausgeführt – nicht ersichtlich. Insbesondere ist auch das erforderliche Existenzminimum für die Kläger gewahrt; insoweit wird auf die Ausführungen zu § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e AsylG verwiesen.
(2) Der Klägerin zu 1 und ihren Kindern steht auch kein nationaler Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu.
b. Der Klägerin zu 1 und ihren Kindern steht auch kein nationaler Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu.
(1) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren i.S.v. § 60 AufenthG, denen die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.
Für den Begriff der Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gilt ebenfalls der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, B.v. 22.7.2010 – 10 B 20/10 – juris Rn. 6). Gefahren i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG müssen grundsätzlich landesweit drohen, um ein Abschiebungsverbot zu begründen; etwas anderes gilt nur, soweit der Betroffene bei lediglich in Gebietsteilen drohenden Gefahren das sichere Gebiet in seinem Heimatstaat nicht erreichen kann (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 38; B.v. 15.9.2006 – 1 B 116.06 – Rn. 4).
Ein Ausländer kann im Hinblick auf die allgemeinen Lebensbedingungen im Abschiebezielstaat Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen nicht nur mit beachtlicher, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Die drohenden Gefahren müssen im Einzelfall nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise alsbald nach der Rückkehr in den Herkunftsstaat ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Nach alledem muss die Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“. Die drohende Realisierung „alsbald nach der Rückkehr“ bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen; vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage etwa auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 38; U.v. 29.9.2011 – 10 C 23/10 – juris Rn. 22).
Hiervon ausgehend ist Abschiebungsschutz auch bei verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu verneinen, soweit in tatsächlicher Hinsicht zu erwarten ist, dass ein zurückkehrender Ausländer im Heimatland durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit jedenfalls ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren kann (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 39). Bei der gerichtliche Prognose, ob das wirtschaftliche Existenzminimum bei der Rückkehr eines Ausländers i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gefährdet ist, sind u.a. die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland sowie Hilfen staatlicher Stellen und (internationaler) Hilfsorganisationen mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, B.v. 1.10.2001 – 1 B 185/01 – juris Rn. 2; U.v. 8.12.1998 – 9 C 5/98 – juris Rn. 14).
(2) Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 VwGO im Fall der Klägerin zu 1 und ihrer Kinder nicht gegeben. Eine relevante Gefährdungslage für die Klägerin zu 1 und ihre Kinder ist bei einer Rückkehr in Landesteile der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens – wie ausgeführt – nicht ersichtlich.
Das in der mündlichen Verhandlung eingereichte Attest des Dr. med. … vom 6. Dezember 2019 entspricht nicht den nach § 60a Abs. 2c AufenthG aufgestellten Anforderungen und weist im Übrigen für die Klägerin zu 1 keine Krankheit auf, wodurch die Klägerin zu 1 im Falle der Rückkehr nach Russland „sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde“. Gleiches gilt für die sprachliche Beeinträchtigung der Klägerin zu 2.
4. Die Abschiebungsandrohung unter Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 AsylG, § 38 AsylG und § 59 AufenthG.
Die Entscheidung des Bundesamts, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen, weist keine Rechtsfehler auf. Die Länge der Frist liegt im Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Dass insoweit besondere Umstände vorlägen, die eine Verkürzung der Frist als zwingend erscheinen ließen, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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