Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage eines afghanischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 6 K 17.35450

Datum:
20.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 41193
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 77 Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Die Entscheidung des BVerfG vom 25. April 2018 (BeckRS 2018, 8252), aus der sich nach Auffassung der Klagepartei die Notwendigkeit ergibt, Entscheidungen wie das vorliegende Urteil auf der Grundlage „tagesaktueller Erkenntnisse“ zu treffen, ist in der verwaltungsgerichtlichen Praxis und vor dem Hintergrund der Gewährung rechtlichen Gehörs an alle Beteiligten eines Verwaltungsprozesses nicht umsetzbar. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Aussage des BVerfG, die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts dürfe sich nicht auf eine obergerichtliche Rechtsprechung stützen, da sich eine solche angesichts der stetig wechselnden Situationen in einem Land wie Afghanistan gar nicht erst herausbilden könne, insbesondere weil gerichtliche Entscheidungen aufgrund „tagesaktueller“ Erkenntnisse zu treffen seien, nimmt den Oberverwaltungsgerichten ihre Funktion, nicht nur im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Grundsätze und Leitsätze aufzustellen, sondern auch die Verwaltungsgerichte dadurch zu entlasten, dass Fragen wie etwa diejenige, ob in Afghanistan für bestimmte Personengruppen eine „Gruppenverfolgung“ anzunehmen ist oder ob sichere Flugalternativen bestehen, für alle Verwaltungsgerichte geklärt werden und diese Aussage jedenfalls solange Gültigkeit besitzen kann, bis eine signifikante Änderung der Lage es erforderlich macht, diese Aussage zumindest zu überprüfen, wenn nicht zu revidieren. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3 Verwaltungsgerichte müssen grundsätzlich nur in deutscher Sprache verfasste Informationen auswerten und hier auch nur solche, die nach ihrer Auffassung von hoher Qualität und Aussagesicherheit sowie möglicherweise entscheidungserheblich sind, nicht dagegen jede Verlautbarung in der internationalen Presse, von Nichtregierungsorganisationen oder Personen, die sich selbst als Sachkundige oder Sachverständige bezeichnen oder als solche angesehen werden. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
4 Nach Auffassung des Gerichts ist es einem gesunden, alleinstehenden und arbeitsfähigen jungen Mann, der sich bis zuletzt und von Geburt an in seinem Heimatland in der Provinz bzw. in der Stadt Kunduz aufgehalten hat, zumutbar, in sein Heimatland zurückzukehren. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 14. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog).
Zur Begründung nimmt das Gericht zunächst vollumfänglich Bezug auf die rechtlichen Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid der Beklagten und macht diese zum Gegenstand der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist auszuführen:
1. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. November 2018 entschieden werden, obwohl auf Seiten der Beklagten niemand erschienen ist. Diese hat gegenüber dem Gericht mit allgemeiner Prozesserklärung auf förmliche Ladung verzichtet und ist zum Termin ordnungsgemäß geladen worden unter Hinweis darauf, dass im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten auch ohne hin verhandelt und entschieden werden könne.
2. Die vorliegende Entscheidung konnte und durfte auf der Grundlage jener Erkenntnismittel und damit des Erkenntnisstandes getroffen werden, den das Gericht den Beteiligten zusammen mit der Ladung in Form einer Erkenntnismittelliste bekanntgegeben hat. Darüber hinaus hat es die Anmerkungen des UNHCR vom 30. August 2018 zur Situation nach Afghanistan zurückkehrender Asylsuchender insbesondere in Kabul sowie sämtliche Erkenntnisquellen berücksichtigt, die auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg seinem Urteil vom 12. Oktober 2018 zugrunde gelegt hat (Az: A 11 S 316/17, zitiert nach Juris). Die von der Klagepartei benannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. April 2018 (Az: 2 BvR 2435/17), aus der sich nach Auffassung der Klagepartei die Notwendigkeit ergibt, Entscheidungen wie das vorliegende Urteil auf der Grundlage „tagesaktueller Erkenntnisse“ zu treffen, ist in der verwaltungsgerichtlichen Praxis und vor dem Hintergrund der Gewährung rechtlichen Gehörs an alle Beteiligten eines Verwaltungsprozesses nicht umsetzbar. Hätte das Gericht die anwesenden Beteiligten im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 7. November 2018 im vorliegenden Fall darüber informiert, welche „tagesaktuellen Erkenntnisse“ es am Tag der mündlichen Verhandlung oder spätestens tags zuvor gewonnen hat, so hätten die Beteiligten das Recht, zunächst diese Erkenntnisse in schriftlicher Form zu erhalten sowie Gelegenheit, deren Inhalt zur Kenntnis zu nehmen und anschließend hierzu innerhalb angemessener Frist eine Stellungnahme abzugeben. Je nach Umfang der aktuellen Erkenntnisse müsste diese Frist gegebenenfalls mehrere Tage oder sogar Wochen betragen, etwa dann, wenn eine Organisation wie UNHCR, EASO, UNAMA oder das Auswärtige Amt einen neuen Lagebericht oder sonstige asylrelevante Berichte über Afghanistan vorgelegt hat. Im Zeitpunkt des Eingangs der Stellungnahme eines Beteiligten müsste dem anderen wohl wiederum Gelegenheit gegeben werden, seinerseits zum Vorbringen der Gegenpartei Stellung zu nehmen. Jedenfalls aber wären die Erkenntnisse, die zur Gewährung rechtlichen Gehörs gezwungen haben, im Zeitpunkt des Eingangs der Stellungnahme der Parteien des Verwaltungsprozesses wiederum nicht mehr „tagesaktuell“. Neue den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entsprechende aktuelle Erkenntnisse müssten erhoben, mit ihnen müsste in gleicher Weise, wie beschrieben, verfahren werden. Eine Entscheidung des Gerichts wäre vor diesem Hintergrund niemals in Einklang mit dem vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen möglich.
Die weitere Aussage des Bundesverfassungsgerichts, die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts dürfe sich nicht auf eine obergerichtliche Rechtsprechung stützen, da sich eine solche angesichts der stetig wechselnden Situationen in einem Land wie Afghanistan gar nicht erst herausbilden könne, insbesondere weil, wie eben ausgeführt, gerichtliche Entscheidungen aufgrund „tagesaktueller“ Erkenntnisse zu treffen seien, nimmt den Oberverwaltungsgerichten Ihre Funktion, nicht nur im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Grundsätze und Leitsätze aufzustellen, sondern auch die Verwaltungsgerichte dadurch zu entlasten, dass Fragen wie etwa diejenige, ob in Afghanistan für bestimmte Personengruppen eine „Gruppenverfolgung“ anzunehmen ist oder ob sichere Flugalternativen bestehen, für alle Verwaltungsgerichte geklärt werden und diese Aussage jedenfalls solange Gültigkeit besitzen kann, bis eine signifikante Änderung der Lage es erforderlich macht, diese Aussage zumindest zu überprüfen, wenn nicht zu revidieren. Hierzu können jedoch nicht jedwede Veränderungen in einem Land wie Afghanistan Anlass geben, sei es ein militärischer Erfolg der einen oder anderen am innerstaatlichen bewaffneten Konflikt Beteiligten, seien es veränderte Opferzahlen im Land insgesamt oder in einzelnen Provinzen oder einzelner Ereignisse wie spektakuläre Anschläge in Kabul oder in einer anderen größeren Stadt, die ein entsprechendes (von den Terroristen beabsichtigtes) Medienecho gefunden haben. Denn selbst mehrere hundert Opfer solcher Anschläge oder der „regulären“ Kämpfe vermögen in aller Regel Aussagen etwa dazu, ob jedem, der nach Afghanistan zurückkehren würde, eine so erhebliche individuelle Gefahr droht, dass ihm eine Rückkehr schlichtweg nirgendwohin in Afghanistan zugemutet werden kann, weder in der einen noch der anderen Richtung zu verändern. Im vorliegenden Zusammenhang ändern solche Anschläge, wie sie im Land immer wieder stattfinden, folglich in der Regel nichts an der in der obergerichtlichen Rechtsprechung einheitlich vertretenen Auffassung, weder in Afghanistan insgesamt noch in einzelnen Provinzen erreiche dieses Gefahrenniveau jenen Maßstab von 1 : 800, den die obergerichtliche Rechtsprechung zur Beurteilung der Frage entwickelt hat, ab welcher Wahrscheinlichkeit, ziviles Opfer eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts zu werden, jemanden die Rückkehr in dieses Land nicht mehr zugemutet werden kann. Vielmehr liegen diese Wahrscheinlichkeiten in mehreren Provinzen und größeren Städten oberhalb, teilweise erheblich oberhalb dieses Maßstabes von 1:800. Nur wenn die Klagepartei entsprechend vorträgt oder namhafte Organisationen durch entsprechende Verlautbarungen hierzu konkret Anlass geben, kann es Aufgabe der Verwaltungsgerichte sein, die Aussagen der obergerichtlichen Rechtsprechung darauf zu überprüfen, ob sie weiterhin Bestand haben.
Zudem müssen die Verwaltungsgerichte grundsätzlich nur in deutscher Sprache verfasste Informationen auswerten und hier auch nur solche, die nach ihrer Auffassung von hoher Qualität und Aussagesicherheit sowie möglicherweise entscheidungserheblich sind, nicht dagegen jede Verlautbarung in der internationalen Presse, von Nichtregierungsorganisationen oder Personen, die sich selbst als Sachkundige oder Sachverständige bezeichnen oder als solche angesehen werden. Tagesaktuell verfügbare Übersetzungen fremdsprachiger Länderinformationen sind nicht vorhanden und können nicht tagesgleich beschafft werden. Wären also die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts dahin zu verstehen, die Verwaltungsgerichte müssten sämtliche ihnen zugängliche Informationen – einschließlich fremdsprachiger – tagesaktuell ihren Entscheidungen zugrunde legen, käme die verwaltungsgerichtliche Rechtspflege und Rechtsprechung im Bereich des Asylrechts zum Erliegen.
3. Das Gericht teilt die Auffassung der Klagepartei nicht, der Kläger müsse damit rechnen, im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland landesweit von den Taliban gesucht, gefunden und getötet zu werden. Aus den hierfür seitens der Klagepartei benannten Quellen ergibt sich eine solche Fähigkeit der Taliban nicht, insbesondere nicht aus dem Gutachten von Amnesty International vom 5. Februar 2018 an das VG Wiesbaden (dort S. 19) oder aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes vom 31. Mai 2018 (dort S. 18) Für dieses Vorbringen, das dem Gericht aus zahlreichen anderen Verfahren bekannt ist, haben sich bislang keine stichhaltigen Beweise finden lassen. Aus Vorkommnissen, wie sie in den zitierten Quellen und weiteren Quellen aufgeführt sind, lässt sich eine solche Fähigkeit der Taliban weder logistisch noch sonst belegen. Es entspricht darüber hinaus nicht der Lebenserfahrung, dass die Taliban jemanden wie den Kläger mehr als drei Jahre nach den angeblichen Bedrohungen Mitte des Jahres 2015 im Falle seiner Rückkehr etwa in Kabul suchen, finden und töten würden. Sie befinden sich vielmehr in einem intensiven bewaffneten Konflikt mit der Regierung und ihren Sicherheitskräften, der alle verfügbaren Ressourcen bindet und fordert. Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts für die Taliban keine derart große Bedeutung, dass sie trotz der Bindung ihrer Kräfte für die bewaffneten Auseinandersetzungen sich landesweit und zu jeder Zeit auf die Suche nach dem eventuell irgendwann in sein Heimatland zurückkehrenden Kläger machen würden.
4. Selbsttragend neben dem bisher Ausgeführten schließt sich das erkennende Gericht sämtlichen rechtlichen Ausführungen und Schlossfolgerungen an, die der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 12. Oktober 2018 (Az: A 11 S 316/17-juris) unter Darlegung der tatsächlichen Verhältnisse in Afghanistan bezüglich der Frage gemacht hat, unter welchen Voraussetzungen insbesondere subsidiärer Schutz nach § 4 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK beziehungsweise § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzuerkennen ist. Das gleiche gilt für die instruktiven Ausführungen zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen von einer im rechtlichen Sinne erheblichen Gefahr für jedermann, ziviles Opfer des in Afghanistan gegebenen bewaffneten innerstaatlichen Konflikts zu werden, ausgegangen werden muss und ob eine solche Gefahr unter Zugrundelegung insbesondere der aus verlässlichen Quellen bezogenen Opferzahlen unter Anlegung des in diesem Zusammenhang in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstabs von 1 : 800 hinsichtlich Afghanistan festzustellen ist. Dabei geht das erkennende Gericht wie der VGH Baden-Württemberg zugunsten des Klägers von den im Zweifel niedrigsten Einwohnerzahlen Afghanistans insgesamt oder etwa der Provinz Kabul aus (4,7 Millionen) und nimmt, anders als der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, mit Blick auf Unsicherheiten hinsichtlich der Ermittelbarkeit von Opferzahlen hier um 50 Prozent höhere Zahlen an. Daraus errechnet sich für die Provinz Kabul, die zur Überzeugung des Gerichts für den Kläger als möglicher Rückkehrort in Frage kommt, eine Wahrscheinlichkeit von 1 : 1578, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, was noch um fast das Doppelte höher liegt als der schon genannte Maßstab von 1 : 800. Wenn der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg für jemanden, der wie der Kläger im dortigen Verfahren sich ca. vierzehn Jahre außerhalb seines Heimatlandes im Iran befunden hat, davon ausgeht, diesem sei es als gesunden, alleinstehenden und arbeitsfähigen jungen Mann zumutbar, in sein Heimatland zurückzukehren, so gilt das aus Sicht des Gerichts erst recht für den Kläger im vorliegenden Verfahren, der sich bis zuletzt und von Geburt an in seinem Heimatland in der Provinz bzw. in der Stadt Kunduz aufgehalten hat.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.


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