Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus

Aktenzeichen  RN 14 K 17.35562

Datum:
19.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 39137
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 2, Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1 Es ist nicht Sinn des Asylverfahrens, einen Asylsuchenden durch die Zuerkennung subsidiären Schutzes vor einer für eine im Heimatland begangene Tat angemessenen Strafe zu schützen.  (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 In Sierra Leone besteht grundsätzlich die Möglichkeit staatlicher Verfolgung, Repressionen sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Landesteil auszuweichen.  (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.
Soweit der Kläger seinen ursprünglich gestellten Antrag auf die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Rahmen der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, liegt eine teilweise Klagerücknahme vor. Insoweit war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einzustellen.
Die Einstellung des Verfahrens ist unanfechtbar.
II.
Im Übrigen ist die Klage zwar zulässig, aber im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz – AsylG) nicht begründet. Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1, 2 oder 3 AsylG zu (vgl. unter 1.) und es bestehen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. unter 2.). Nicht zu beanstanden sind schließlich Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (vgl. unter 3.) sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. unter 4.). Der Bescheid des Bundesamtes vom 24.11.2017 ist daher soweit er mit der Klage überhaupt noch angegriffen war rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Die Gefahr eines ernsthaften Schadens kann nach den §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3c AsylG ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die soeben genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. dazu § 3d AsylG), und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist.
Für die Beurteilung der Frage, ob die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris, Rn. 22 = BVerwGE 140, 22). Eine Privilegierung desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat, erfolgt aber durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (QualRL – Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 ff.). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind danach ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. In der Vergangenheit liegenden Umständen ist damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beizumessen (vgl. auch OVG NRW, U.v. 21.2.2017 – 14 A 2316/16.A – juris, Rn. 24).
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Flüchtlings die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris, Rn. 16 = BVerwGE 71, 180 und U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris, Rn. 11). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris, Rn. 16, U.v. 1.10.1985 – 9 C 19.85 – juris, Rn. 16 und B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris, Rn. 3 = NVwZ 1990, 171).
a) Dass dem Kläger in Sierra Leone die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch staatliche Stellen droht, ist nicht ersichtlich. Bei der Befürchtung des Klägers, die Polizei in Sierra Leone würde ihn festnehmen und ins Gefängnis bringen, handelt es sich um eine reine Spekulation des Klägers. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass dem Kläger selbst im Falle einer Verurteilung eine unmenschliche Bestrafung drohen könnte. Es sei darauf hingewiesen, dass die Verfassung von Sierra Leone Folter und andere grausame, inhumane oder entwürdigende Praktiken oder Bestrafungen verbietet. Die Todesstrafe ist für die Kapitalverbrechen Landesverrat und schweren Raub vorgesehen. Bei Mord ist sie zwingend vorgeschrieben. Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung hat in ihrem Abschlussbericht aber deren Abschaffung empfohlen (vgl. Informationszentrum Asyl und Migration des BAMF, Glossar Islamische Länder – Band 17, Sierra Leone, Mai 2010). Auch wenn die Todesstrafe noch nicht abgeschafft ist, so wird ein Moratorium beachtet. Seit 1998 wurde sie nicht mehr praktiziert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 3.5.2017). Der Kläger wäre auch in Deutschland im Falle eines Todesfalls bei einem Anfangsverdacht für eine Täterbeteiligung ggf. einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt. Es ist nicht Sinn des Asylverfahrens, den Kläger durch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vor einer für eine begangene Tat angemessenen Strafe zu schützen.
b) Nach der Überzeugung des Gerichts ist es auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass für den Kläger die Gefahr besteht, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne der §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3c Nr. 3 AsylG zu erleiden.
Der Vortrag des Klägers im Asylverfahren, durch die Familie des angeblichen Unglücksopfers auf der Baustelle verfolgt zu werden, ist bereits nicht glaubhaft. Der Vortrag ist in wesentlichen Punkten oberflächlich, unsubstantiiert und lebensfremd und enthält eine Reihe von Widersprüchen zu den Ausführungen des Klägers beim Bundesamt.
Beim Bundesamt schilderte der Kläger, er habe gemeinsam mit einem anderen Mann namens I. einen Zementsack auf der Baustelle seines Chefs bis zur 3. Etage hinauf getragen, als der Zementsack aufriss und der andere Mann das Gleichgewicht verlor und in den Abgrund fiel. Der andere habe sich die Hand und die Beine gebrochen und sich die Zähne ausgeschlagen. Seine Kollegen seien gleich zu ihm hingelaufen und hätten ihn ins Krankenhaus gebracht. Seine Familie sei dann ins Krankenhaus gekommen und habe gesagt, wenn er sterbe, dann müsste auch der Kläger sterben. Die Familie des anderen sei auf die Baustelle gekommen und hätte Werkzeuge und Macheten dabei gehabt. Wie es dem Mann jetzt gehe, wisse er nicht. Bei seinem letzten Telefonat sei er noch im Krankenhaus gewesen. Der Kläger konnte auf Nachfrage nicht beantworten, wann der Unfall passiert sei. Er habe sich dann bis Mitternacht bei einer Frau versteckt, dann im Park geschlafen und sich ein Auto genommen und sei dann nach Guinea ausgereist.
Demgegenüber schilderte er im Rahmen der mündlichen Verhandlung, er habe bereits in Guinea erfahren, dass der andere Junge gestorben sei und er daher gesucht werde. Die Familie des Jungen sei mit Messern und Metall auf die Baustelle gekommen und habe auf ihn einschlagen wollen. Er sei davongerannt und habe sich bei einer Frau namens M. versteckt. Er habe sich sieben Wochen lang tagsüber im Wald versteckt und nachts im Park. Er habe von einem Freund erfahren, dass er überall gesucht werde. Überall würden Fotos von ihm hängen und es sei ein Preis für sein Auffinden ausgelobt worden. Daher habe er sich entschieden, Sierra Leone zu verlassen. Von alledem schilderte der Kläger beim Bundesamt nichts. Das Gericht wertet dieses Vorbringen als gesteigertes Vorbringen, das zur Unglaubwürdigkeit führt. Der Kläger konnte auf Nachfrage des Gerichts nicht beantworten, wie der andere Junge hieß. Die auf Vorhalt des Gerichts gemachte Ausführung des Klägers, dass er auch beim Bundesamt von dem Tod des Jungen berichtet habe, der Dolmetscher ihn aber nicht verstanden habe, weil er Englisch mit ihm sprach, überzeugt das Gericht nicht. Beim Bundesamt gab es zwei Anhörungen des Klägerseine am 1.12.2016 in Krio und eine am 4.10.2017 in englischer Sprache. Die Äußerung des Klägers betreffend die Unfallfolgen stammt aus der ersten Anhörung, die in Krio stattfand. Der Kläger hat ausdrücklich bestätigt, dass es keine Verständigungsschwierigkeiten mit dem Dolmetscher gab und nach der Rückübersetzung des Protokolls mit Unterschrift bestätigt, dass die Sitzungsniederschrift seinen Ausführungen entspricht.
Vor allem war bei beiden Anhörungen auffällig, dass der Kläger keinerlei Details schilderte, wie sie zu erwarten wären, wenn jemand etwas tatsächlich Erlebtes schildert. Weder wusste der Kläger auf Nachfrage, wann der Unfall geschehen ist, noch kannte er angeblich den Namen des anderen Jungen, obwohl sie gemeinsam auf einer Baustelle arbeiteten. Der genaue Unfallhergang bleibt völlig im Dunkeln. Der Kläger war auf Nachfrage des Gerichts auch nicht in der Lage zu beantworten, wer nach dem Unfall alles auf die Baustelle kam. Während er bei der Anhörung beim Bundesamt von der Familie des Jungen sprach, gab er im Rahmen der mündlichen Verhandlung an, die Verkäuferinnen aus der Umgebung seien gekommen. Er konnte nicht beantworten, wie viele Leute kamen und welche Familienangehörigen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass diese mit Messern auf die Baustelle kamen, wenn sie noch gar nicht wussten, was überhaupt passiert war. Der Kläger wurde in den angeblichen sieben Wochen bis zu seiner Ausreise nie bedroht und sei nie gesehen worden. Es ist nicht erklärlichwenn der Unfall tatsächlich so passiert wäre, wie vom Kläger behauptetwarum der Kläger sich dann nicht schutzsuchend an die Polizei gewandt hat. Außerdem ist es mehr als realitätsfern, dass ein anderer an einem gebrochen Arm, gebrochenen Beinen oder ausgeschlagenen Zähnen tatsächlich stirbt. Das Gericht stuft den Vortrag des Klägers daher bereits als unglaubhaft ein.
c) Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wollte, dass der Kläger von der Familie des anderen Mannes wegen des Unglücks auf der Baustelle bedroht würde, so ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger nach den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen vor allem in den großen Städten Sierra Leones unbehelligt leben könnte. Insoweit ist der Kläger auf internen Schutz gemäß §§ 4 Abs. 3 Satz1, 3e Abs. 1 AsylG zu verweisen. Danach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. In Sierra Leone besteht grundsätzlich in den meisten Fällen die Möglichkeit, staatlicher Verfolgung, Repressionen sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen. Insbesondere dann, wenn sich der Kläger in einer größeren Stadt – etwa in Freetown – niederlässt, ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass er dort von nichtstaatlichen Akteuren aufgespürt werden könnte.
d) Schließlich ist auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht gegeben. Der in Sierra Leone 11 Jahre andauernde Bürgerkrieg wurde im Jahr 2002 beendet. Die Sicherheitslage im ganzen Land ist stabil. Armee und Polizei sind landesweit stationiert und haben nach dem vollständigen Abzug der UN-Friedenstruppen im Jahr 2005 die Verantwortung für die innere und äußere Sicherheit übernommen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 3.5.2017, S. 6; Informationszentrum Asyl und Migration des BAMF, Glossar Islamische Länder – Band 17, Sierra Leone, Mai 2010).
2. Zuletzt liegen auch Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vor.
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C.15.12 – juris = BVerwGE 146, 12; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris = BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489; EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Rückführung in den Herkunftsstaat „zwingend“ seien. Solche humanitären Gründe können auch in einer völlig unzureichenden Versorgungslage begründet sein (so auch BayVGH, U.v. 19.7.2018 – 20 B 18.30800- juris, Rn. 54).
Trotz der schwierigen Lebensbedingungen in Sierra Leone kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Rückführung der Klägerpartei in ihr Heimatland nicht angenommen werden. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,5 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 700 US-Dollar im Jahr 2015 eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2016 Rang 179 der 188 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Die Wirtschaft wird mit etwa 51,4% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert. Der Dienstleistungssektor trägt mit 26,6% und der Industriesektor mit 22,1% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, wobei bisher keine verlässlichen statistischen Daten erhoben wurden. Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 3.5.2017, S. 19 ff.).
Die Lebensumstände in Sierra Leone sind damit zwar äußerst schwierig. Gleichwohl muss davon ausgegangen werden, dass sich ein gesunder und arbeitsfähiger Mann in Sierra Leone ein Existenzminimum – wenn auch nur durch Gelegenheitsjobs – erwirtschaften kann. Dies muss auch für den Kläger gelten, der sich eigenen Angaben zufolge vor seiner Einreise nach Deutschland bereits sowohl in Sierra Leone als auch in anderen Ländern auf eigene Faust durchgeschlagen hat (so im Ergebnis auch: VG München, B.v. 29.9.2017 – M 21 S 17.47358 – juris). Es ist nichts dafür ersichtlich, warum ihm dies nicht auch bei seiner Rückkehr wieder gelingen sollte.
b) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Eine derartige Gefahr besteht weder aufgrund des Gesundheitszustands des Klägers noch aufgrund der humanitären Verhältnisse, die er im Falle seiner Rückkehr vorfinden würde. Die Gewährung von Abschiebeschutz nach dieser Bestimmung setzt grundsätzlich das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
Der Kläger hat nicht vorgetragen, an einer Erkrankung zu leiden, die ihn in eine derartige Gefahr bringen könnte.
Bestehen für bestimmte Personengruppen allgemeine Gefahren, die nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Rahmen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG grundsätzlich keine Berücksichtigung finden können, so kann in Einzelfällen gleichwohl Abschiebeschutz gewährt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist nämlich im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG gebieten danach die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn einer extremen Lebensgefahr oder einer extremen Gefahr der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit entgegen gewirkt werden muss, was dann der Fall ist, wenn der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert oder erheblichen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sein würde (BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9.95 – juris, Rn. 14 = BVerwGE 99, 324, U.v. 19.11.1996 – 1 C 6.95 – juris, Rn. 34 = BVerwGE 102, 249 sowie U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris, Rn. 16 = BVerwGE 115, 1). Eine derartige Gefahrensituation kann sich grundsätzlich auch aus den harten Existenzbedingungen und der Versorgungslage im Herkunftsstaat ergeben.
Eine derartige Gefahr besteht jedoch nicht, was bereits oben unter Nr. 3 a) dargestellt wurde.
3. Die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Sie beruht auf den §§ 34 Abs. 1 AsylG, 59 AufenthG. Die dem Kläger gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen beruht auf § 38 Abs. 1 AsylG.
4. Die in Ziffer 6 des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 30 Monate ist gleichfalls rechtmäßig. Die Beklagte musste nach den §§ 11 Abs. 2 Sätze 1 und 4, 75 Nr. 12 AufenthG eine Entscheidung über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG treffen. Über die Länge der Frist wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Ermessensfehler sind hier nicht ersichtlich. Grundsätzlich darf die Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. Hier hat das Bundesamt diese maximale Frist zur Hälfte ausgeschöpft, was nicht zu beanstanden ist. Besonderer Umstände, die eine kürzere Frist gebieten würden, sind vom Kläger weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.
Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.


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