Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage gegen Dublin-Bescheid (Italien)

Aktenzeichen  M 3 S 21.50230

Datum:
17.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 19885
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GrCh Art. 4
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a

 

Leitsatz

Das italienische Asylsystem weist auch unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie keine systemischen Mängel auf.  (Rn. 26 – 36) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller zu 1.) und die Antragstellerin zu 2.), nach eigenen Angaben afghanische Staatsangehörige, sind miteinander verheiratet und haben einen Sohn im Alter von 6 Jahren, den Antragsteller zu 3.). Sie reisten am 30. Oktober 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerten Asylgesuche, von denen das Bundesamt für … (Bundesamt) am 3. November 2020 Kenntnis erlangte. Am 10. Dezember 2020 stellten die Antragsteller förmliche Asylanträge.
Eine Eurodac-Abfrage ergab einen Eurodac-Treffer der „Kategorie 2“ für den Antragsteller zu 1.) (vgl. Bl. 2 der Akte) und die Antragstellerin zu 2.) (vgl. Bl. 140 der Akte), wonach in Italien am 5. Oktober 2020 Fingerabdrücke der Antragsteller genommen wurden.
Ausweislich der Zugangsbestätigung wurde am 28. Dezember 2020 vom Bundesamt ein Übernahmeersuchen an Italien gerichtet, auf das die italienischen Behörden nicht fristgerecht antworteten.
Mit Bescheid vom 17. März 2021 lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4).
Am 11. März 2021 erhoben die Antragsteller beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid (M 3 K 21.50229) und beantragten zugleich sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
In Italien gebe es systematische Mängel. In der Corona-Pandemie hätten sich die Zustände für Flüchtlinge in Italien drastisch verschlechtert. Die Antragsteller hätten sich – trotz negativen Tests – zweimal in Quarantäne begeben müssen. In der zweiten Quarantäne hätten sie menschenrechtsverletzende Umstände erlebt, es habe zu wenig Essen und Trinken gegeben, zudem sei ihr Zimmer nicht geheizt gewesen. Zudem habe die Security den Antragsteller zu 1.) geschlagen, als er für seine Rechte habe einstehen wollen.
Die Antragsgegnerin legte die Behördenakte vor und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass von einer adäquaten Unterbringung vulnerabler Dublin-Rückkehrer nach Italien aufgrund der aktuellen Gesetzesänderung in Italien und des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 23. März 2021 (46595/19) auszugehen sei. Der Einholung einer individuell-konkreten Zusicherung der gemeinsamen und unverzüglichen Unterbringung der Antragsteller in einer adäquaten Einrichtung bedürfe es daher nicht. Aufgrund des am 22. Oktober 2020 in Kraft getretenen Dekrets Nr. 130/2020 würden Antragsteller auf internationalen Schutz in den SAI-Aufnahmeeinrichtungen der 2. Ebene wieder untergebracht, die bisher aufgrund des sog. „Salvini-Dekrets“ nur Personen mit internationalem Schutz offen gestanden hätten. Darüber hinaus würden vulnerable Personen vorrangig an die SAI-Aufnahmeeinrichtungen weitergeleitet. Das Dekret Nr. 130/2020 sei im Gesetz Nr. 173/2020 aufgenommen worden, das am 20. Dezember 2020 in Kraft getreten sei. Hierüber habe das italienische Innenministerium die Mitgliedstaaten durch das Rundschreiben vom 8. Februar 2021 informiert und darin explizit auf die Einhaltung der Vorgaben des Tarakhel-Urteils hingewiesen. Der UNHCR habe in einem Artikel vom 21. Dezember 2020 die Annahme des Gesetzes Nr. 173/2020 begrüßt; es wirke sich positiv auf das italienische Asylsystem aus. Neben dem Urteil des EGMR vom 23. März 2021 (46595/19) wird auf den Beschluss des OVG Rheinland-Pfalz vom 9. April 2021 (7 A 11654/20.OVG) und das Urteil des VG Trier vom 13. November 2020 (7 K 1899/20.TR) verwiesen. Hiernach bestünde für vulnerable Personen bei einer Überstellung nach Italien keine hinreichend reale und unmittelbare Gefahr einer Behandlung, die ihre Rechte aus Art. 3 EMRK verletzen könnten. Im vorliegenden Verfahren liege auch kein konkreter Hinweis vor, dass die Antragssteller bei ihrer Ankunft in Italien keinen Platz in einer SAI-Aufnahmeeinrichtung erhalten könnten. Selbst wenn diese zunächst in Aufnahmeeinrichtungen der ersten Ebene untergebracht würden, habe der EGMR festgestellt, dass aufgrund der jüngsten Änderungen auch diese Aufnahmeeinrichtungen ihr Leistungsspektrum erweitert hätten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die vom Bundesamt übermittelte Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Der nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässige, insbesondere innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 S. 1 AsylG eingelegte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, wird abgelehnt.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier aufgrund des § 75 Abs. 1 AsylG einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Ein gewichtiges Indiz ist dabei die Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, hat das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurückzutreten. Erweist sich dagegen der Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen zu beurteilen, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung, bei der jedoch die gesetzgeberische Entscheidung, die aufschiebende Wirkung einer Klage auszuschließen, zu berücksichtigen ist.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht die Interessenabwägung hier im Ergebnis zu Lasten der Antragsteller aus. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) sind die Erfolgsaussichten ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts vom 1. März 2021 als gering anzusehen. Auf den vorgenannten Bescheid wird im Sinne von § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen. Die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung erweist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig.
Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt u.a. dann, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind nach summarischer Überprüfung gegeben. Danach ist Italien der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Staat und es bestehen keine Hindernisse für die Durchführung der Abschiebung. Der besonderen Schutzbedürftigkeit der Antragsteller als Familie mit einem minderjährigen Kind sowie die Berücksichtigung, dass eine Rückführung nur im Familienverbund durchgeführt werden darf, ist vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR vom März 2021 und der in Italien erfolgten gesetzlichen Änderungen Ende 2020, genüge getan. Auf das Einfordern einer individuellen Zusicherung Italiens hinsichtlich der Behandlung und Unterbringung vulnerabler Personen kann derzeit verzichtet werden.
1.1. Ausweislich des Eurodac-Treffers „IT2“ ist Italien der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedstaat. Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens richtet sich vorliegend nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO).
Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedsstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kap. III der Dublin-III-VO als zuständiger Mitgliedsstaat bestimmt wird. Gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO ist derjenige Mitgliedsstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Dem Vortrag der Antragsteller und dem Eurodac-Treffer mit der Kennzeichnung „IT2“ zufolge, war dies Italien. Dass die Antragsteller in Italien keine Asylanträge gestellt haben, ist für die Zuständigkeitsbegründung unerheblich. Ihre Finderabdruckdaten wurden gemäß Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 (Eurodac-VO) beim illegalen Überschreiten der Grenze erfasst und an das Eurodac-Zentralsystem übermittelt.
Des Weiteren hat das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung das Zustimmungsverfahren mittels seines Aufnahmegesuchs vom 20. November 2020 fristgerecht innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Dublin-III-VO (Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO) durchgeführt. Die Antragsteller hatten in Italien keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, sodass in Italien nur eine erkennungsdienstliche Behandlung erfolgte und das Übernahmeersuchen richtigerweise nach Kapitel VI Abschnitt II der Dublin-III-VO behandelt wurde. Italien antwortete nicht auf das Aufnahmegesuch, so dass die Zuständigkeit gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin-III VO auf Italien übergegangen ist. Die 6-monatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO war zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO noch nicht abgelaufen.
Nach Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin-III-VO ist Italien auch für den Antragsteller zu 3.) als mit den Eltern einreisendes, minderjähriges Kind zuständig.
1.2. Die Abschiebung nach Italien kann gemäß § 34a Abs. 1 AsylG auch durchgeführt werden.
Gründe i. S.d. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO, die der Überstellung der Antragsteller nach Italien entgegenstehen, sind nicht ersichtlich. Diese Vorschrift setzt voraus, dass es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da er dort infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Gr-Charta) oder Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ausgesetzt wäre.
Derartige systemische Mängel, sind nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen weder bei der Durchführung von Asylverfahren, noch hinsichtlich des Aufnahmesystems in Italien festzustellen.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Zwar ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Die nationalen Behörden und Gerichte sind aber nur bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf ein ernsthaftes Risiko von Verstößen gegen Art. 4 Gr-Charta hindeuten, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Diese müssen zudem eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die nur vorliegt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass einem Asylbewerber gerade aufgrund seiner besonderen Schutzbedürftigkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92, 95).
Um diese Vermutung zu widerlegen, müssten Umstände substantiiert vorgetragen und ggf. belegt werden, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Im Hinblick auf das Ziel der Dublin-III-VO, zügig und effektiv den für das Asylverfahren zuständigen Staat zu bestimmen, können geringfügige Verstöße hierfür nicht ausreichen. Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss vielmehr ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 Gr-Charta droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417, Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41).
Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 Gr-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91). Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S., Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413 Rn. 342).
Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 93). Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen.
Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, wird nach Auffassung des Gerichts die hohe Schwelle des Art. 4 Gr-Charta, bei deren Überschreitung eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (unions-)rechtswidrig ist, nicht überschritten.
1.2.1. Das entscheidende Gericht folgt damit der Beurteilung des EGMR, als dem für die Einhaltung und Auslegung europäischer Grundrechte maßgebenden Gericht. Dieser kam in seinem Urteil vom 23. März 2021 im Verfahren M.T../. Niederlande (Nr. 46595/19) bezüglich einer Abschiebung einer alleinstehenden Mutter mit zwei minderjährigen Töchtern im Altern von 6 und 8 Jahren zu dem Schluss, dass die gegenwärtigen Asylbedingungen Italiens bezüglich Ankunft und Einrichtungen dem von ihm im Urteil vom 4. November 2014 im Verfahren Tarakhel ./. Schweiz (Nr. 29217/12) geforderten „besonderen Schutz“ Asylsuchender mit spezifischen Bedürfnissen und extremer Verletzlichkeit gerecht werden (EGMR, U.v. 23.3.2021 – 46595/19 – Rn. 49 ff.).
Im Fall Tarakhel entschied der EGMR im Fall einer Familie mit minderjährigen Kindern, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung der Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Antragsteller in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammenbleiben darf (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127, Rn. 114 ff.). Nachdem die italienischen Behörden hierauf mit Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015 reagierten, in denen sie allgemein zusicherten, dass Familien mit (Klein-) Kindern zukünftig ausschließlich in für Familien geeigneten Unterkünften untergebracht würden, relativierte der EGMR im Jahr 2016 sein Urteil insofern, als von dem Erfordernis der konkret-individuellen Zusicherung wieder abgesehen wurde (EGMR, E.v. 4.10.2016, Ali v. Switzerland and Italy, Nr. 30474/14, https://dejure.org, Rn. 34). Mit den durch das Salvini-Dekret vom Oktober 2018 erfolgten Umstrukturierungen konnte allerdings von einer kind- und familiengerechten Unterbringung Italiens nicht mehr ohne Weiteres ausgegangen werden, sodass die obergerichtliche deutsche Rechtsprechung das Vorliegen einer hinreichend belastbaren Versorgungszusicherung einforderte (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23 f.; VGH Bad.-Würt., U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 41; BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 7 AS 19.50020 – juris Rn. 17 f.).
Unter Bezugnahme auf die jüngsten Gesetzesänderungen Italiens sowie die allgemeinen Zusicherung Italiens vom 8. Februar 2021 erklärte nun der EGMR die Beschwerde einer vulnerablen Person gegen ihre Abschiebung nach Italien als unzulässig. Im Fall der Mutter und ihrer zwei minderjährigen Kinder lasse sich aus materieller, physischer oder psychologischer Sicht keine hinreichend reale und unmittelbare Gefahr einer Härte erkennen, die schwer genug sei, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen (EGMR, U.v. 23.3.2021, a.a.O. Rn. 55). Mangels Vorliegen individueller Besonderheiten ist diese Einschätzung auf die vorliegenden Antragsgegner, ein Ehepaar mit einem minderjährigen Kind, zu übertragen.
Die aktuellen Gesetzesänderungen Italiens führten zu einer weitest gehenden Rückkehr zum italienischen 2-stufigen Aufnahmesystems von Antragstellern auf internationalen Schutz und der damit einhergehenden Abkehr von den mit dem Salvini-Dekret erfolgten Einschränkungen. Italien hatte über Gesetzesdekret Nr. 142/2015 vom 30. September 2016 die RL 2013/33/EU (sog. Aufnahmerichtlinie) und die RL 2013/32/EU (sog. Asylverfahrensrichtlinie) in nationales (italienisches) Recht umgesetzt. Die hierin getroffenen Bestimmungen eines 2-stufigen Aufnahmesystems wurden durch das Salvini-Dekret vom 5. Oktober 2018 stark eingeschränkt. Die mit dem Salvini-Dekret erfolgte Eingrenzung der Nutzung der sekundären Versorgungsschiene (SIPROIMI, bis Ende 2018 SPRAR), ausschließlich für die Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger sowie international Schutzberechtigter wurde nun wieder aufgegeben. Dies geschah zunächst durch das am 22. Oktober 2020 in Kraft getretene Dekret Nr. 130/2020 (https://www.gazzettaufficiale.it/eli/id/2020/10/21/20G00154/sg). Dieses Dekret wurde in Gesetz Nr. 173/2020 aufgenommen, das am 20. Dezember 2020 in Kraft trat. Die Unterbringungseinrichtungen der 2. Stufe, nun nicht mehr SIPROIMI, sondern SAI (Sistema di accoglienza e integrazione) genannt, stehen nun wieder Antragstellern auf internationalen Schutz zur Verfügung. Darüber hinaus werden Antragsteller, die in der Aufnahmerichtlinie als „vulnerable Personen“ eingestuft werden, vorrangig an SAI-Aufnahmeeinrichtungen weitergeleitet. Überdies wurde das Spektrum der in beiden Unterbringungsarten zu erbringenden Dienstleistungen, also auch den Erstaufnahmeeinrichtungen, erweitert. Neben den materiellen Aufnahmeleistungen, werden unter anderem Gesundheitsversorgung, soziale und psychologische Betreuung, Italienischkurse und Rechtsberatungsdienste vorgesehen, sowie das Recht der Antragsteller gewährleistet, sich als international Schutzsuchende bei den örtlichen Behörden zu registrieren (EGMR, U.v. 23.3.2021, a.a.O. Rn. 35).
Die neue italienische Asylgesetzgebung (Dekret Nr. 130/2020 und Gesetz Nr. 173/2020) wurde auch vom UNHCR positiv gewürdigt. Sie garantiert unter anderem nicht nur die Wiederherstellung des Rechts der Asylsuchenden, ihren Wohnsitz anzumelden und effektiven Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen, sondern führt auch zu einer Rückkehr zu einem Aufnahme- und Integrationsmodell, das im Laufe der Jahre sehr positive Ergebnisse im Hinblick auf die soziale Eingliederung gezeigt hatte (https://www.unhcr.org/it/notizie-storie/comunicati-stampa/lunhcr-accoglie-con-favore-le-nuove-norme-su-immigrazione-e-asilo-un-positivo-cambio-di-paradigma/, verfügbar am 17.5.2021).
Über die reformierte italienische Gesetzgebung wurden die Mitgliedstaaten schließlich durch ein Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 8. Februar 2021 informiert. Hierin wird betont, dass die Unterbringungseinrichtungen der 2. Stufe (SAI) nunmehr auch Familien offenstehen und die Familieneinheit gewährleistet wird.
Vor diesem Hintergrund steht für die Antragsgegner und ihre Kinder im Falle einer Überstellung nach Italien keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK zu befürchten. Das minderjährige Kind stellt gemäß Art. 17 des Gesetzesdekrets Nr. 142/2015 jedenfalls eine schutzbedürftige Personengruppe dar („Le misure di accoglienza previste dal presente decreto tengono conto della specifica situazione delle persone vulnerabili, quali i minori“), die vorrangig im SAI-Netzwerk unterzubringen ist. In Zusammenschau mit dem Rundschreiben vom 8. Februar 2021 ist deshalb davon auszugehen, dass die Familie als Ganzes einen vorrangigen Anspruch auf Unterbringung im SAI-Netzwerk hat. Doch selbst wenn die Familie vorübergehend zunächst in einer Aufnahmeeinrichtung der ersten Ebene untergebracht würde, ist darin aufgrund des dort erweiterten Leistungsspektrums keine Verletzung von Art. 3 EMRK zu sehen (EGMR, U.v. 23.3.2021, a.a.O. Rn. 55).
1.2.2. Soweit sich angesichts der weltweiten Corona-Pandemie die wirtschaftlichen Verhältnisse auch in Italien verschlechtert haben, führt dies nicht dazu, dass eine Abschiebung gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 Gr-Charta verstoßen würde.
Eine Prognose über die Entwicklung der italienischen Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten durch die Corona-Pandemie im Jahr 2021 zu treffen, die die Antragsteller erst mit einer Schutzanerkennung unmittelbar treffen würden, ist derzeit aus Sicht des Gerichts nicht valide möglich. Vielmehr ist die weitere wirtschaftliche und humanitäre Entwicklung Italiens durch die vorliegende Krise nicht absehbar, ebenso wenig wie finanzielle Hilfen der EU konkret zu würdigen, aber in gewisser Hinsicht zu erwarten sind.
Ist aber eine entsprechende Prognose über die wirtschaftliche und humanitäre Entwicklung nicht möglich – was nicht nur in Bezug auf Italien angesichts der weltweiten Pandemie gilt -, ist zur Überzeugung des Gerichts vor dem Hintergrund des dargestellten strengen Maßstabs im Rahmen der Dublin III-VO im Spannungsfeld mit Art. 3 EMRK und Art. 4 Gr-Charta noch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellbar, dass dieser erfüllt wäre. Dass Italien einer etwaig weiteren Verschlechterung der Existenzsicherungsmöglichkeiten anerkannt Schutzbedürftiger gleichgültig gegenüberstehen wird, Unterstützungsprogramme der EU nicht greifen und anerkannt Schutzbedürftige auch mit zumutbar hohem Maß an Eigeninitiative, Ausschöpfung rechtlicher Möglichkeiten und tatsächlicher Unterstützung durch NGOs etc. dem real risk extremer materieller Not ausgesetzt sein werden, vermag das Gericht daher nicht festzustellen. Insoweit ist auch nicht von offenen Erfolgsaussichten auszugehen, sondern sind solche zum derzeit maßgeblichen Zeitpunkt zu verneinen.
1.2.3. Die Klage gegen die Abschiebungsanordnung bleibt auch ohne Erfolg, soweit Abschiebungshindernisse zu prüfen sind. Einschlägige persönliche Abschiebungshindernisse, die über die allgemeinen Verhältnisse für Asylbewerber in Italien hinausgehen, sind im Falle der Antragsteller nicht ersichtlich.
Schließlich sind auch individuelle außergewöhnliche Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen, nicht ersichtlich.
2. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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